Sonnige Feier für den Friedenspreisträger Salman Rushdie
Vielfaches Lob in der Frankfurter Paulskirche für einen mutigen Menschen und Lobredner der Freiheit
Von Uwe Kammann
Kann man sich vorstellen, dass die ARD einmal die Fernsehübertragung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels beinahe gekippt hätte? Ein Störenfried im Programm sei sie, ein Stoppschild vor dem „Presseclub“. Nun, es siegte dann doch die Einsicht, dass dieser traditionsreiche Preis, erstmals 1950 verliehen, zum wichtigsten kulturellen Ereignis in Deutschland geworden ist, geachtet und beachtet wie kein zweites. Und so wechseln sich die beiden öffentlich-rechtlichen Systeme weiterhin ab, um die Preisverleihung aus der Paulskirche zu übertragen, pünktlich am Sonntag um 11 Uhr, als Schlussakkord der Buchmesse.
Wenn es besondere Glückstage sind, strahlt das leicht ovale Rund der Paulskirche von innen und außen sonnenhell. So wie 1989, als Vaclav Havel der Preis zuerkannt worden war, er die Urkunde aber nicht persönlich entgegennehmen durfte. Noch herrschte das diktatorische Regime in Prag. Wenig später fiel die Mauer – und der in Abwesenheit Geehrte wurde tschechischer Präsident.
Lang anhaltende standing ovations für Salman Rushdie schon beim Betreten der Paulskirche, Foto: Petra Kammann
Auch an diesem Sonntag durchdrang eine helle Sonne die zwei Fensterreihen der Paulskirche. Und wieder wurde der Verleihungsakt zu einem Fest der Aufklärung. Und weiter, gerade mit Salman Rushdie, zu einer Feier der Freiheit, und zwar zu einer unbedingten Freiheit. Eine Feier, welche in diesem unbedingten Bekenntnis und Willen zum freien Leben nicht mehr zu steigern war. Denn es war ein wahrlich flammender Appell, den der diesjährige Preisträger an alle richtete, die es hören konnten und hören wollten. In einer Zeit, wo viele sich geradezu niedergeschmettert fühlen durch zwei Kriege, welche in globale Katastrophen umschlagen könnten, setzt der Preisträger auf die Kraft der freien Rede, des befreienden Schreibens:
Sein Credo: „Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf derart vielfältige Weise missbraucht wird? Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.“ Unmittelbar darauf folgt ein Satz, der heute gar nicht mehr leicht zu lesen, zu hören und zu finden ist:
„Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so umfassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden.“
Aufmerksames Publikum bei Rushdies Rede, das bisweilen auch etwas zu schmunzeln hat, Foto: Petra Kammann
Dieser wichtige Satz, der jede Einschränkung ausschließt, folgt auf eine lange Passage, in der Rushdie jene Erscheinungen geißelt, die seit längerem schon viele der Debatten – und nicht nur Debatten, sondern oft auch handfeste Kämpfe – um die richtigen und falschen Dinge und Entscheidungen des Lebens prägt: „Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird, eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen; in der extremistische Religionen und bigotte Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben.“
Rushdie hatte sich auf sein ungewohntes „Going into the church on Sunday“ gefreut und wurde nicht enttäuscht, Foto: Petra Kammann
Diese erfahrungsgesättigte Beobachtung gilt über sonst fest gefügte Moralvorstellungen und -vorschriften hinaus, schließt jede Zensur aus, welche inzwischen oft aus Tugendgründen eingefordert wird. Und leichter denn je propagiert wird, weil die neuen Kommunikationsmittel es ohne Federlesens ermöglichen. Hier gibt Rushdie kein Pardon, unterscheidet nicht zwischen sonst so beliebtem Lagerdenken: „Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von bien-pensant Zensur aussprechen, eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten.“
Es ist eine zentrale Aussage in seiner Rede: Gegen jeglichen Tugendterror, gegen die Predigten der Wohlmeinenden und Wohlgesinnten, welche den vermeintlich Rückschrittlichen ihr Denken und Sprechen aufzwingen wollen. In wessen Namen und zu welchen hehren, gar heiligen Zwecken auch immer. Rushdie, ein im Namen einer Weltreligion attackierter Mann des freien Wortes, ist hier unmissverständlich. Wobei er die äußeren Umstände ebenso unmissverständlich benennt: die Macht der „milliardenschweren Besitzer“ der Internet-Plattformen und den unablässigen Missbrauch der (Medien-)Freiheit in den sozialen Medien durch einen „Mob“.
Sie hörten aufmerksam OB Mike Josef zu: Bertram Schmidt, Karin Schmidt-Friderichs, Salman Rushdie, Rachel Eliza Griffith, Daniel Kehlmann, Foto: Petra Kammann
Ob Rushdie wegen seines eigenen Bedrohungserlebnisses einen so lang anhaltenden Begrüßungsbeifall erhalten hat wie noch kein Friedenspreisträger vor ihm? Ob die minutenlang stehend applaudierenden Gäste einen solchen appellativen Freiheits-Furor erwartet und ihm auch vorher in dieser unbedingten Form zugestimmt hätten? Denn im Vorfeld der Buchmesse, auch noch während der Tage des vielgepriesenen freien Wortes, gab es genügend Spielarten jener Eigenschaft, welche der Friedenspreisträger geißelte: die des Tugendterrors.
(Vor zwei Jahren hatte sogar während der Preisverleihung eine von ihrer politisch-korrekten Mission durchglühte Person das Mikrofon an sich gerissen; eine solche Selbstermächtigung sollte diesmal per vorheriger Anweisung ausgeschlossen werden.)
Alle Weltdinge in ihrer äußersten Vielfalt, vor allem in all’ ihren Widersprüchlichkeiten zu sehen und zu benennen, das gehört zum Kern des Werkes von Salman Rushdie. Und dies schien in allen Passagen seiner Rede auf, gerade auch dort, wo das Spielerische, das Vertrackte, das Poetische sich durchdrangen. Schon mit dem Hauptwort des Preises, dem Frieden, spielte der Ausgezeichnete (wurde ihm jetzt Frieden als Preis zugesprochen?). Und er wendete alles exemplarisch, so im Ausmessen der jeweils höchst unterschiedlichen Blickwinkel der Akteure. So werde Frieden von der Ukraine und Russland jeweils als Ziel ganz anders verstanden (wobei er das Ziel der Ukraine – eine völlige Befreiung vom aggressiven Okkupanten – ohne Wenn und Aber verteidigte).
Sein eigenes Friedens- und Freiheitsreich, das klang immer wieder durch, ist so unermesslich wie unerschöpflich. Und sein Durst nach Freiheit kann in den unterschiedlichsten Formen gestillt werden. Beispielsweise durch in Flaschen abgefüllte Elixiere, denen hier zauberhafte Eigenschaften zusprechen sind.
Laudator Daniel Kehlmann, Schriftsteller und Freund von Salman Rushdie, Foto: Petra Kammann
Was die Jury in ihrer Begründung so zusammenfasst – „In seinen Romanen und Sachbüchern verbindet er erzählerische Weitsicht mit stetiger literarischer Innovation, Humor und Weisheit“ –, das erlebte das Festpublikum in jeder Phase der Dankesrede. Welche das Fabelhafte als wahrheitsstiftend ausmalte; welche politische Weit- und Nahsicht verband; welche klare Urteile fällte, wenn es um Barbarei und mordendes Unrecht geht; und welche zugleich an vielen Stellen lebensspendenden Humor nicht aussparte.
Was sicher manche verwundert, die sich vorstellen, wie es ist, über Jahrzehnte unter einer religiös verbrämten Morddrohung zu leben. Eine Verwunderung, die erst recht gilt, wenn man weiß, dass der furchtlose Autor vor Jahresfrist ein Attentat nur knapp überlebte. Und dann weiterschrieb, „einfallsreich und zutiefst menschlich“, wie die Jury urteilt; um dann einen festen Schlusssatz zu formulieren: „Wir ehren Salman Rushdie für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.“
Erzählfreude, Fabelhaftes, Lakonisch-Leichtes: das kennzeichnete – wie im Spiegelbild – auch die Laudatio von Daniel Kehlmann. Nicht selten blitzte der Eindruck auf: Hier finden zwei Brüder im Geiste so freundschaftlich wie funkelnd zueinander. Rushdies Romane – „Mitternachtskinder“ und „Die satanischen Verse“ kennt als Titel fast jeder – handeln, so Kehlmanns Kurzformel, „von allem, also vom bunten, feurigen, wirren, gewaltigen Chaos, das die Welt ist.“
Der schönste Einfall beim Lob auf dieses „Gegenteil eines weltabgewandten Menschen“ war sicher, den Preisträger zu einer „veritablen Rushdie-Romanfigur“ selbst zu erklären. Mit der Charakterisierung: „Unbestritten einer der großen Erzähler der Literaturgeschichte, der vielleicht wichtigste Verteidiger der Freiheit von Kunst und Rede in unserer Zeit – vor allem aber ein weiser, neugieriger, heiterer und gütiger Mensch und somit der würdigste Träger, den es für diese Auszeichnung, die ja als Friedenspreis ausdrücklich nicht nur künstlerische, sondern auch humanistische Größe auszeichnet, überhaupt hätte geben können.“
Begrüßungsrede durch die Börsenvereinsvorsteherin und Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs, Foto: Petra Kammann
Eine kaum zu steigernde Lobpreisung also durch Daniel Kehlmann. Nachdem in ihren Begrüßungsansprachen sowohl Oberbürgermeister Mike Josef als auch die Vorsteherin des preisstiftenden Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friederichs, in spürbarer Rushdie-Inspiration die besonderen Eigenschaften des Preisträgers hervorgehoben hatten. So fand Josef bei der Lektüre eine schöne Stelle: „Ich habe kürzlich erst einige Ihrer Erzählungen aus ‚Osten, Westen’ gelesen. Sie haben sich als das Komma zwischen den beiden Worten bezeichnet. Ich glaube, die heutige Preisverleihung zeigt, dass das Komma sehr viel bedeutender ist, als es scheint.“
Karin Schmidt-Friederichs umriss eine Kernbotschaft: Mit Salman Rushdie werde ein Mensch geehrt, „von dem wir lernen können, was Mut ist: Auf die Frage, wie er es geschafft hat, nicht ängstlich oder bitter zu werden, antwortet er‚ das wäre eine andere Art von Tod gewesen.“
Ungebrochen: Salman Rushie sieht auch klar mit einem Auge, Foto: Petra Kammann
Statt einer anderen Art von Tod also eine andere Art von Leben, und was für eine andere, sprich: eine besondere Art. Das war die Botschaft am sonnigen Sonntag in der Paulskirche. Wobei dieser mutmachende Sieg im Gegensatzpaar ja schon in der Präsenz des Siegers höchst anschaulich ist: Sein beim Attentat verletztes, nun totes Auge verdeckt ein schwarzes Brillenglas. Das zweite, das überlebende Auge blickt hingegen lebendig, lebensvoll und lebensklug durch das benachbarte helle Glas.
Eine Nachbemerkung darf nicht vergessen werden.
Feierliche Stimmung in der gefüllten Paulskirche, Foto: Petra Kammann
Offensichtlich hatte Rushdie seine Freude am räumlichen Rahmen, diesem so hellen, so lichtstrahlenden hohen Rund der politischen Aufklärung. Waren Preisträger schon einmal darauf direkt eingegangen? Rushdie jedenfalls zollte gleich am Anfang seiner Dankesrede der Paulskirche als einem „Symbol der Freiheit“ ausdrücklich und nachdrücklich seinen „Respekt“. Es sei ein „Privileg, in diesem Haus sprechen zu dürfen“.
OB Mike Josef nach der Friedenspreisfeier in der Paulskirche, Foto: Petra Kammann
Dass manche in Berlin und Frankfurt dieses Privileg nicht verstehen können, weil sie die besondere Stellung und die einzigartige Gestalt und Bedeutung der Paulskirche für nicht ausreichend erachten („keine Aura“) und ihr als didaktische Nachhilfe ein Haus der Demokratie an die Seite stellen wollen, als Einübungsinstrument für demokratische Streitkultur: von diesem Vorhaben wird der Preisträger wahrscheinlich nichts gewusst haben. Oberbürgermeister Mike Josef hatte in seiner Begrüßung ein Haus der Demokratie als Soll-Projekt angesprochen, erntete dafür aber nur höchst spärlichen Beifall.
Jeder, der an diesem Rushdie-Feiertag die besondere Qualität der Reden auf sich wirken ließ; jeder, der die im Laufe der Jahre lockerere Dramaturgie der Verleihungszeremonie zu würdigen wusste und weiß, der wird die Überzeugung teilen: Was immer zur allgemeinen Stärkung der Demokratie aufgeboten werden soll (ein Konzept existiert nur in äußerst vager Form), darf die Paulskirche nicht behelligen. Sie steht für sich, sie wirkt für sich; und sie darf auch nicht in Alltagssituationen inflationär genutzt werden, um die derzeit als Floskel so beliebte Augenhöhe bei Diskussionsrunden herzustellen.
Abspann mit ZDF-Moderatorin Katie Sallié, Foto: Petra Kammann
Es bedarf einfach weiterhin der großen Momente, so wie an diesem Sonnen-Sonntag der Buchmesse, um zu begreifen: Ja, es gibt Besonderes – im Denken, im öffentlichen Sprechen –, dessen Exzellenz auch einen kostbaren Rahmen braucht. Dass ein solcher Rahmen in Gestalt der Paulskirche besteht, als größte Kostbarkeit überhaupt, gerade auch wegen ihrer erhabenen Schlichtheit, verleiht diesem aus Ruinen auferstandenen Bauwerk einen weltweit einzigartigen Rang. Dieser Wert darf niemals auch nur im Ansatz preisgegeben werden, um ein didaktisches Konzept an dessen Stelle zu setzen.
Was stattdessen viel stärker zählt, ist der Raum einer weitreichenden, weltumspannenden Phantasie, die sich in einer reichen Erzählung jedem mitteilt, der dafür empfänglich ist. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels lädt dazu ein, jedes Jahr, seit nun mehr als sechs Jahrzehnten. Und hat für diese Meistererzählungen den schönsten Rahmen.