Zwei Mendelssohn-Sinfonien im Herzen von Leipzig
Gewandhausorchester und MDR-Rundfunkchor beeindrucken mit höchster Klanggewalt
Von Uwe Kammann
Er ist faszinierend, dieser Platz. Immer neu in seinen Erscheinungsformen, immer wieder und immer noch präsent in der Erinnerung. Die Oktobertage 1989, mit der Menschenmenge, die nach Freiheit ruft, nach Aufbruch, nach Einheit: der Augustusplatz in Leipzig. Jetzt, im Herbst 2023, ist er belebt, zeigt das neueste Gesicht: traditionell mit dem Gegenüber von Gewandhaus und Opernhaus, auch mit dem an ein aufgeschlagenes Buch erinnerndes Hochhaus, gekrönt vom Schriftzug-Logo mdr, des Mitteldeutschen Rundfunks, der dort Proberäume für die Klangkörper hat.
Leipzig am Abend: Blick auf das Gewandhaus vom Augustusplatz aus, Foto: Petra Kammann
Dann, immer noch neu und schon mit einem Renovierungsgerüst eingerahmt, der Neubau der Universität mit dem eingefügten, modernistischen Zitat der Universitätskirche und des Paulinum. Die haushohen Glaszylinder, Skulptur und Leuchtkörper zugleich. Und längs des sechs Fahrspuren umfassenden Rings, der Glasquader eines Hotels und die zum Multizentrum transformierte alte Hauptpost, beliebt wegen der einen herrlichen Blick gewährenden Dachterrasse.
Leipziger Universitätskirche, Foto: Petra Kammann
Er ist Leipzigs Herzstück, dieser Augustusplatz, mit einer klar dominierenden Fassade: der des Gewandhauses, dieser nun dritten Spielstätte des berühmten Orchesters. 1981 wurde er eingeweiht, dieser erste und einzige Neubau eines Konzertsaals in der DDR. Ausdrucksstark ist er, mit der auskragenden Betonstirn über einer angeschrägten Glaswand, die den Blick freigibt auf ein fulminantes, die Decke des Foyers überziehendes Gemälde von Sighard Gille. Es trägt den programmatischen Titel „Gesang vom Leben“ – und versammelt eine Vielzahl von Szenen, die sich natürlich nie als Gesamtbild erschließen lassen.
Blick auf den abendlichen Augustusplatz mit dem Opernhaus, Foto: Petra Kammann
Es weckt hochspannende Erwartungen, hier ein Konzert zu besuchen, zumal dann, wenn es so politisch aufwühlende Stücke sind wie die 2. und 5. Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy. Hamburg, Berlin, Weimar, Frankfurt, London: wichtige Stationen des großromantischen Musikers, bis er 1835 nach Leipzig zog, wo er sechs Jahre als Kapellmeister des Gewandhausorchesters wirkte – ein arg untertreibender Titel angesichts der reichen musikalischen Tätigkeiten, zu denen auch ein überreiches Kompositionswerk gehörte.
Nach einer Zwischenzeit in Berlin kehrte Mendelssohn nach Leipzig zurück, wo er bereits 1843 das Conservatorium gegründet hatte, die erste Musikhochschule Deutschlands. Sein prächtiges Wohnhaus im Stil der Neorenaissance (heute ein bestens geführtes Museum) umfasste drei Stockwerke, in denen auch ein großer Musiksalon untergebracht war.
Das alles kann man ansatzweise im Kopf haben, wenn auf dem Spielplan eine Kombination von zwei Werken steht, die durchaus programmatisch zu verstehen sind: einmal die 5. Sinfonie, eine hochdramatische Hommage an Martin Luther und den Protestantismus, deshalb auch als Reformations-Sinfonie bezeichnet; und dann die Sinfonie Nr. 2. Sie wiederum ist Hommage an Johannes Gutenberg und Buchdruckerkunst, deren 400. Jahrestag 1840 gefeiert werden sollte – naheliegend in der bedeutenden Verlagsstadt Leipzig. Zu dieser Sinfonie gehört – fast als eigenständiger zweiter Teil zu verstehen – ein weltlicher Festgesang, eine „Symphoniekantate“. So titulierte sie eigenständig Mendelssohn selbst, auch als „Lobgesang“, uraufgeführt 1840 in der Leipziger Thomaskirche.
Felix Mendelssohn Bartholdy-Büste des Düsseldorfer Bildhauers Ivo Beucker (1909 – 1965) von 1945, Foto: Petra Kammann
Das also stand zu erwarten. Wer nun als Frankfurter den Großen Saal des Gewandhauses betritt, der vergleicht ihn natürlich sofort mit jenem der Alten Oper – denn beide sind ja Anfang der 80er Jahre vollendet worden, beide sind als reine Konzertsäle konzipiert, beide werden an den Stirnseiten dominiert von großen Orgeln – wobei jene in Leipzig noch prominenter ihre skulpturalen Züge zeigt. Sehr unterschiedlich allerdings die Kapazitäten: 1900 Plätze in Leipzig, 2500 in Frankfurt. Bei den kleinen Sälen – nach Mozart in Frankfurt benannt, nach Mendelssohn jener in Leipzig – herrscht fast Gleichstand, an der 600er-Grenze.
Auffällig zuerst: Der Saal in Leipzig ist von der Holzfarbe her wesentlich dunkler getönt, verbreitet zudem mit den roten Sitzpolstern einen traditionellen Eindruck von feierlicher Hochkultur. Formal ist er ein Zwitter von der berühmten Schuhkarton-Grundform und der Weinberg-Architektur von Hans Scharouns Berliner Philharmonie (die hier allerdings nur sparsam eingesetzt wird, mit marmorverkleideten Brüstungen. Da ist Frankfurt mit seinem hellen Saal in klarer Quader-Architektur und der großen, Teile des Parkettes überdachenden Empore einem anderen Stil verpflichtet – leichter, schwebender, neutraler.
Akustisch können beide Säle überzeugen, bieten Klarheit, erlauben nuanciertes Spielen und Hören.
Blick in die Wandelhallen des Gewandhauses und auf die Wandgemälde von Sighard Gille, Foto: Petra Kammann
Jetzt, bei den beiden Mendelssohn-Konzerten, ist das aber weniger gefragt. In der Interpretation des Gewandhaus-Chefdirigenten Andris Nelsons entfaltet sich ein jeweils triumphaler, ja überwältigender Klang. Es sind immer neue Schichtungen, die Nelsons hervorruft, die er stapelt, denen er Strahlkraft verleiht mit den fabelhaften Blechbläsern des Gewandhaus-Orchesters. Es ist vielleicht – seine besondere Charakteristik – etwas dunkler timbriert. Oder ist das die Kombination aus Augeneindrücken und der gehörten Musik? Aber auf jeden Fall: Das Publikum wird mitgerissen durch die große Dynamik, durch die Robustheit, welche durchscheint, wenn der Komponist Luther-Lieder kunstvoll zitiert und umspielt, um damit, wie er selbst sagt, die „Kirchen-Revolution“ zu feiern. Alles führt zum geradezu überdimensionierten vierten Satz, der in seiner tonalen Üppigkeit alle vorherigen Sätze sprengt, übersteigert.
Wer dachte, das ließe sich nicht übertreffen, kannte noch nicht die 2. Sinfonie, mit eben jenem großen zweiten Teil, der als Lobeskantate gar nicht großartig genug gedacht werden kann. Und hier wiederum triumphierte gleich eingangs dieser Passage der MDR-Rundfunkchor mit einem Einsatz, der gar nicht gewaltig genug ausfallen konnte im Zusammenspiel mit dem Gewandhausorchester: ein grandioses Fanal, ein chorales Aufleuchten in den kräftigsten Tönen, wahrlich überwältigend wie eine Klangmauer aus Stimmen und Instrumenten – und doch keine diffuse Klangwolke, sondern ein hochpräzises Ton-Ensemble, das schier den Atem verschlug.
Blick auf die Bühne des Gewandhauses mit Gewandhaus-Chefdirigenten Andris Nelsons und MDR-Chor, Foto: Petra Kammann
Dazu gehört in dieser 5. Sinfonie eine wunderbar zusammenwirkende Gesangsstruktur des Chors mit zwei Sopranistinnen (hier eher fein: Christiane Karg und Elsa Benoit), einem Tenor (großartig präsent: Werner Güra), welche am Ende zusammen einstimmen in die Verse: „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“. Zuvor wurde in vielschichtiger Weise das Hauptmotiv dieses gewaltigen Werkes entfaltet: der Triumph des Lichts über die Dunkelheit. „So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis, und anlegen die Waffen des Lichts, und ergreifen die Waffen des Lichts“, so intoniert es der Chor unter der Kompositionsanweisung „Allegro maestoso e molto vivace“.
Eine Anweisung, die Andris Nelsons mehr als ernst nimmt; die er in seinem Dirigat sichtbar macht, so dass es sich auf die Musiker des fabelhaften Gewandhausorchesters überträgt, genauso wie auf den hundertstimmigen Chor, der in seiner Qualität seinesgleichen sucht.
vorn: Chefdirigent Andris Nelsons, die beiden Sopranistinnen Christiane Karg und Elsa Benoit, Foto: Petra Kammann
Ein Jubelabend, ja, was sich auch im begeisterten Schlussapplaus – nach wohltuenden Momenten ergriffener Stille – niederschlägt.
Draußen, nach letzten Blicken auf das Lebensfest-Deckengemälde von Sighard Gille, umfängt einen wieder der Augustus-Platz, immer noch belebt, viele junge Leute auf dem Sitzrand des neobarocken Brunnens vor dem Gewandhaus, der viele Meeresgottheiten versammelt. Auf der Gegenseite, vor dem Opernhaus, schießt eine 20 Meter hohe Fontäne in die Luft. Was für ein Platz, so die nachhaltige Erinnerung bei der Abfahrt aus Leipzig, und was für eine Geschichte! Die Reise ans Licht: wunderbar.
https://www.gewandhausorchester.de/