„Fair Play“ mit einem Medley Grosso in der Kronberg Academy
Virtuosität, Musik und Menschlichkeit im Sinne Pablo Casals
Von Petra Kammann
Anlässlich des 30. Geburtstags der Kronberg Academy und des 50. Todestags des großen Cellisten und Friedenskämpfers Pablo Casals (1876-1973) durchzieht die Botschaft des Ausnahmemusikers „Zuerst bin ich Mensch, dann bin ich Künstler“ das gesamte Programm des diesjährigen Kronberg Festivals (21.8. – 3. 9. 2023). Junge Spitzentalente, weltbekannte Interpreten, acht Orchester und Ensembles faszinierten das Publikum in 26 Konzerten mit Musik aus fünf Jahrhunderten. Ein großer Publikumserfolg wurde das „Medley Grosso“ im Casals Forum, für das die junge neuseeländische Stargeigerin Geneva Lewis unter dem Motto „Fair Play“ für eine Wohltätigkeitsaktion warb. Gemeinsam mit Gidon Kremer spielte sie auf berührende Weise das „Concerto grosso Nr.1“ von Alfred Schnittke für zwei Sologeigen. Es war nur einer der Höhepunkte dieses Abends…
Das Casals Forum am Abend – seit 2022 ein magischer Ort für das Kronberg Festival, Foto: Petra Kammann
Zu Beginn des Konzerts begrüßte zunächst der künstlerische Leiter der Kronberg Academy Friedemann Eichhorn das Publikum und machte auf das Engagement der 25-jährigen neuseeländischen Top-Geigerin Geneva Lewis aufmerksam, die mit dem Konzert „Fair Play“ als Patin für die „Aktion Deutschland hilft“ stand, um Menschen aus der Ukraine humanitäre Hilfe angedeihen zu lassen.
Vor dem Konzert stellt Friedemann Eichhorn die Spitzengeigerin Geneva Lewis vor, Foto: Petra Kammann
Virtuos, voller Verve und Bühnenpräsenz ging es dann los, als der 1992 in Bregenz als Sohn einer persischen Musikerfamilie geborene Violoncellist Kian Soltani den ersten Satz des Konzerts Nr.7 G-Dur für Violoncello und Orchester 480 von Luigi Boccherini anstimmte. Im zweiten Satz, dem Adagio, traf er nicht zuletzt mit seinen differenzierten Pianissimi einen gereiften erzählerischen Ton und im darauffolgenden Rondo den tänzerisch-heiteren. Kian Soltani, der schon als 16-jähriger Musiker erstmals beim Mozartfest begeisterte, hatte auch gleich zwei der Boccherini’schen Meisterwerke mit nach Kronberg gebracht. Ob der Begeisterung des Publikums spielte er im Anschluss das rasante Allegro molto aus Boccherinis Cellosonate als Zugabe.
Sehr ausdrucksstark der Violoncellist Kian Soltani, auch im Zusammenspiel mit der ersten Cellistin Magdalena Ceple der Kremerata, Foto: Petra Kammann
In Kronberg ist der lettische Geiger Gidon Kremer, der sich damals wie heute für das Schaffen osteuropäischer Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts engagiert einsetzt und 1997 das Kammerorchester Kremerata Baltica gründete, nicht zuletzt wegen seiner begehrten Masterclasses in Kronberg, weiß Gott kein Unbekannter.
Noch in Zeiten der Sowjetunion hatte Kremer sich vom Komponisten Alfred Schnittke (1934 – 1998) eine Komposition gewünscht, welche dieser dem hochbegabten Geiger zu dessen 30. Geburtstag widmete. Es war das so anspielungs- wie auch facettenreiche Concerto grosso Nr. 1 unter der Werküberschrift „für zwei Sologeigen, Cembalo und präpariertes Klavier und begleitendes Streichorchester“. Erstaunlicherweise war es sogar seinerzeit zu einer Aufführung im damaligen Leningrad (heute Sankt Petersburg) gekommen.
Die exzellente Kremerata Balitica, die Gidon Kremer 1997 gegründet hatte, Foto: Petra Kammann
„Im Lauf mehrerer Jahre war es für mich ein inneres Bedürfnis, Theater- und Filmmusik zu schreiben“, so die Bekenntnisse des Komponisten Schnittke in Bezug auf diese Komposition zu Ende der siebziger Jahre über sein Wirken in der Sowjetunion. „Anfangs machte es mir noch Spaß, aber schon bald wurde ich dessen überdrüssig. Erst später ging mir ein Licht auf: Die Aufgabe meines Lebens besteht darin, die Kluft zwischen E- und U-Musik zu überbrücken, auch wenn ich mir dabei den Hals breche.“ Diese Aussage könnte auch vom innovativen Gidon Kremer selbst stammen, dem sowohl an der musikalischen Tradition gelegen ist, die er mit dem frischen und geschulten Blick auf Zeitgenössisches und junge Musiker immer wieder entstaubt. So auch an diesem bemerkenswerten Abend.
Begeisternd, das brillante dialogorientierte Spiel der Solo-Geiger Geneva Lewis und Gidon Kremer, Foto: Petra Kammann
Es war berührend zu erleben, wie intensiv sich die beiden brillanten Solisten aus so unterschiedlichen Generationen wie der konzert- und welterfahrene Gidon Kremer und die blutjunge, zarte neuseeländische Geigerin Geneva Lewis, die kürzlich auch ihr Debüt schon bei den BBC-Proms gegeben hatte, sich auf das ineinander Verschränkte von traditionellen und zeitgenössischen Motiven der Schnittkeschen Komposition einließen, im Spiel aufeinander hörten und dazu noch das ganze Spektrum der facettenreichen Komposition Schnittkes meisterten.
Dabei bildeten die mechanisch-hämmernd wirkenden Einschübe des „präparierten Klaviers“ vom renommierten lettischen Cembalisten Reinut Tepp einen ebenso souveränen Kontrapart. Bemerkenswert auch das Zusammenspiel aller: das große Können der einzelnen Musiker der Kremerata Baltica, die bei aller individuellen Differenziertheit auch einen ganzheitlichen Klangkörper bildeten. Nach dieser berührenden Aufführung drängte es das begeisterte und generationengemischte Publikum dann auch nach draußen, um auf der Terrasse oder im Innenhof der Academy mit dem Klang im Ohr das warme Abendlicht des Spätsommer-herbsttags von der Terrasse noch auf sich wirken zu lassen. …
Nocturne, Blick vom Casalsforum auf den Beethovenplatz mit Tony Craggs Skulptur und das Hotel gegenüber im nächtlichen Kronberg, Foto: Petra Kammann
Metamorphosen und Transformationen verschiedenster Art begleiteten dann auch den späteren Abend in der zweiten Konzerthälfte. Nach der Pause folgten die dunklen stimmungsvollen „Metamorphoses Nocturnes“ aus dem für das Streichorchester arrangierten Streichquartett Nr. 1 des ungarischen Komponisten György Ligeti (1923-2006), die in den Jahren 1953–54, also kurz vor dem ungarischen Aufstand von 1956 entstanden waren. Man muss sich die Atmosphäre dieser Epoche von damals noch einmal vor Augen führen. „Das Leben in Ungarn stand damals unter totaler Kontrolle der kommunistischen Diktatur, das Land war völlig abgeschnitten von jeglicher Information aus dem Ausland: Weder Kontakte noch Reisen waren möglich, der westliche Rundfunk wurde von Störsendern unterdrückt, Noten oder Bücher konnte man weder schicken noch erhalten. Die totale Isolierung galt nicht nur in Richtung Westen, auch die Ostblockländer waren voneinander abgeriegelt. So entstand in Budapest eine Kultur des »geschlossenen Zimmers«, in der sich die Mehrheit der Künstler für die »innere Emigration« entschied“, schrieb der Komponist selbst zu seiner Komposition, die zunächst ungehört in der Schublade liegen blieb.
Bewegtes Auf und Ab in der Pause kündigen einen Stimmungswechsel an, Foto: Petra Kammann
Denn die in Ungarn verpönte Modernität Anfang der 1950er Jahre, die Ligeti hier mit musikalisch traditionellen Elementen eines Haydn oder Beethoven kombinierte, empfand der Komponist in diesem Werk nicht als Gegensatz, sondern, wie er sagt: „vielmehr als doppelte Panzerung gegen die erniedrigende Kunstdiktatur. Das drückt sich in einem noch deutlich melodischen, rhythmischen und harmonischen tonalen Gebilde und einer Taktmetrik aus, die an den damals von offizieller Seite ebenso ungeliebten Komponisten Bartók angelehnt war. Es handelt sich bei diesem Konzert also nicht wie später bei Ligeti um eine radikal atonale Musik. Und doch wurde erst zwei Jahre nach Ligetis Flucht aus Ungarn diese Komposition erstmals 1958 in Wien aufgeführt, und zwar von einem Quartett, dem damals ebenfalls aus Ungarn geflüchteten Ramor-Quartett. Beim so sensiblen wie virtuosen Spiel von Gidon Kremer wurde durch die emphatische Interpretation in Kronberg die Anspielung auf die aktuelle, durch den Ukraine-Krieg hervorgerufene Situation bedrückend spür- und hörbar.
Der virtuose Geiger Gilles App animierte auch den ersten Geiger zur Improvisation, Foto: Petra Kammann
Mit dem folgenden, äußerst witzigen „Carte Blanche“-Auftritt des in Algerien in eine französische Familie hineingeborenen und und in Nizza aufgewachsenen Solo-Violinisten Gilles Apap, der in seinen Darbietungen des Standardklassikrepertoires stets mit Jazz- und Folklorevariationen verfremdet, folgte ein Stimmungswechsel durch die geschickte Fusion von klassischen Elementen mit traditionellen Volksliedern. Gleich ob mit Irish Polka Medleys oder bei der transformierten Berceuse von Gabriele Fauré, dem Spring Waltz bezog der perfekte Geigen-Performer voller Spielfreude nicht nur den Orchesterraum mit ein, indem er sich jeweils einzelnen Musikern und dann wieder dem Publikum zuwandte, er animierte auch den ersten Geiger der Kremerata zur gemeinsamen bravourösen Improvisation. Und nicht zuletzt vermittelte er den enttäuschten Studierenden, die nicht in die Masterclass aufgenommen wurden, einen gemeinsamen Auftritt mit ihm. Der wird den Nachwuchsmiskern zweifellos in Erinnerung bleiben.
Die kulturelle Vielfalt und die Freiheit der Interpretation hängt bei Apap eben mit seiner großer Improvisationsfähigkeit zusammen. Dadurch verschmelzen in seinem Spiel klassische Musik, Jazz, irische Volksmusik und osteuropäische Folklore zu einem ganzheitlichen Musikerlebnis. Seine Fähigkeit, Konventionen zu brechen und unterschiedliche Musikstile zu verbinden, bringt Freude im Konzertsaal hervor, da er mit seinem Versuch, neue, unbegangene Wege zu gehen, dieses Erlebnis begeisternd auf andere überträgt, was sein Konzert so kurzweilig macht. Das ließ auch das Kronberger Publikum nicht kalt. Apap brachte den Saal durch nimmer enden wollenden Applaus schlicht zum Beben. Seine ansteckende Spielfreude war eine große Bereicherung des üblichen klassischen Konzertbetriebs. Und beschwingt konnte man sich dann durch die Dunkelheit auf den Heimweg nach Frankfurt machen.