(C6H10O5)n | THE ART OF HANDLING PAPER in der Galerie Heike Strelow
Papier: Gefaltet, gestapelt, geklebt, geschnitten, geritzt und überzeichnet
Von Petra Kammann
In der Schau (C6H10O5)n | THE ART OF HANDLING PAPER, die bis zum 22. Dezember 2023 in der Galerie Heike Strelow zu sehen ist, befinden sich neben Collagen und Decollagen, Frottagen, Kugelschreiber- und Graphitzeichnungen auch gefaltete, gestapelte, gewebte, geklebte, geschnittene und geritzte Papierarbeiten von 11 Künstlern und Künstlerinnen, die sich von der Sinnlichkeit des Materials Papier haben inspirieren lassen, sei es vom Träger zeichnerischen Materials oder von der Möglichkeit, dieses als Grundlage für skulpturale Objekte wahrzunehmen. Wir greifen ein paar Beispiele der so verschiedenartigen künstlerischen Positionen heraus.
Blick in den Ausstellungsraum der Galerie Heike Strelow mit Lisa Tiemanns Skulptur aus der Serie „Couples“, Foto: Petra Kammann
Die in Berlin lebende Künstlerin Lisa Tiemann (*1981 in Kassel) zum Beispiel. Ihre abstrakten Skulpturen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Form, Materialität und Farbe, die auf den ersten Blick als Einheit wahrgenommen werden. In ihrer Serie „Couples“ wirken ihre Skulpturen zunächst wie eine im Raum erstarrte, komisch wirkende Bewegung. Bei näherer Betrachtung entdeckt man jedoch die nebeneinanderliegenden, sich aneinander schmiegenden und doch so verschiedenen Materialien wie Pappmaché und farbig glasierte Keramik. Mit dem Verhältnis dieser zwei Elemente zueinander, die von so unterschiedlicher Materialität sind, transformiert die Künstlerin diese nicht nur raumgreifend in die dritte Dimension, sondern macht auch deren Verschiedenartigkeit trotz großer Nähe spürbar. Kaum verwunderlich, dass sie einen Teil ihrer Ausbildung 2002-2008 an der Universität der Künste Berlin (UdK) bei dem immer wieder ironisierenden Bildhauer Prof. Tony Cragg genossen hat.
Ganz anders wiederum die heute in Berlin lebende deutsch-iranische Künstlerin Haleh Radjaian (*1971 in Frankfurt am Main) mit ihrer „Dreams with no Walls Serie“. Ihre Papierarbeiten aus sorgfältig und hauchzart gezogenen Linien, Kreisen, Winkeln und Quadraten weisen bei aller Feinheit der Zeichnung Unregelmäßigkeiten und leichte Verschiebungen auf. Wie sie, bedingt durch ihre Herkunft aus dem Iran, zur Variation traditioneller ornamental wirkender Muster kam, erläuterte sie in einem Interview folgendermaßen:
Blick auf die „Dreams with no Walls Serie“ von Haleh Radjaian, Foto: Petra Kammann
„Meine Arbeiten können auch durch traditionelle Ordnungssysteme und Raster, wie sie etwa in der Lehre der Sufi-Kunst und -Architektur vorkommen, beeinflusst sein. Es gibt darin eine jahrhundertealte Tradition von Ornamenten, die der Geometrie und der Mathematik einen großen symbolischen Wert beimisst. Dieses Wissen benutze ich allerdings auf eine sehr abstrakte Weise, da sowohl meine Muster als auch Systeme stark formbar sind. So entsteht ein neuer visueller Raum, der nicht fix ist, sondern die Kapazität hat, sich auf unterschiedlichste Weise zu manifestieren. Indem ich zufällige Unregelmäßigkeiten in Muster und Ordnungssysteme meiner Arbeiten einbringe, wird ein erst auf den zweiten Blick erkennbares Bild von latentem Zerfall kreiert. Solche Brüche, die fortwährend unsere Wahrnehmung verschieben, spielen mit Ordnung und Chaos, Wiederholung und Fragmentierung.“
Blick auf die comicartigen Gemälde „Tropibirds“ und „Pantera sobre el Plano“ von Starsky Brines, Foto: Petra Kammann
Sehr expressiv, spontan und kräftig sind dagegen die Arbeiten des Künstlers Starsky Brines (*1977 in Caracas, Venezuela) mit seinen Wesen, die aus dem Reich der Phantasie entsprungen sind, aus einer hintersinnigen Kombination von tropischen Tieren und Figuren mit menschlichen Eigenschaften. In manchem wirken sie wie ganz starke kindliche Zeichnungen. Man fühlt sich an Märchen oder Comics erinnert, in denen das Gute oder Böse dominiert, nur dass Brines‘ Gestalten durchaus mehrdeutiger wirken. Manche lassen einen schmunzeln, andere stimmen nachdenklich. Immerhin blickt der zähnefletschende schwarze Panther einen vergnügt aus zwei verschiedenen Augen an.
Auch der heute in Madrid lebende venezolanische Künstler Fausto Amundrain (*1992 in Caracas, Venezuela) nährt seine Inspiration aus dem Bereich der Comics und Karikaturen, die das kollektive Gedächtnis geprägt haben. Er verarbeitet sie als Grundlage seiner dreidimensional angelegten Collagen. Dabei zerlegt er die ihnen zugrunde liegenden Kompositionen, entfernt Elemente und verbindet sie durch Linien und weiße Zwischenräume, die neue Assoziationsräume entstehen lassen.
Fausto Amundarain, UNTITLED (GM02) 2023)
Geprägt vom künstlerischen Einfluss zweier Kontinente ist auch die aus Brasilien stammende und in Berlin lebende Künstlerin Isabelle Borges (*1966 in Salvador, Brasilien). Sie studierte von 1989 – 1992 in Rio de Janeiro an der Escola de Artes Visuais, und von 1995 – 1997 an der Kunstakademie in Düsseldorf bei Prof. Christian Megert, der nicht nur die internationale Gruppe ZERO maßgeblich mit beeinflusste, sondern zweifellos auch die Künstlerin in ihrem minimalistischen Ansatz.
Blick auf die Arbeiten von Isabelle Borges, Foto: Petra Kammann
Für sie ist das künstlerische Hauptthema der Raum und dessen Wahrnehmung, der Raum hinter dem Raum wie auch der Zwischenraum, der für sie nicht etwa leer ist. Vielmehr faltet, entfaltet und bewegt er sich. Ihre Arbeiten entstehen konkret auch durch die „Faltung“ von Flächen und Linien, Papierschnitten, Collagen oder Installationen. Um diese Räume sinnlich erfahrbar zu machen, verbindet die Künstlerin in verschiedenster Weise eine formale, minimalistische Ästhetik mit überraschend gesetzten farblichen Aspekten, die nicht zuletzt durch Hintergrundgemälde einen zusätzlichen Illusionsraum entstehen lassen.
Dies sind nur einige wenige Beispiele der verschiedenartigen künstlerischen Positionen, die das Medium Papier als Grundlage nutzen. Das Material erlangt vor allem im digitalen, scheinbar papierlosen Zeitalter eine äußerst faszinierende neue Dimension, und macht uns bewusst, was Annette Berr vom „Haus des Papiers“, einem Berliner Museum für skulpturale Bildende Papierkunst, darüber sagt: „Seit Papier existiert, sind die Menschen von diesem Werkstoff fasziniert. Denn Papier verkörpert Zartheit und Stärke, Fragilität und Festigkeit, es wirkt gleichermaßen unberührbar wie haptisch anziehend. Kein anderes Material der Kunst ist so sinnlich, präsent und wandelbar.“
GALERIE HEIKE STRELOW
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