„Plastic World“ – schrille Themenausstellung in der Schirn
Einladung zur kritischen Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen „Kunst-Stoff“
Von Hans-Bernd Heier
Mit „Plastic World“ widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Die beeindruckende Schau zeigt noch bis zum 1. Oktober 2023 das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis hin zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit.
Pascale Marthine Tayou „L’arbre à palabres“, 2023, Installationsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz
Plastik ist allüberall: Es durchdringt die Gegenwart, ist billig, nahezu weltweit verfügbar und im Alltag omnipräsent. In den 1950er-Jahren wurden synthetische Stoffe zum Symptom und Symbol der Massenkultur – das „Plastic Age“ war geboren. Und auch in die Kunst fanden Kunststoffe aufgrund ihrer immensen gestalterischen Möglichkeiten früh Einzug und wurden schnell zu einem zentralen Material und Vehikel der Innovation.
Auf der Suche nach Neuem experimentierten Künstler*innen mit den jeweils aktuell verfügbaren Stoffen wie Plexiglas, Styropor, Silikon, Vinyl oder Polyurethan und industriellen Fertigungstechniken. Dabei feierte die Pop Art im Konsumrausch der Zeit das neue künstliche und günstige Material in seiner bunten Brillanz und seinen leuchtenden Farben. Plastik wurde in fantastisch anmutenden Räumen und Environments genutzt oder bei Happenings aufgepumpt, geschäumt und gegossen. Die Faszination für Weltraumforschung, Mondlandung und High-Tech-Materialien beflügelte die bildende Kunst ebenso wie die Architektur zu luftigen Konstruktionen und progressiven Raumkonzepten.
Ausstellungsansicht; © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz
Gleichzeitig gab es neben den minimalistischen Arbeiten der „Finish Fetish Artists“ schon Ende der 1960er-Jahre Akkumulationen von Trash, die die Exzesse des Massenkonsums und die ökologische Dimension von Plastik in den Blick nahmen. Diese Perspektive wird heute angesichts der enormen Verbreitung von Kunststoffen und der Belastung der Umwelt in künstlerischen Arbeiten vermehrt aufgegriffen.
„Mit ‚Plastic World‘ präsentiert die Schirn einen bislang einmaligen und längst überfälligen Überblick über die Verwendung synthetischer Stoffe in der bildenden Kunst“, so Schirn-Direktor Dr. Sebastian Baden. „Schnell eroberte das vielseitige Material in Skulpturen und in der Architektur den dreidimensionalen, physischen Raum. Diese Geschichte des Plastikzeitalters zeugt von Innovationsfreude und Kreativität. Aus ökologischer Perspektive entfaltet Plastik aktuell eine besondere Dringlichkeit, es ist bis heute allgegenwärtig in der Massenkultur. Unsere Ausstellung weist weit über rein ästhetische und formale Aspekte hinaus. Vielmehr lädt sie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser prägenden Materialkultur ein.“
Otto Piene „Anemones: An Air Aquarium“, 1976, Neuproduktion 2023, Installationsansicht; © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz
Die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Martina Weinhart, ergänzt: „Plastik ist das emblematische Material unserer Gegenwart und hat in kürzester Zeit Kunst und Gesellschaft radikal verändert. Was sich inzwischen als enorme Belastung für die Umwelt herausgestellt hat, bedeutete für die Kunst, wie für Architektur und Design, eine ebensolche Bereicherung. Der Blick auf die überaus reiche Materialgeschichte von Plastik eröffnet eine Erzählung voller Ambivalenzen: von zukunftsorientierter Innovationskraft und verführerisch anmutigen Objekten; von den schädlichen Auswirkungen, aber auch zur Frage nach neuen Wegen im Umgang mit diesem Material, das gekommen ist, um zu bleiben.“
SCHIRN 3D PARCOURS zur Ausstellung „Plastic World“, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023
Die Schirn versammelt rund 100 Werke von über 50 internationalen Künstler*innen, die auf unterschiedlichste Weise mit Kunststoff arbeiten, darunter Monira Al Qadiri, Archigram, Arman, César, Christo, Haus-Rucker-Co, Eva Hesse und Hans Hollein. Zu sehen sind Gemälde, Skulpturen, Reliefs, Fotografien, Objekte, Assemblagen und Installationen wie auch Architektur-Utopien und Experimente mit Materialeigenschaften. Filme und Dokumentationen zeigen die enorme Vielfalt der Stoffe, Formen und Materialien und spiegeln dabei auch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext wider.
Die Ausstellung „Plastic World“, die durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain gefördert wird, gliedert sich in sieben Themenbereiche. Neu ist der SCHIRN 3D PARCOURS – ein innovatives, digitales und kostenloses Vermittlungsformat; dieses wird ermöglicht durch experimente#digital – eine Kulturinitiative der Aventis Foundation. Das neue Vermittlungsformat erlaubt es Besucher*innen, sich in virtuellen, von der Ausstellung unabhängigen Räumen zu bewegen und die abwechslungsreiche Materialgeschichte der Kunststoffe digital zu erleben.
Im Rahmen der Ausstellung „Plastic World“ ist im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt das Exponat „An Ecosystem of Excess“ der Künstlerin und Wissenschaftlerin Pınar YoldaÅŸ zu sehen. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die Ozeane – einstmals Ursprung der Evolution und heute stark von Plastik durchseucht. Mit ihrer Arbeit, die bis zum bis 1. Oktober 2023 im Senckenberg Museum gezeigt wird, verdeutlicht YoldaÅŸ ihre Vision zukünftiger Ökosysteme. Bei Vorlage der Eintrittskarte der Schirn Kunsthalle zur Ausstellung „Plastic World“ erhalten Besucher*innen des Senckenberg Museums ermäßigten Eintritt.
Die sehenswerte Themenausstellung in der Schirn wird von einem umfangreichen Rahmen-und Vermittlungsprogramm: www.schirn.de/besuch/faq