Salman Rushdies „Victory City“ und die Meinungsfreiheit
Worte sind die einzigen Sieger. Über Liebe, Macht und die Kraft des Erzählens
Eine Buchbesprechung von Simone Hamm
Salman Rushdies im späten Frühjahr erschienener Roman „Victory City“, Foto: Petra Kammann
Es dauert nur wenige Minuten, dann ist die Stadt Vijayanagara errichtet, die Stadt des Sieges, entstanden aus Samenkörnern, die die Zauberin Pampa Kampala ausgestreut hat. Sie hatte als Kind gesehen, wie ihre Mutter mit vielen anderen Frauen ins Feuer ging, um den in einer Schlacht gefallenen Männern in den Tod zu folgen.
Pampa Kampala ist daraufhin verstummt, bis eine Göttin aus ihr spricht. Nicht nur die Stadt hat sie geschaffen, sondern auch all die, die sie bevölkern. Und diese Menschen sollen sich nicht so fühlen, als kämen sie aus dem Nichts. Sie gibt ihnen Geschichten. Erinnerungen, Freundschaften, Rivalitäten.
„Victory City“ heißt der pralle, bunte Roman von Salman Rushdie, ein Werk des magischen Realismus. Pampa Kampala, so behauptet er, habe ein Epos von 24000 Versen geschrieben. Dies stelle er nun vor.
Vijayanagara gab es wirklich. Es war von 1346 bis 1565 die Hauptstadt eines sich über ganz Südindien erstreckenden hinduistischen Königreiches gleichen Namens. Salman Rushdie läßt eine Zauberin ein Reich errichteten, in dem Frauen sich dem Patriarchat widersetzten und in dem Menschen unterschiedlichster Religionen friedlich miteinander leben.
Eine ideale Welt, geschrieben von einem Mann, dem seit Jahrzehnten nach dem Leben getrachtet wird, der einen Anschlag schwer verletzt überlebt hat und dessen Unterstützer ihr Leben riskieren.
Am 14. Februar 1989 wird über Rundfunk die Fatwa des Ayatollah Khomeini gegen den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie verbreitet. Rushdie habe ein blasphemisches Buch geschrieben: „Die satanischen Verse“. Demonstranten forderten lautstark seinen Tod.
→ Cover der ersten, auf Deutsch erschienen Ausgabe der „Satanischen Verse“
Südafrika, Indien und Pakistan stoppen den Import des Buchs. Bei Demonstrationen kommen Menschen ums Leben. In London, wo Rushdie damals lebte, gab es gewaltsame Proteste, Brandanschläge und Drohungen gegen Buchläden, die den Roman verkauften.
„Die satanischen Verse“, das Buch, das zur Fatwa führte, ist ein phantastischer, irrwitzig komischer Roman. Um Verstellung und Verwandlung geht es in diesem Buch, um Glauben und Zweifel. „Die satanischen Verse“ vermischen Traum und Wahrheit, Vergangenheit und Gegenwart. Rushdie feiert Toleranz und Vielfalt.In Deutschland sollte seinerzeit das Buch beim Verlag Kiepenheuer& Witsch erscheinen. Man überlegte, wie man es trotz dieser Drohungen schaffen könnte, sich nicht zu beugen, sondern die Freiheit der Kunst zu verteidigen und damit auch dieses Buch in Deutschland auf den Markt zu bringen.
Ein neuer Verlag wurde gegründet. Der Artikel 19 Verlag. In Artikel 19 heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung.“ 100 Verlage, Schriftstellerverbände und Autoren unterstützten diese Aktion.
1993 sterben 37 Menschen ein einem Brandanschlag auf ein türkisches Hotel, in dem aus den „satanischen Verse(n)“ gelesen werden sollte. Der japanische Übersetzer des Romans, Hitoshi Igarashi, wird ermordet, der italienische Übersetzer Ettore Caprioli überlebt ein Attentat schwerverletzt, ebenso wie der norwegische Verleger William Nygaardt.
Salman Rushdie lebt unter Polizeischutz im Untergrund. Aber er gibt nicht auf: Er, seine Übersetzer und Verleger verteidigten „die satanischen Verse“ aus der Überzeugung heraus, dass das einfach sein muss- nicht so sehr wegen dieses einen Buches, sondern aus einem anderen, guten, alten Grund: der Freiheit der Rede wegen.
Das sehen noch lange nicht alle so. In Indien darf das Buch nicht erscheinen. Alle bereits gedruckten Bücher werden zerstört. Die Fatwa wird nie zurückgenommen.
Nicht nur dort zeigt man Verständnis für die verletzten Gefühle der sogenannten frommen Muslime. John le Carré weist darauf hin, dass es kein Gesetz gebe, das besage, dass große Religionen ungestraft beleidigt werden dürften.
Jimmy Carter schreibt, dass Rushdies Roman eine direkte Beleidigung für die Millionen von Moslems sei, deren heiliger Glaube verletzt worden sei. Es ist dieser Streit, der bis heute anhält. Wieweit darf man gehen? Was darf man sagen, singen, schreiben, zeichnen? Welche Reaktionen provoziert man?
Salman Rushdie versteckt sich, wechselt fünfzig mal die Wohnung. Seit dem Jahr 2000 lebt er in New York. Stück für Stück erobert er sich sein Leben zurück, beendet das Leben im Versteck, veröffentlicht weitere Bücher. „Victory City“ ist das 16. Buch, das er nach der Verhängung der Fatwa geschrieben hat.
33 Jahre, nachdem die „Satanischen Verse“ inzwischen in etlichen Ländern verbrannt worden sind, 33 Jahre nachdem die Fatwa ausgesprochen wurde, wird Salman Rushdie von einem jungen Mann im Bundesstaat New York angegriffen, kurz bevor er einen Vortrag halten will und zwar zum Thema – Ironie der Geschichte – „Die USA als Asyl für Autoren im Exil und als Heimat für kreative Freiheit“.
Schwerverletzt kommt er ins Krankenhaus. Er wird auf einem Auge blind bleiben. In der regierungsnahen iranischen Zeitung „Kayhan“ heißt es nach der Tat: „Tausend Bravos für die mutige und pflichtbewusste Person, die den abtrünnigen und bösen Salman Rushdie in New York angegriffen hat. Die Hand des Mannes, der dem Feind Gottes den Hals umgedreht hat, muss geküsst werden.“
Überall auf der Welt solidarisierten sich Menschen nach dem Attentat im August mit Salman Rushdie. Sein Freund Daniel Kehlmann, der die Laudatio beim Friedenspreis auf Rushdie hielt, glaubt, dass bald wieder Leute sagen: Natürlich war dieses Attentat schrecklich, aber musste er wirklich den Propheten verspotten? Diese Art von Relativismus hält Kehlmann nicht für angebracht. Schriftsteller dürften, wenn sie schreiben, nicht schon darüber nachdenken, wer sich beleidigt fühlen könnte. Die Freiheit des Schreibens und des Sprechens müsse absolut bestehen bleiben.
Rushdie sieht, dass die Gefahr heute nicht nur von radikalen Islamisten ausgeht. Es gäbe sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von bien-pensant Zensur aussprächen, eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gäbe und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend hielten.
In dem Moment, in dem laut Rushdie jemand sagt: Ja, ich glaube an die Meinungsfreiheit, ABER… höre er nicht mehr zu. Tatsache sei, dass in dem Moment, in dem man die Redefreiheit einschränke, es keine Redefreiheit mehr sei. Tatsache sei, dass sie frei ist.
Die letzten Sätze in „Victory City“ lauten: Worte sind die einzigen Sieger.