Rossini, Bartók, Mendelssohn: ein besonderer Dreiklang in Kronberg
Tabea Zimmermann beeindruckte das Publikum tief – Temperamentvolle HR-Musiker beim Festival-Finalkonzert
Von Uwe Kammann
Eine frühherbstliche Reise nach Leipzig und Dresden bescherte beflügelnde, eindrucksvolle Stunden mit den Großen der Musikwelt, dem Gewandhausorchester und der Staatskapelle Dresden. Und natürlich gewährte sie auch umfassende Eindrücke von den so ungleichen Konzertsälen: dem modernen Gewandhaus in Leipzig vom Anfang der 1980er Jahre, dann der Dresdner Semperoper, dem hundert Jahre vorher eröffneten prächtigen Bau, den die DDR-Verantwortlichen nach den schweren Kriegszerstörungen erst spät wieder aufbauen ließen, bis er 1985 schließlich wiedereröffnet wurde: mit Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“.
Das HR-Sinfonieurchester war unter der Leitung von Christoph Eschenbach in Bestform, Foto: Petra Kammann
All’ diese Eindrücke und Gedanken schwebten noch im Kopf, als es im Casals Forum zum „Finale Grande“ kam, dem Abschlusskonzert im Rahmen des herbstlichen Kronberg Festivals, das zugleich zu einem großen Geburtstagsstrauß geflochten war: 30 Jahre ist die Akademie nun alt, die als wahrlich internationaler Ort sich Kronberg Academy nennt. Und die alle ihre herbstlichen Aufführungen unter ein Motto stellte: „Zuerst Mensch“ – eine rückversichernde Erinnerung und zugleich Zukunftsvision im Gedenken an den großen Namensgeber Casals, der den Kampf für eine bessere, ganz dem Menschlichen gewidmete Welt immer an die erste Stelle gesetzt hatte – keine Musik ohne diesen Grundgedanken.
Abendliche Stimmung auf dem Kronberger Beethovenplatz 1, Foto: Petra Kammann
Und es war wie immer, seit das Casals Forum im letzten Jahr eröffnet wurde: Mit freudiger Spannung betritt man den von Staab Architekten konzipierten Bau, der nun auch äußerlich ‚komplett’ ist, mit einem schwebenden, in sich dank farbchangierender Metallschindeln an ein spielerisches Menuett erinnerndes Dach. Innen dann das ebenso festlich-leicht anmutende Foyer, welches den Konzertsaal umschließt, getrennt allein durch eine Glaswand, welche vielfältige Blicke ins Innere erlaubt. Und so aus verschiedenen Perspektiven erkennen lässt, dass er an den ‚Bauch’ eines Cello erinnert, mit durchgehend warmen Holztönen.
Womit beginnt das erste Stück des finalen Jubiläumskonzertes? Nun, eben mit einem tiefen Cello-Ton, leicht romantisierend, im Unterton auch sehnsuchtsvoll. Doch wer sich darauf womöglich auf lange Zeit einstellen mag, in träumerischer Erwartung, wird schon bald aufgeschreckt: durch eine höchst temperamentvolle, ja bald fetzige Musik. Mit Fanfarensignalen, wilden Streicherrhythmen, feurigen Bläsereinwürfen, stampfenden Blech- und Schlagwerkeinsätzen, exzessiven Holzblaseinlagen, in immer neuen Staccati-Schichten verschränkt: Ja, das ist „Wilhelm Tell“ in Bestmanier, weil der damals junge Giachino Rossini in der Ouvertüre die ganze erzählerische Wucht seines Opernhelden ausmalt, mit hohem Tempo und starker rhythmischer Durchzeichnung.
Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks ist ganz bei sich, um dieses nach Friedrich Schiller komponierte Heldenepos in all’ seiner musikalischen Lautmalerei zu verkörpern. Ja, dieses Wort ist nicht falsch, denn nur dank dieser jederzeit spürbaren, punktgenau zu ortenden Vitalität in allen Teilen des Orchesters war – besser – ist es möglich, diese Ouvertüre, die zu den meistgespielten klassischen Stücken gehört, aus der Routine des Viel-zu-oft-Gehörten herauszuholen, ihr als klassischem Freiheitskampf eine feurige Gegenwart zu verleihen.
Und auch beim dritten Werk des Abends – Felix Mendelssohn Bartholdys 4. Symphonie – schafften es die in jeder Instrumentengruppe exzellenten Musiker des Rundfunkorchesters, jeder Routine des ebenfalls vielgespielten Stückes zu entgehen. Ein Werk, das als „Italienische Symphonie“ firmiert, weil es durch die erste Italienreise (1830) des jungen Komponisten inspiriert wurde. So jedenfalls wird es oft gesehen, gehört und verstanden: als eine Art musikalisches Kaleidoskop des Landes, das damals ja viele Intellektuelle anzog, namentlich aus Deutschland.
Großer Applaus für das HR-Sinfonieorchester und für Raimund Trenkler, Gründer und Intendant der Kronberg Academy , Foto: Petra Kammann
Was hören wir, wenn wir uns auf dieses Kaleidoskop einlassen? Nun, im ersten Satz natürlich die Klischees von temperamentvoller Lebenslust und Heiterkeit; eine in Musik übersetzte Sonnenlandschaft, lauter leuchtende und bunte Farben, welche die Violinen in ausladender Form herbeizaubern. Dann allerdings, im zweiten Satz, weichen die nahezu aufbrausenden Passagen unvermittelt der einfachen Linie eines Liedes, einer bassgrundierten dunklen Unerbittlichkeit, einer düsteren Stimmung.
Im Kontrast dazu lässt das Menuett des dritten Satzes wieder aufatmen, bevor dann ein nur rasant zu nennendes Finale diese in sich vielgestaltige Symphonie abschließt. Auch diese Intensität und Rasanz vermittelte das HR-Ochester – wegen der Raum- und Bühnengröße im Casals Forum auf gut fünf Dutzend Mitwirkende begrenzt – mit einer Spielfreude, die sich unmittelbar auf alle übertrug: sowohl im Binnenverhältnis auf der Bühne als auch im gegenseitigen Bezug zwischen Orchester und Publikum. Was schließlich, nach dem feurigen Finale, dazu führte, dass sich die Musiker gegenseitig umarmten: so freudig aufgewühlt waren sie nach diesem italienischen Parforce-Ritt. Den das Publikum mit Ovationen bedachte.
Applaus für die virtuose Bratschistin Tabea Zimmermann, Foto: Petra Kammann
Ovationen der ganz besonderen Art hatte aber das mittlere Werk dieses „Finale Grande“ hervorgerufen. Der fast nicht endende Beifall galt dem Konzert für Viola und Orchester von Béla Bartók – ein Werk, das der ungarische Komponist nach seiner 1940 gewagten Flucht im New Yorker Exil begonnen, aber nicht mehr vollendet hatte. Eine nach dem Tod des Komponisten von Bartóks Schüler Tibor Serly vorgenommene Bearbeitung des noch fragmentarischen Notenwerks war, wie könnte es anders sein, wegen der nachträglichen Eigenmächtigkeiten höchst umstritten.
Hier, in Kronberg, spielte die weltweit gefeierte Akademie-Inspiratorin Tabea Zimmermann in perfekter Harmonie mit dem HR-Sinfonieorchester eine eigene Bearbeitung des Bartók-Konzertes: eine in jedem Moment musikalisch höchst fesselnde Version, durchaus nicht melodiefremd, obwohl dieses im Exil entstandene Bratschenkonzert die tiefen Emotionen transportiert, welche für Bartók mit dem Weltkrieg und all’ seinen Zerstörungen verbunden waren.
Eine Düsternis, die allerdings auch mit hellen Momenten durchsetzt ist: mit umspielten Zitaten aus der ungarischen Folklore als aufblitzende Erinnerungen an eine glücklichere Vergangenheit. Moderato, Andante religioso, Allegro Vivace: In diesen drei Bewegungen spielt sich die durchziehende Tragik des tief bewegenden Konzertes ab.
Dirigent Christoph Eschenbach applaudiert der Solistin Tabea Zimmermann, Foto: Petra Kammann
Wenn ein durchdingendes Pizzicato der Bässe den getragenen Auftakt der Bratsche in fast unheimlicher Weise begleitet; wenn ein Thema erst aufgenommen, dann verfremdet weitergetragen wird; wenn dann aufgewühlte Passagen folgen, die wiederum in einer langsamen Gangart aufgenommen und aufgelöst werden, um dann geradezu eine Sturzflut auszulösen: Dann ist das Publikum wahrhaft gebannt, so wie auch im gebetsähnlich beginnenden zweiten Satz, mit aller Melancholie bis zur Tränentraurigkeit. Während der dritte Satz dann tatsächlich als dance macabre zu verstehen ist, als aggressiv vorwärtsgetriebener Todestanz bis zur Todesnähe. Die dann, so ist es nach intensiven Wiederholungspassagen zu verstehen, im plötzlichen Tod endet.
Wie oft – leider, leider – ist es schon passiert, dass übereifrige Klatscher schon in die letzten Töne hineinplatzen. Hier, nach dieser ungeheuer intensiven Darbietung durch die Meisterbratschistin blieb es für viele lange Momente still, selbst der Atem des Publikums schien ausgesetzt. Ein aufgewühltes Innehalten, eine tiefe Empfindung, das innere Wissen, einem außergewöhnlichen existentiellen Erlebnis beigewohnt zu haben – dies spürten alle. Und lauschten dann ebenso gebannt-intensiv Tabea Zimmermanns Zugabe: einer sich bis an die Grenzen der Hörbarkeit schmiegenden Musik-Melancholie von György Kurtág.
Erinnerung an den großen humanen Cellisten Pablo Casals in Kronberg, Foto: Petra Kammann
Zuerst Mensch – das Motto des Festival könnte und müsste an einer solchen musikalischen Stelle noch ergänzt werden: Zuerst Mensch, zuletzt Mensch. Als Klammer, welche die Existenz in allen ihren Facetten umfasst, in wirklich allen.
Kein besserer Ort ist dafür denkbar als dieser Saal des Casals Forums, der immer noch nagelneu wirkt, und zugleich so vertraut, als ob er schon viele Jahre zum Zentrum des unvergleichlich intensiven Musik-Erlebens geworden wäre. Er bringt alles zum Klingen, mit unübertroffener Präsenz von Musik, physisch und psychisch. Ein Wunder? Ja, ein Wunder – dabei menschengemacht. Und: ein Geschenk für alle.
„Fair Play“ mit einem Medley Grosso in der Kronberg Academy
Pablo Casals Award – for a better world posthum für den Pianisten Lars Vogt