Phänomenaler Höhepunkt der Ruhrtriennale
Dmitri Tcherniakvs Interpretation von Leos Janáceks Oper „Aus einem Totenhaus“
Von Simone Hamm
Die Zuschauer blicken nicht in die Hölle des sibirischen Gefangenenlagers hinein – sie sind mittendrin.“ Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ heißt der Roman Fjodor Michailowitsch Dostojewskis, in dem er die vier Jahre verarbeitete, die er wegen seiner demokratischen Überzeugungen als Zwangsarbeiter in der sibirischen Verbannung verbracht hat. Leos Janácek hat daraus ein fesselnde Oper gemacht: In seinem Libretto erzählt er keine Handlung, sondern reiht Episoden aneinander: Männer, die gegeneinander anrennen, die sich prügeln, zusammen saufen und die sich Geschichten erzählen. Kein Wärter muss sie bewachen. Die Gefangenen quälen sich selbst. Die Hölle, das sind die anderen.
Aus einem Totenhaus, Leoš Janácek, Regie: Dmitri Tcherniakov © Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023
Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov nutzt die Möglichkeiten der Jahrhunderthalle in Bochum perfekt. An die Seiten der 70 Meter langen Spielfläche hat er ein dreigeschossiges Gerüst aus Stahl bauen lassen, enge Gänge, die mit ihren Gittergeländern an ein Gefängnis erinnern. Dort und im Gefängnishof selbst stehen und gehen die Zuschauer, erleben das harte Lagerleben hautnah und blicken in einen Abgrund. Ein Leben ohne Frauen, ohne Liebe. Eine Oper ohne Liebesgeschichte.
Dostojewski hatte einen Episodenroman geschrieben, Jancek die Episoden noch mehr verdichtet, in dem er die Rahmenhandlung wegließ. Tcherniakov reduziert noch weiter. Er setzt Bild an Bild.
An der Längsseite der Halle sitzen, kaum zu sehen, die Musiker. Denis Russell Davies dirigiert. Über zahlreiche Monitore können die Zuschauer das Dirigat verfolgen. Eigentlich ist das natürlich für die Sänger gedacht, die den Dirigenten ja sonst nicht sehen könnten. Die Bochumer Symphoniker spielen zurückhaltend und intensiv zugleich. Die Musiker bilden oft nur den Hintergrund, lassen den Sängern den Vortritt.
Das Orchester im Seitentrakt, Foto: © Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023
Zur Musik des Vorspiels stürmen die zwanzig Männer des herausragenden Chors vom Nationaltheater Brno und sieben Stuntmen auf den Gefängnishof. Sie beginnen eine brutale Schlägerei.
Es gibt eine ganz klare Hackordnung, in der die Polen ganz unten stehen. Ein neuer Gefangener wird hereingeführt: Alexander Petrovich Gorjancikov (stimmlich und auch mimisch herrausragend: Johan Reuter). Gorjancikov wird sofort geschlagen, mit eisigem Wasser übergossen. Denn er steht in der Hierarchie noch unter den Polen. Er ist ein politischer Häftling. (Man hat in dieser Figur Dostojewskis alter ego gesehen.)
Die Gefangenen feiern ein Fest, betrinken sich, verletzen den Knaben Aljeja, einen hübschen, sensiblen Jungen aus Dagastan, dem Gorjancikov Russisch, Lesen und Schreiben beibringt. Aljeja geht an Krücken, hat ein einen Klumpfusß, wird immer wieder gequält. Bekhzod Davronov singt sanft und gibt dem sensiblen Tartaren, der wohl nur als Mitläufer ins Gefängnis kam, genau das Maß an Zartheit, mit dem er im Lager so gerade überleben kann.
Die Häftlinge erzählen, warum sie verurteilt worden sind. Luka hat seinen grausamen Kommandanten beim Militär erstochen. Stephan Rügamer singt klar und frei. Sein Luka ist sich keiner Schuld bewusst. Skuratov hat den Bräutigam der Frau, die er liebt, ermordet. John Daznak betont das Starke, Mannhafte, bisweilen Scharfe des Zurückgewiesenen.
Aus einem Totenhaus, Leos Janácek, Regie: Dmitri Tcherniakov, © Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023
Aljeja liegt – zusammen mit dem totkranken Luka – in der Krankenbaracke. Gorjancikov tröstet ihn, streicht ihm übers Haar. Dies ist einer der wenigen Momente der Zärtlichkeit in einer Welt, die nur Schrecken und Gewalt kennt. Eine Spur von Erotik sogar. Aljeja hat jetzt keinen Klumpfuß mehr. Vielleicht sieht er so aus, wie Gorjancikov ihn sich vorstellt.
Einmal kommen die Gefangenen den Zuschauern im Gefängnishof ganz nahe, knien vor ihnen nieder, lehnen sich an. Die meisten Zuschauer bleiben starr, andere berühren die Männer sanft. Ein paar Sekunden nur. Dann ist alles wie zuvor. Ausweglos.
In Dostojewskis Roman „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ gibt es viel Brutalität und Sadismus. Aber immer auch Augenblicke des Vertrauens, der Liebesbekundungen, der Hilfe, der Freude, die Sonne zu sehen, einen Hund zu streicheln. Dostojewski reduziert selbst den grausamsten Mörder nicht allein auf seine Tat.
Bei Janácek ist alles Dunkelheit und Schrecken. Männer, die sich gegenseitig das Leben schwer machen, sich schikanieren.
In Dmitri Tcherniakvs Interpretation reicht der Platzkommandant (Peter Lobert) GorjanÄikov zwar die Hand, doch in Bochum ist die Befreiung aus dem Straflager nur ein Traum. Ein Traum in grellem Licht.
Hier, in der Krankenbaracke erzählt Siskov die längste, die traurigste, die schrecklichste Geschichte. (Leigh Melrose singt ausdrucksstark, steigert sich, singt Leiden und Wut und Gemeinheit zugleich. Ein großartiger Bariton.) Siskov hat die Frau getötet, die er liebt, denn sie liebte einen anderen. Sie begehrte Filka, der sie verhöhnt und erniedrigt hat, der log, sie sei seine Geliebte gewesen, woraufhin die Eltern sie halb tot schlugen. Aber sie kann nicht von Filka lassen.
Da erkennt Siskov im sterbenden Luka den verhassten Filka und ersticht ihn.
Bei Dostojewski wird Gorjancikov am Ende freigelassen. Janacek starb, bevor er seine Oper noch einmal endgültig durchsehen konnte. Schüler des Theaters Brno fügten seiner dunklen Oper einen glücklichen Schluss hinzu. Auch hier kommt Gorjancikov frei.
In Dmitri Tcherniakvs Interpretation reicht der Platzkommandant (Peter Lobert) Gorjancikov zwar die Hand, doch in Bochum ist die Befreiung aus dem Straflager nur ein Traum. Ein Traum in grellem Licht.
Dann kommt die Dunkelheit ganz plötzlich zurück. Als es wieder heller wird, hängen die Gefangen über der Tischplatte, schlafend oder vielleicht schon tot. Und Gorjancikov ist mitten unter ihnen. Lacht höhnisch, weint. Und dann: nur noch Stille und Dunkelheit.
Ein großer Abend mit herausragenden Musikern und Sängern, eine intelligente, mutige Inszenierung, ganz sicher ein Höhepunkt der diesjährigen Ruhrtriennale. Und nicht nur dieser.
Janáceks Oper „Aus einem Totenhaus“ wird noch am am 6.9., am 8.9. und am 9.9. aufgeführt, jeweils um 21 Uhr.