75 Jahre Internationale Frankfurter Buchmesse (18.-22.10.2023). Ein Interview mit Torsten Casimir
Die Buchmesse: „Eine soziale Maschine, die Vertrauen produziert“
„Ohne die Frankfurter Buchmesse wäre mein Leben ganz anders geworden.“ Michel Friedman
Die Frankfurter Buchmesse, international die größte Fachmesse für das Publishing und branchenübergreifender Treffpunkt von Buchmenschen, feiert ihren 75. Jahrgang. Einen inhaltlichen Schwerpunkt der Herbstmesse in Frankfurt bildet jeweils der jährlich wechselnde Ehrengast, der dem Messepublikum auf vielfältige Weise seinen Buchmarkt, seine Literatur und Kultur präsentiert, in diesem Jahr Slowenien. Aber die Messe erfindet sich vor allem im rasend rapiden digitalen Zeitalter alljährlich auch neu. Grund für Petra Kammann, ein Gespräch mit Dr. Torsten Casimir zu führen, der seit Anfang des Jahres als Mitglied der Geschäftsleitung und Stellvertreter von Messedirektor Juergen Boos zuständig für Fragen der Kommunikation, der Außendarstellung und der inhaltlichen Gestaltung ist.
Dr. Torsten Casimir spricht als Stellvertreter von Juergen Boos für die Frankfurter Buchmesse, Foto: Petra Kammann
Buchmessedirektor Juergen Boos während der Eröffnung der Buchmesse im vergangenen Jahr, Foto: Petra Kammann
Petra Kammann: Viele Jahre, seit 2006, haben Sie als Chefredakteur die Geschicke des Börsenblatts des Deutschen Buchhandels geleitet, sind in der Buchbranche verankert wie kaum jemand. Nun haben Sie die Seite gewechselt und machen jetzt im weitesten Sinne Kommunikationsarbeit für die Buchmesse, welche die größte Fachmesse für das internationale Publishing und ein branchenübergreifender Treffpunkt für Player aus den Bereichen Bildung, Filmwirtschaft, Games, Wissenschaft und Fachinformation ist. Wie muss man sich den Seitenwechsel vorstellen?
Dr. Torsten Casimir: Ja, ich hatte lange den Blick auf die Buchmesse von außen und nun ist es seit Jahresanfang ein Blick von innen, der eine völlig neue Perspektive aufmacht. Mir sagte kürzlich ein Freund: Ihr seid eigentlich gar keine Firma, Ihr seid ein großes Projekt, eine Projektgemeinschaft auf Zeit. In einem Projekt allerdings, dessen Laufzeit nie enden möge. Das wünscht man uns. Nun, was mache ich da eigentlich? Ich bin mit zwei Aufgabenbereichen betraut. Ich bin als Stellvertreter von Buchmessedirektor Juergen Boos verantwortlich für alle Fragen der Kommunikation, der Außendarstellung, und ich helfe bei der inhaltlichen Gestaltung unserer Messe, also bei dem Programm, das wir als Messe inhaltlich selbst kuratieren.
Dr. Torsten Casimir hier in der Rolle des Sprechers der Buchmesse auf der Pressekonferenz, Foto: Petra Kammann
Hatten Sie nicht die Angst oder Befürchtung, dass es nach den Jahren der Pandemie und durch den Krieg in der Ukraine mit der Messe, d.h. der Buchmesse als Präsenzmesse, bergab gehen könnte, zumal Sie sahen, was mit der Leipziger Buchmesse passiert ist, die mehrfach ausfiel? Oder war es für Sie ein guter Garant, dass sich die Buchmesse seit 1976 Schwerpunktthemen gibt, ab 1988 alljährlich dann Ehrengastlandthemen?
Wir hatten alle die Sorge. Wir haben uns gefragt, ob die Idee wirklich weiterhin trägt, dass wir weltweit Buchmenschen einladen und sagen: Kommt einmal im Jahr nach Frankfurt. Begegnet Euch persönlich. Bildet Vertrauen. Und macht Eure Geschäfte. Oder hat man während der Jahre, als das nicht möglich war, entdeckt, dass es auch anders geht? Und die schöne Antwort auf allen Messen auf dieser Welt, die sich eine Zeitlang ihrer selbst nicht sicher waren, heißt: Nein, es geht nicht ohne. Man kann das, was hier im Oktober jedes Jahr aufs Neue passiert, nicht simulieren und auch nicht auf digitalem Weg nachstellen. Die Menschen müssen sich treffen. Unser Direktor Juergen Boos sagt immer so schön: „Wir sind eine soziale Maschine, die Vertrauen produziert.“ Das bringt es gut auf den Punkt. Und Vertrauen gewinnen Sie nicht, indem Sie Leute in einen Zoom-Room oder zu einem Team-Treffen einladen.
Da ich annehme, dass Sie andere internationale Messen auch vorher besucht haben, haben Sie da auch diese Erfahrung gemacht?
In diesem Jahr war ich beispielsweise in Bologna auf der Kinderbuchmesse, dann in London auf der London Book Fair. Überall kommen die Leute wieder. Ich glaube, wir haben als Weltmarktführer den Vorteil, dass zu uns alle kommen können und auch kommen müssen. Wir merken das jetzt auch ganz konkret: Die Nordamerikaner sind wieder da, die Ostasiaten, die Europäer sowieso. Unsere wirtschaftlichen Zahlen liegen oberhalb dessen, was wir unseren Gesellschaftern versprochen haben. Es sieht derzeit so aus, als würde dieses Geschäftsmodell Buchmesse nach den Pandemiejahren statt einer Schwächung nochmal so etwas wie eine Bestätigung erfahren, ein Proof of Concept.
Was wird aus der Leipziger Messe?, Foto: Petra Kammann
Kommen wir nochmal auf Leipzig zurück. Nun hat ja der dortige bisherige Buchmessenleiter Oliver Zille aufgegeben. Was wird nun aus Leipzig? Es gab ja die „Absprache“ zwischen den beiden Messestädten Frankfurt und Leipzig, dass Leipzig als Lesefest funktioniert und Frankfurt als internationale Geschäftsmesse. Werden Sie jetzt Dinge von Leipzig übernehmen? Wie wird es dort überhaupt weitergehen? Beobachten Sie das mit Freude oder gar mit Konkurrenzaugen? Schließlich ist Leipzig außerdem ein Tor nach Osteuropa, nicht unwichtig in Zeiten, wo Europa kein unbedrohter Kontinent ist.
Ich beobachte Leipzig mit Sorge, aber auch mit Solidarität. Niemand in der Buchbranche könnte sich freuen, wenn die Frühjahrsmesse in Leipzig geschwächt wird oder ins Straucheln geraten würde. Das wäre ein Drama. Wir brauchen diese beiden Messen. Wir brauchen Leipzig mit seinem Lesefest und Frankfurt mit der „Vollversorgung“ im Business-Bereich und als Publikumsmesse. Natürlich passiert auch in Frankfurt eine Menge, das sich ans Publikum richtet, in der Stadt und auch in der Umgebung. Die ganze Buchbranche guckt aber mit einer gewissen Sorge auf Leipzig und stellt sich die Frage sich, wie es da wohl weitergehen mag. Gerade jetzt sollten ja die intensiven Gespräche mit den Verlagen und die Planungen für den März 2024 beginnen. Und wenn dann in Leipzig niemand an der Spitze vorangeht, ist das natürlich eine schlechte Situation. Ich kann den Kollegen da nur den Daumen drücken, dass das am Ende gut wird. Beide Messen müssen stattfinden, die im Frühjahr und die im Herbst. Auch auch wenn wir ein anderes Format bespielen, wäre es für uns als Frankfurter und für die gesamte Buchbranche schlecht, wenn Leipzig es dauerhaft nicht mehr schaffen würde. Aber das wird schon.
Die Internationalität der Buchmesse ist faszinierend, aber angesichts der weltpolitischen Lage vielleicht auch sehr viel bedrohter als noch vor ein paar Jahren. Schließlich entwickeln sich auf der Welt auch neue Diktaturen, was der Globalisierung zwangsläufig im Wege steht. Glauben Sie, dass die kompromisslose Internationalität auch in Zukunft zu halten ist? Dieses Jahr ist Slowenien Ihr Gastlandthema. Ein kleines, überschaubareres und ein europäisches Gastland.
Anfangs fand die Buchmesse noch in der durch den Krieg beschädigten Paulskirche statt, Foto: Ursula Assmus
Wir begehen in diesem Jahr die 75. Buchmesse. 1949 ging es nach dem Zweiten Weltkrieg in der schwer beschädigten Paulskirche los. Über all diese Jahrzehnte sind wir als Frankfurter Buchmesse ein Spiegelbild der politischen und sozialen Verhältnisse der ganzen Welt gewesen. Das wird auch so bleiben. In jedem Jahr haben wir Aussteller, Ausstellerinnen und Fachbesucher aus Ländern, in denen die politische Situation schwierig ist. Hinzugekommen ist der Angriffskrieg auf die Ukraine, wir haben ein fürchterliches Terrorregime im Iran, in einigen Ländern Afrikas, wo Kriege herrschen, und nun hat auch noch ein Terrorkrieg der Hamas gegen Israel begonnen. An vielen Orten in der Welt gibt es politische Krisen und Eskalationen der Gewalt. Wir als Frankfurter Buchmesse schauen, dass wir auch in den Krisenregionen der Welt die Kontakte zu den zivilgesellschaftlichen Kräften so gut es geht halten, damit Menschen hierherkommen und sich austauschen können. Und wir versuchen, in einem engen persönlichen und fachlichen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen in den jeweiligen Buchmärkten dieser Länder zu bleiben.
Im vergangenen Jahr engagierte sich die ukrainische First Lady Olena Selenska für Bücher für ukrainische Kinder, deren Väter im Krieg waren. Hier im Gespräch mit unserer First Lady Elke Büdenbänder, Foto: Petra Kammann
Wird es auch zu dem Thema Ukraine mit Diskussionsforen weitergehen, was in großen Teilen im vergangenen Jahr das Messegeschehen bestimmt hat? Und das auch trotz anderer diesjähriger Schwerpunktthemen?
Ja, es gibt ganz viele Gespräche und Diskussionsveranstaltungen, vor allem auch eine gute Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Kiew. Das werden Sie vor allem auf unserer kulturpolitischen Hauptbühne im Frankfurt Pavilion finden. Da wurde eine Menge vorbereitet. Es wäre fatal, wenn anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs die Abnutzung quasi auch in unseren Köpfen sich zeigen würde und wir als internationale Branchengemeinschaft in unserer solidarischen Aufmerksamkeit und Empathie nachließen.
Was tun Sie, um schwierige Dialoge in Gang zu halten? Das bezieht sich nicht zuletzt auch auf die Präsenz von rechten Verlagen, denen gegenüber Sie sich ja auch nicht als Moralrichter aufspielen können. Wie haben Sie diesmal das Problem gelöst?
Auch dieses Thema wird nicht wieder verschwinden. Es gibt Menschen in der Stadt – das ist im Wesentlichen ein Frankfurter Thema –, die uns dafür kritisieren, dass rechte Verlage, die wir nicht eingeladen haben, sich bei uns anmelden, um auf der Messe auszustellen. Die müssen wir zulassen. Als Marktführer sind wir kartellrechtlich dazu verpflichtet, alle Aussteller zuzulassen, die in Deutschland nicht gegen deutsches Recht verstoßen. Solange staatlicherseits kein Verbot ausgesprochen ist, sind wir verpflichtet, die Ausstellenden zuzulassen. Dann schauen wir, dass wir ihnen einen Platz zuweisen, wo sie am Rande stehen. Ich persönlich wäre froh, wenn sie nicht kämen, aber es werden wie immer welche kommen. Unser Umgang mit dem Thema hat aber noch eine zweite, eine aktive Seite: Durch ein eigenes Programm, durch Themen, die wir selbst setzen, durch Gesprächspartner, die wir einladen, möchten wir Diskussionen auf unsere Bühnen bringen, aus denen klar hervorgeht, für welche Werte die Frankfurter Buchmesse steht. Wir stehen für Vielfalt und für ein breites Spektrum an Meinungen und Perspektiven. Aber die Frankfurter Buchmesse verurteilt jede Form von politischem oder religiösem Extremismus, Rassismus und jede Form von Diskriminierung.
Messegelände mit Blick auf den Frankfurt Pavilion (Mitte), Foto: Petra Kammann
Welche Bühnen haben Sie innerhalb der Buchmesse, welche außerhalb?
Innerhalb des Messegeländes ist unsere wichtigste kulturpolitische und gesellschaftliche Bühne der Frankfurt Pavilion, dieses ikonische, signifikante Gebäude der Architekten Schneider + Schumacher auf der Agora. Dort werden die dringlichen Themen unserer Zeit verhandelt, Themen wie Migration, Gefährdung der Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Frauenrechte als wesentlicher Teil der Menschenrechte.
Da wir vom Hallenangebot her vor einer verbesserten Situation stehen, können wir im Foyer zwischen der Halle 5 und der Halle 6 eine große internationale Bühne aufbauen, wo insbesondere Fachthemen der internationalen Publishing Industrie besprochen werden. Da gibt es beispielsweise CEO-Talks von Verlagsmanagern, die in internationalen Verlagen arbeitenDas sind unsere beiden großen Bühnenprogramme, zu denen wir selbst einladen und die wir kuratieren.
Es gibt sicher auch jede Menge medialer Themen, d.h. das fängt bei der Diskussion um die KI an, die sicher auch das Buchgewerbe revolutionieren wird, bis hin zum Lizenzverkauf von Film- oder Illustrationsrechten.
KI ist das heimlich unheimliche Topthema, zu dem die Verlage und Dienstleister selbst auch eine Menge Programm auf die Beine stellen. Wir als Buchmesse haben dazu ebenfalls ein reichhaltiges Programm entwickelt. Da werden Fragen erörtert wie: Was macht KI mit unseren Berufen, was mit Autor*innen? Was bedeutet das für die Lektorate in den Verlagen? Auch rechtliche Probleme wie die Frage nach dem Copyright werden diskutiert, also „Wer ist eigentlich der Urheber eines durch Künstliche Intelligenz generierten Textes?“ Solche Fragen sind nicht so leicht zu beantworten. Denen müssen wir uns aber stellen und schauen, dass wir die Antworten nicht anderen überlassen, sondern sie selbst geben und die Debatte und die politische Regulierung prägen.
Das ist natürlich auch ein finanzielles Thema, weil die Entwicklungskosten für ausgeklügelte KI-Strategien sehr hoch sind. Und da entscheidet oft, wer dafür die besten Produktionsmöglichkeiten hat. Wie kann man sich denn gegen Missbrauch schützen, wenn zum Beispiel Aussagen oder Bildausschnitte, die im Internet auftauchen, einfach aus dem Zusammenhang gerissen und manipulativ verwendet werden. Dann sieht oder hört man Personen Sachen tun oder sagen, die sie nie gesagt oder getan haben. Wie können wir damit konstruktiv umgehen?
Deep fake in Bild und Text lautet das Schlagwort. Tatsächlich gibt es heute bereits eine große und wachsende Kompetenz, mit generativer KI Fälschungen herzustellen. Und das ist bei KI besonders schwer zu erkennen. Ich glaube, dass wir dennoch eine große Chance haben. Zu den Kernkompetenzen von Verlagen gehört immer noch die Qualitätssicherung. KI wird sicher da zum Einsatz kommen, wo es sinnvoll ist, etwa für Faktenrecherchen, oder im Belletristikbereich, wenn es sich um serielle Genreliteratur (Romane und dergleichen) handelt. In den Bereichen der Sprachkunst, also der anspruchsvollen Literatur und der Lyrik, wo die Musenküsse noch günstig Einfluss nehmen, wo menschliche Kreativität und vielleicht ab und zu auch Genialität im Spiel sind, da sehe ich keine akute Gefahr. Da wird so bald kein Roman entstehen, der Booker Prize-verdächtig wäre oder den man für den Prix Goncourt vorschlagen würde.
Im Frankfurt Pavilion finden eigene Buchmessen-Veranstaltungen statt wie hier zur letztjährigen Eröffnungdebatte mit Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, dem pakistanischen Autor Mohsin Hamid und Juergen Boos, Foto: Petra Kammann
Als Messe kuratieren Sie selbst Veranstaltungen. Gleichzeitig sind Sie die neutrale Plattform. Kuratieren und Neutralität. Wie geht das zusammen?.
Im Grunde kann man es einfach sagen. Neutral sind wir da, wo Menschen auf uns zukommen und uns sagen: Wir möchten bei Euch ausstellen. Für das Ausstellen auf dem Gelände gibt es allgemeine Geschäftsbedingungen. Nicht zu randalieren, wäre beispielsweise hilfreich, oder ordnungsmäßig seine Veranstaltungen anzumelden. Nur so können wir als Messeveranstalter den Überblick behalten, was sich auf dem Gelände abspielt. Unabhängig davon können die Verlage machen, was sie wollen, solange sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes und unserer AGBs bewegen. Für ihre Veranstaltungen sind sie selbst verantwortlich. Das gilt in ähnlicher Weise für alles, was ein Gastland präsentiert. Natürlich müssen dabei bestimmte Leistungen gegenseitig erbracht werden.
Das ist die Neutralität, die wir künftig auch erhalten wollen, weil wir möchten, dass die Welt sich in Frankfurt zeigen kann in ihrer ganzen Diversität. In unserer Verantwortung liegt die Gestaltung unseres eigenen Bühnen- und Veranstaltungsprogramms. Da entscheiden wir, wen wir zu unseren Panels und Diskussionen einladen.
Drückt sich das auch in der Architektur der Hallen aus? Gibt es beispielsweise breitere Gänge?
Nein, die werden im Vergleich zum Vorjahr eher wieder ein bisschen schmaler werden, weil mehr Aussteller als erwartet da sind. In der Hallenarchitektur schauen wir, dass wir thematisch Cluster bilden. Wir versuchen, Themenfelder zu bilden und zusammenzufassen. z.B. im Kinder- und Jugendbuchbereich, oder, dass die Verlage aus dem anglo-amerikanischen Bereich beieinanderliegen oder die Asiaten in einem entsprechenden Raum und Umfeld beieinanderstehen. Das ist natürlich nicht immer leicht bei mehr als 4000 Ausstellenden. Naturgemäß kann man dabei nicht jedem jeden Wunsch erfüllen.
Salman Rushdie, der Buchmesse seit vielen Jahren verbunden. Damals war sein Auge noch unversehrt, Foto: Petra Kammann
Von der Eröffnung beginnt es mit der Verleihung des Deutschen Buchpreises im Römer, und mit dem Friedenspreis in der Paulskirche enden die öffentlichen Auftritte. Mutig ist die Entscheidung, den Friedenspreis an Salman Rushdie zu verleihen und ihn auch sonst auf der Buchmesse auftreten zu lassen.
Ich freue mich riesig, dass er ein gutes Jahr nach dem Attentat zu uns kommt. Natürlich muss man da sehr viel Sicherheit herstellen. Alle Gewerke, die hier zusammenarbeiten, tun alles, was menschenmöglich ist, damit Salman Rushdie eine gute Woche hier hat. Das ist schlimm, dass so etwas sein muss, es ist in Rushdies Fall die Folge eines vorgeblich religiös motivierten, in Wahrheit menschenverachtenden Islamismus, mit dessen Aggressionen und Freiheitsverweigerungen wir umgehen müssen.
Hauke Hückstädt, Leiter des Frankfurter Literaturhauses, Foto: Petra Kammann
Was ist in diesem Jahr neu für das Publikum? Sie gehen zum Beispiel jetzt auch an weiteren Tagen auf den Paulskirchenplatz und überhaupt in die Stadt selbst, wo es außerdem noch andere Veranstaltungen gibt, denken wir nur an den Veranstaltungsreigen von Open Books mit rund 150 Veranstaltungen, den das Kulturamt der Stadt veranstaltet. Das Literaturhaus präsentiert sich mit einem eigenen Programm im Theater. Treten Sie da nicht in Konkurrenz? Oder setzen Sie auf Kooperation?
Wir arbeiten komplementär. Zu Hauke Hückstädt und dem Literaturhaus haben wir freundschaftlichen Kontakt. Mit Sonja Vandenrath vom Kulturamt der Stadt gibt es eine sehr harmonische Zusammenarbeit. Da gibt das große Open-Books-Festival mit einem tollen Programm. Wir machen als Buchmesse selbst das BOOKFEST in Zusammenarbeit mit Buchhandlungen in der Stadt und aus der Region, außerdem kooperieren wir hier mit öffentlichen Bibliotheken. Ansonsten gibt es viel Neues. Wir haben zum 75-jährigen Jubiläum der Frankfurter Buchmesse eine ganz lebendige Kampagne entwickelt. Da kurven schon jetzt Busse mit der Aufschrift „75 times… and the story goes on“ durch die Stadt.
Sie sehen die Kampagne an vielen der Bücherschränke im Stadtraum, die werden FBM-gebrandet und sind auf Zeit jeder für sich so eine Art Buchmesse in ganz Klein. In vielen dieser Schränke verbergen sich Gewinne, z.B. Umschläge mit Eintrittskarten, da gibt es auch einen Umschlag mit einem goldenen Ticket, dessen glücklicher Besitzer Zutritt zu allen Veranstaltungen während der gesamten Messewoche hat. Dann gibt die Aktion: ,75 Stühle auf dem Paulsplatz und 75 Geschichten“. Wir haben sowohl Prominente als auch Otto-Normalbürger gefragt: Was ist Deine persönliche Geschichte mit der Frankfurter Buchmesse? Und viele Menschen haben uns ihre Geschichte gern erzählt. So hat Michel Friedman zum Beispiel den schönen Satz gesagt: „Ohne die Frankfurter Buchmesse wäre mein Leben ganz anders geworden.“ Mit unseren verschiedenen Kampagnen-Elementen wollen wir vor allem eines dokumentieren: dass die Stadt Frankfurt und die Frankfurter Buchmesse ganz eng miteinander verbunden sind und zusammengehören.
Dr. Sonja Vandenrath, Verantwortliche für Literatur im Kulturamt der Stadt Frankfurt, organisiert Open Books, Foto: Petra Kammann
Gleichzeitig weisen Sie auf die Geschichte der Buchmesse hin. Ist das Buch, das aufgeschlagene Buch als Signet, eigentlich bei dem heutigen Medienmix noch ein passendes Symbol?
Erstaunlich, oder? Das totgesagte Buch verschwindet schon wieder nicht. Der bekannte Germanist und Autor Jochen Hörisch hat mal den Aphorismus geprägt: „Die Gutenberg-Galaxis hört nicht auf zu enden.“ Das beobachten wir jetzt gerade wieder. Nein, das E-Book verdrängt nicht das Buch. Hat man anfangs zwar geglaubt, war aber ein Irrtum. Die Menschen lesen weiterhin gedruckte Bücher. Denn sie möchten weiterhin umblättern, etwas an den Rand oder zwischen die Zeilen kritzeln. Krisenpotenzial fürs Buch hat da eher ein anderes Thema: In der Medienkonkurrenz, die wir haben, verschärft sich der Wettbewerb um Zeit und Aufmerksamkeit immer weiter. Da müssen wir uns gute Bildungsarbeit leisten, Leseförderung betreiben. Global betrachtet, können immer mehr Menschen auf dem Erdball lesen, aber in manchen nationalen Märkten, auch im deutschen, ist das ein wachsendes Problem.
Lesen ist wie Zuhören mit dem Verstreichen von Zeit verbunden. Haben Sie nicht die Befürchtung, dass es gerade wegen der Zeitökonomie auch eine Art von Overkill von Veranstaltungen und Angeboten gibt? Darauf Reagieren und Hingehen ist das Eine. Um eine Sache aber zu begreifen, zu verdauen aber braucht es Zeit. Welche Rolle spielt dieser Aspekt bei Ihren Planungen?
Unsere Ehrengäste aus Slowenien machen eine fantastische Veranstaltungsreihe unter dem Motto: „Higher Level Reading“. Will heißen: Sich in einen Langtext vertiefen und ihn in einer Tiefendimension verstehen. Das kann ein literarischer Text sein, aber auch ein Sachbuchtext, oder ein Wissenschaftsbuch. Da muss man eine Lektüreanstrengung auf sich nehmen, die einem viel abverlangt. Man investiert viele Stunden seiner Lebenszeit, aber hinterher hat man etwas für seinen eigenen kognitiven Apparat getan, was von unschätzbarem Wert ist. Eine solche Erfahrung wird nur den „Freunden der Mühe“ zuteil, denen, die sich der Anstrengung noch aussetzen.
Es wurde von den Slowenen auf Initiative ihres Kurators Miha Kovac ein Manifest zum Higher Level Reading vorbereitet. International bedeutende Verbände wie die Akademie für Sprache und Dichtung oder die International Publishers Association sind da Mitunterzeichner. In Zeiten, in denen einerseits der Screen für die meisten Menschen zur dominierenden Leseoberfläche geworden ist, und in denen andererseits immer mächtigere generative künstliche Intelligenzen Textproduktion übernehmen, ist dieser Programmschwerpunkt unseres Ehrengastlandes ein besonders lohnendes Unterfangen. Es soll danach gefragt werden, ob sich für die meist hohe Investition von Zeit in die vertiefte Lektüre von Büchern nach wie vor Gewinne reklamieren lassen für die Entwicklung unseres analytischen und kritischen Denkens, aber auch für unsere soziale Kompetenz und für unsere demokratische Teilhabe. Macht das „Betriebssystem Buch“ auch heute noch den kleinen, entscheidenden Unterschied?
Erklärt sich dieser Erkenntnis zufolge, dass Bücher in einem zunehmend scharfen Wettbewerb um die knappe Ressource Zeit stehen, auch die reduzierte Zahl der Neuerscheinungen? In früheren Jahren, 2007 waren es zum Beispiel noch 86 000 Titel, im Jahre 2022 rund 64.300 Buchtitel, die auf dem deutschen Markt neu erschienen.
Ja, das sind in den vergangenen Jahren peu à peu weniger Novitäten geworden. Man guckt genauer hin, nicht zuletzt ist auch das Papier teurer geworden, der Druck. Und wenn man nicht mehr alles, was man gerne machen möchte, wirtschaftlich sinnvoll auch machen kann, dann müssen die Verlage halt reagieren. Die früheren hohen Auflagen und die enorme Novitätenzahl waren immer schon nur bedingt sinnvoll. Jetzt macht man es mit mehr Augenmaß.
Katja Stergar (Slowenische Buchagentur) präsentiert das Ehrengastland Slowenien auf der Pressekonferenz im Frühsommer, Foto: Petra Kammann
Nun zum diesjährigen Schwerpunktthema Slowenien unter dem Motto „Waben der Worte“. Finden Sie nicht mutig, ein so kleines Land in den Fokus zu stellen, wenn es auch auf eine multikulturelle Geschichte im Hintergrund zurückgreifen kann?
Ein kleines Land, ja, aber mit einer großen Literatur und wunderbaren Autorinnen und Autoren. Slowenien ist ein tolles Gastland mit vielen kulturellen Einflüssen, im Norden von Österreich, im Osten von Ungarn, im Süden Kroatien, im Westen von Italien, man ist schnell im italienischen Triest. Sowohl landschaftlich als auch ethnisch ist es ein vielfältiges Land. Dort entsteht viel Lyrik, die trotz kleinerer Auflagen hochgeschätzt ist. Die Poesie wird ein Schwerpunkt des slowenischen Gastlandauftritts sein.
Bei uns beherrschen jedoch nicht so viele die slowenische Sprache. Welche Rolle spielt denn dabei die Übersetzung? Schließlich werden auch Übersetzungen auf der Buchmesse verhandelt, um die Literatur zahlreicher Länder international anschlussfähig zu machen.
Es gibt ein umfangreiches Übersetzungsprogramm im Zuge des Gastlandauftritts. Allein in diesem Jahr kommen die Slowenen, wenn ich es richtig weiß, mit mehr als 200 Übersetzungen nach Frankfurt. Das macht ihren Auftritt nachhaltig und wird Effekte weit über das Jahr 2023 hinaus haben.
Ja, und die slowenische Hauptstadt Ljubljana hieß ja in früheren Zeiten auch mal Laibach.
In Slowenien sprechen immer noch sehr viele Menschen Deutsch. Also, das Problem, das wir keine Übersetzer finden würden, haben wir überhaupt nicht. Interessant ist immer die Frage: Was übersetzt man? Welche Verlage sind wichtig? Welche Autoren, welche Stoffe sind für den deutschen Markt besonders erfolgversprechend?
Um das Thema auch etwas populärer zu halten: Wird deshalb der streitbare slowenische Philosoph Slavoj Žižek die Buchmesse eröffnen?
Das ist vermutlich der international bekannteste lebende Philosoph der Gegenwart. Er wird eine von mehreren Eröffnungsreden halten. Man weiß nicht, wie das wird. Es wird sicher großartig. Es gibt kaum ein Thema, das vor Žižek sicher wäre. Er ist immer originell, immer wild. Er ist im positivsten Sinne unberechenbar und daher voller Überraschungen, und er interessiert sich auf eine befreiende Weise überhaupt nicht für Regeln eines vermeintlich „korrekten“ Sprechens. Wir brauchen heute dringender denn je solche Menschen, die sich um ihr eigenes Angepasstsein nicht scheren.
Wen erwarten Sie sonst noch?
Auf politischer Seite sind es Bundeskanzler Olaf Scholz und die slowenische Staatspräsidentin Nataša Pirc Musar. Das ist protokollarisch höchstrangig. Ich freue mich auch, dass Angela Dorn, die Ministerin für Wissenschaft und Kunst als Vertreterin des Landes Hessen etwas sagen wird, so wie auch zum ersten Mal auf unserer Messeeröffnungsfeier Mike Josef als Oberbürgermeister von Frankfurt. Von intellektueller und künstlerischer Seite aus Slowenien tritt neben Slavoj Žižek noch Miljana Cunta, eine Journalistin und Lyrikerin, als Rednerin auf die Bühne.
Musik und Lyrik gehören in Slowenien zusammen, Foto: Petra Kammann
Warum funktioniert Lyrik in Slowenien, weil es bei dieser Gattung nicht „nur“ um Sprache, sondern auch um Musik geht?
Ja, das ist ein ergiebiger Erklärungsansatz, denke ich. Musik und Gesang spielen in der Schule in Slowenien eine große Rolle. Sie erwähnten eben „Laibach“. Das ist nicht nur der alte deutsche Name für Ljubljana, sondern auch der Name einer der wichtigsten europäischen Retro-Avantgarde-Bands. Die kommen auch her und bringen zusammen mit einem Sinfonieorchester ein spannendes Projekt zur Aufführung. Außerdem kommen zwei Musiker, die auf der Eröffnungsfeier improvisieren werden. Lassen Sie sich überraschen.
Diesmal wird auch erstmals nach der Pandemie wieder der Filmpreis während der Buchmesse in der Alten Oper verliehen. Ist Film nach wie vor ein wichtiges Thema auf der Buchmesse, dass Verleger die Stoffe fürFilme liefern, vielleicht auch für die Jüngeren?
Zunächst einmal ist das ein immer wichtiger werdendes Thema für die Verlagsmenschen. Wir haben über Jahrzehnte gelernt, Rechte von Buch zu Buch zu verhandeln. Da trifft man sich mit den Kollegen aus London, aus New York, vielleicht aus Peking und verhandelt über die Buchlizenz. So weit, so einfach. Heute stehen wir an einer völlig anderen Wertschöpfungskette: Book to Screen ist das Schlagwort. Die Rechteverhandlungen zwischen Buchverlag und Filmproduzenten dauern viel länger, sind komplexer, brauchen intelligente „Übersetzungen“ der Qualitäten einer Geschichte, eines Stoffes. Dabei sind viel mehr Professionen und ist viel mehr Geld im Spiel. Auf der Ebene des Rechtehandels muss man sich mit Blick auf das Filmgeschäft also stärker professionalisieren. Wir als Buchmesse sehen uns da in einer Vermittler- und Anregerrolle. In unserem Bereich „Internationale Projekte“ kümmern sich Kolleginnen etwa um Kooperationen mit der Berlinale oder mit den Filmfestspielen in Cannes. Auf der diesjährigen Buchmesse wird es einen Tag geben, dessen Fachprogramm sich auf dieses Zukunftsthema Book-to-Screen fokussiert.
Welche Rolle spielen dabei solche neuen Formate wie TikTok und Ähnliches?
Eine starke und steil wachsende Rolle. TikTok ist im Augenblick der Akteur im internationalen Publishing, der auf der Marketing- und Vertriebsseite den größeren Einfluss hat auf das Wachstum. Die Zahlen dieser BookTok-Community sind sensationell. Zum ersten Mal werden dieses Jahr auf der Buchmesse in diesem Jahr die TikTok Book-Awards verliehen. Die Show findet am 21. Oktober 2023 von 18:00 bis 20:00 Uhr im Frankfurt Pavilion statt.
Welche anderen Preise werden auf der Messe selbst vergeben?
Der wohl wichtigste Preis ist seit 1956 verliehene Deutsche Jugendliteraturpreis, gestiftet vom Bundesfamilienministerium und ausgerichtet vom Arbeitskreis für Jugendliteratur (AvJ). Er zeichnet alljährlich herausragende Werke der Kinder- und Jugendliteratur aus. Er ist mit insgesamt 72.000 Euro dotiert.
Gut, dass Sie in verschiedenster Hinsicht immer auch die heranwachsende Generation im Visier haben, Herr Casimir, ich danke Ihnen für das informative Gespräch und wünsche Ihnen eine erfolgreiche Messe.
IM ÜBERBLICK:
Was ist neu auf der Frankfurter Buchmesse 2023?
Ehrengast Slowenien „Waben der Worte“ –
Slowenien präsentiert seine Literatur und Kultur in Frankfurt
Demokratisch, diskursiv und divers: Politik auf der Frankfurter Buchmesse
Politische Panels mit u.a. Lea Bonasera, Deniz Yücel und Meron Mendel
Publikums-Highlights: Motsi Mabuse, Otto Waalkes, Michel Friedman, Cornelia Funke
Events mit Kerstin Gier, Sascha Lobo, Rita Falk u.v.m. | Neu: Meet the Author Areal & TikTok
Book Award
Fachprogramm mit internationalen Expert*innen und Branchengrößen
CEOs im Gespräch | Schwerpunktthema KI | Nachhaltiges und barrierefreies Publizieren |
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Film- und Serien-Adaptionen im Fokus | Programm: Matchmaking, Networking und Vorträge
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Rufus Beck, Marc-Uwe Kling, Sophie Passmann u.v.m. | Lage Live | Audio-Fachkonferenz