Eine Feier des Lebens – London, einmal ganz anders
Karibischer Karneval, ein Armenviertel, dass zum Hotspot wird und ein blutrünstiger Abschiedsabend
von Simone Hamm
Es ist der größte karibische Karneval außerhalb Brasiliens. Zwei Tage lang bestimmen Sambamusik und farbenprächtige Kostüme das Bild des Londoner Stadtteils Notting Hill: am letzten Sonntag im August und dem darauf folgenden Montag, einem Feiertag.
Die karibischen Tänzer und Tänzerinnen versprühen Lebensfreude pur, Foto: Simone Hamm
Ich mache mich schon am Morgen auf und bin gleich mittendrin im Getümmel. Tausende von Tänzern tanzen ausgelassen im Rhythmus der Stealdrums und der dicken Trommeln.
Die Frauen sind sehr sorgfältig geschminkt, tragen Bikinis oder Bodys, Netzstrümpfe, dazu riesige Flügel oder Reifen aus Federn. Und die Männer tun es ihnen gleich, tanzen auf High Heels über die Straßen von London.
Mann mit grünen Federn in Highheels, Foto: Simone Hamm
Die Einwanderer aus der Karibik haben sich in Notting Hill niedergelassen. Nicht bei allen waren sie willkommen. Jayden, ein großgewachsener Mann mit Perlen im Haar, am Gürtel und breiten Reifen an den Oberarmen zupft seinen Schmuck zurecht. Seine Familie stammt aus Sankt Vincent und den Grenadien.
Jayden erzählt von den sechziger Jahren, von der rassistischen Polizei, die schon bei kleinsten Verfehlungen hart gegen die Schwarzen vorging. Die Karibianer antworteten auf ihre Art: friedlich. Sie riefen ein Fest der karibischen Kultur ins Leben. Der Notting Hill Karneval war geboren. Ein Karneval, wie er seit hunderten von Jahren in der Karibik gefeiert wird. In London ist es ein Fest gegen Unterdrückung, Sklaverei, Rassismus und Ausgrenzung. Eine Feier des Lebens.
Jaydon und Kayla
Jayden geht zusammen mit Freunden auf die Parade. Lange haben sie sich darauf vorbereitet. Er, so sagt er mit einem Lachen, sei das ganze Jahr ins Gym gegangen. Sechs Stunden habe es gebraucht, bis er und seine Freundin Kayla, eine Jamaikanerin, perfekt gestylt gewesen seien.
Es wehen die Fahnen von Grenadien, Trinidad Tobago und von Jamaika. Der Duft von gegrilltem Huhn à la Jamaican Chicken hängt in der Luft. Bunte Drinks werden angeboten. Manche mit sehr viel Rhum.
Jamaican Chicen werden mitten in London gebraten, Foto: Simone Hamm
Auf der Parade sind die Steal- und die Sambatrommler abgelöst worden von riesigen Trucks, auf denen Party gemacht wird und von denen laute Musik dröhnt. Auf der Straße, zwischen den Wagen, tanzen die ausgelassenen Sambatänzer bis zum Abend. Ich muss noch lange bis zu einer geöffneten U-Bahnhaltestelle laufen und mache einen Zwischenstop in einem Café. Dorthin hat sich auch Shenida für einen Moment zurückgezogen. Selbst ich bin erschöpft. Schon vom Zuschauen.
Karibische Schönheit Shenida, deren Familie aus Trinidad Tobago stammt, Foto: Simone Hamm
Notting Hill Karneval: das karibische Tanzfestival lockt heute zahlreiche Besucher an, Foto: Simone Hamm
Am nächsten Tag fahre ich noch einmal nach Nottinghill, diesmal zur Portobello Road. 1999 hatte der Film „Notting Hill“ Premiere und machte die Portobello Road unsterblich. Und auch einen Buchladen für Reiseliteratur. Den Laden, der als Vorlage für den Film diente, gibt es heute noch. Dessen Besitzer verkörperte einst Hugh Grant, der sich in Superstar Anna Scott (Julia Roberts) verliebt. Heute schiebt sich ein Pulk von Touristen in der Portobello Road. Handys werden gezückt, Selfies gemacht. Nippesladen reiht sich an Nippesladen. Ein überteuertes Café reiht sich ans andere.
Längst hat ein anderes Viertel Notting Hill als Geheimtipp abgelöst: Hackney.
Große Geselligkeit auf dem Hackney Broadway Market, Foto: Simone Hamm
Lange galt Hackney als Armenhaus Londons. Hier lebten diejenigen, die sich noch nicht einmal die schäbigste Bleibe in der Innenstadt leisten konnten, die Alten und die Kranken. In manchen Reiseführern steht heute noch, man solle dieses Viertel unbedingt meiden.
Heute ein ganz junges Viertel- Hachney Broadway Market, Foto: Simone Hamm
Das exquisite Vogue-Magazin hingegen zählt es zu einem der 15 angesagtesten Bezirken weltweit. Denn Hackey ist anders geworden. Vor allem: jung. Zwei Drittel der Menschen, die hier leben sind jünger als 44.
Architekt Ali und der Neurowissenschaftler Selim entwerfen kreative Räume, Foto: Dee Fay
Dazu gehören auch Ali und Selim. Ali, 25, ist Architekt. Er arbeitet in Museen und Galerien, entwirft die Räume und die Umgebung für Ausstellungen, etwa für die große Marina Abramovic- Schau in der Royal Akademie of Arts. Hackney mit seinen unterschiedlichen Menschen und deren Kulturen inspiriert ihn. Es ist für ihn ein a creative space, ein kreativer Raum also.
Selim ist 26 und Neurowissenschaftler. Er fühlt sich sicher, willkommen und frei, und er liebt vor allem die Parks in Hackney. Das sei wunderbar, wenn man keinen eigenen Garten habe.
Kleine Hunde trollen durch die Parkanlage London Fields, Väter und Mütter schieben Kinderwagen. Später am Abend werden die Parkbesucher auf den noch von der Sonne beschienenen Rasenflächen eng zusammen rücken. Am kleinen Kanal über den eine Brücke führt, liegen Hausboote, Blumen, Tomaten und Kräuter stehen in großen Kübeln auf den Dächern.
Laufen und Flanieren am Kanal bietet eine neue Lebensqualität, Foto: Simone Hamm
Hier ist es sehr ruhig, nur die Fahrradfahrer klingen manchmal, wenn sie überholen wollen und bedanken sich höflich. Es ist so ruhig, dass man kaum glauben kann, mitten in London zu sein. Und: ich kann keine Touristen ausmachen.
Der Kanal führt vorbei am Victoria Park. Junge Männer mit langen schwarzen Haaren, perfekt geschminkt, sitzen vorm chinesischen Teehaus. Ich sehe Männer und Frauen in schwarzen Röcken, Mädchen in weiten, weißen Kleidern, hautengen Catsuits, extravaganten, kühn geschnitten Outfits in prallen Farben. Die Studenten der nahegelegnen Designschule prägen das Viertel. Aber auch der alte Herrn mit dem dunklem Blazer, die Jogger in ihren Trainingshosen, die Gewichte schleppen und die Dame mit dem Sonnenschirm. Sie alle ergeben eine bunte Mischung.aus jung und alt, gestylt und sehr sportlich, hip und lässig.
Malerisch hier der Blumenmarkt, Foto: Simone Hamm
Auf dem Broadway Market, 2004 von Händlern als Genossenschaftsmarkt gegründet, gibt es kleine Obst- und Gemüseläden, zwei Brillenläden mit extravaganten Modellen, eine Designerin, die feine, festliche Kleider schneidert, einen Käseladen, einen Laden, der frisch gerösteten Kaffee anbietet, einen Bäcker. Statt Toastbrot wird hier gesäuertes Roggenbrot angeboten. In den kleinen Gemüseläden kann man angefangen von indischen Gewürzen über Mausefallen bis hin zu Chips und Kosmetika alles kaufen, was man so braucht. Wer Lust auf Tapas oder Sushi hat, auf Ramennudeln oder Fish und Chips findet hier ganz sicher sein Restaurant.
Und: auf 100 Metern gibt es sage und schreibe drei kleine Buchläden. Am Wochenende bauen Händler ihre Stände in der Strassenmitte auf, sie verkaufen Flanneldecken, Trüffelöl und edle Porzellanschalen. Und viele Blumen.
Prächtig auch der mit dem Blumenmarkt verbundene Gemüsemarkt, Foto: Simone Hamm
Überall wird street food angeboten. Natürlich auch wieder jamaikanisches gegrilltes Hühnchen, aber auch viel Veganes, Vegetarisches. Hackney, so erfahre ich hier, sei das neue Notting Hill. Und der Broadway Market sei die neue Portobello Road.
Am letzten Abend dieses langen Wochenendes möchte einen ganz besonderen Theaterabend erleben. Ein Besuch im Globe Theatre gehört unbedingt zu einem Londonbesuch. Der Weg zum Theater führt über eine kleine Fußgängerbrücke über die Themse. Wenn ich mich umdrehe, kann ich im Hintergrund die Saint Paul’s Cathedral sehen.
Von der Brücke aus schaut man auf Saint Paul’s Cathedral, Foto: Simone Hamm
Im dem hölzernen elisabethanischen Rundbau dieses Globe Theatres am Südufer der Themse wird traditionell vor allem Shakespeare gespielt. An diesem Abend sehe ich gemeinsam mit 1500 Menschen Macbeth. Das Globe Theatre ist so gut wie immer ausverkauft. Man sitzt im Rund auf harten Holzbänken oder man steht.
Immer bestens besucht: das Shakespearesche Globe Theatre, Foto: Simone Hamm
Die Degen werden gezückt und das Blut fließt. Aus Eingeweiden wird ein Sud gekocht. Es knackt, wenn Macbeth einem Kind den Hals rumdreht. Es geht derb zu. Die Zuschauer, vor allem die, die unter freiem Himmel im Rund stehen, werden mit einbezogen. Da wird schon mal eine Mütze stibitzt, einem jungen Mann übers Haar gestrichen, eine junge Frau zur Seite gedrängt, wenn ein Schauspieler ins Publikum springt. Und es wird viel gelacht. Genauso sollen die Aufführungen der Shakespeare Stücke früher wohl gewesen sein. Dazu gibt es Bier oder Gin Tonic aus der Dose. Kissen und Rückenlehnen werden verliehen.
Blutrünstig also endet dieser Londonaufenthalt. Beschaulichkeit ist etwas anderes. Aber spannend und aufregend war es allemal – nicht nur bei Shakespeare.