„Anna Boch – eine impressionistische Reise“ im Mu.ZEE Ostende
Weibliche Experimentierfreude um 1900
Von Petra Kammann
175 Jahre nach ihrer Geburt würdigt das Kunstmuseum Mu.ZEE in Ostende die großartige belgische Künstlerin, Philanthropin, Mäzenin, Musikliebhaberin Anna Boch (1848-1936) mit einer Sonderschau und einem nicht nur fantastischen Parcours durch das impressionistisch-pointillistische Werk dieser ungewöhnlich begabten und eigenständigen Frau. Der wird ergänzt durch Stücke der hauseigenen Sammlung und durch außergewöhnliche Leihgaben großer Museen mit Werken von Vincent van Gogh, Paul Signac, Paul Gauguin, Théo van Rysselberghe, Victor Horta, Maurice Denis. Dank der fruchtbaren Kooperation mit dem Museum von Pont Aven in der Bretagne geht die Schau „Anna Boch – eine impressionistische Reise“ ab dem 5. November weiter nach Pont Aven.
Noch wird gewerkelt. Aufbau der Ausstellung „Anna Boch – eine impressionistische Reise“ im Mu.ZEE in Ostende, Foto: Petra Kammann
Im Potsdamer Museum Barberini werden gerade Bilder unter dem Schwerpunkt „Wolken und Licht“ des niederländischen Impressionismus um Claude Monet gezeigt, im Mu.ZEE Ostende die belgische und die weibliche Variante.
Anna Boch, Homme rentrant de la pêche, 1891, Privatsammlung Binche, Foto: Vincent Everarts
In der Ausstellung „Anna Boch – eine impressionistische Reise“ (noch bis zum 5. November) spielt das Licht eben auch eine nicht unbeträchtliche Rolle, anders jedoch als in der Farbpalette der luftig-leichten französischen Impressionisten. Entsprechend der niederländisch-flämischen Tradition der Landschaftsmalerei fällt sie oft erdiger aus. Fast monochrom wirkt der vom Meer zurückkehrende Fischer mit seiner Kiepe an einem diesigen Tag.
So entfaltet das Meer als Quelle des Lichts auf den Bildern Anna Bochs ganz unterschiedliche Wirkung an der Nordsee, am Atlantik oder am Mittelmeer, wie die roten Felsformation des Esterelgebirgens vor dem Blauen Mittelmeer an der Côtes d’Azur zeigen.
Anna Boch, Les falaises de l’Estérel, ca. 1910. Privatcollection, Brüssel, Foto: Vincent Everarts
Doch Ausgangspunkt der Schau war ein Bild aus der Sammlung des Mu.ZEE Anna Bochs pointillistisches Bild Pendant l’élévation, das die katholisch flämischen Messeteilnehmer vor der kleinen Kirche Onze-Lieve-Vrouw Ter Duinen in Mariakerke in der Nähe von Ostende zeigt.
Die kleine Kirche in Mariakerke: Onze-Lieve-Vrouw Ter Duinen, Foto: Petra Kammann
Das Kirchlein in den Dünen übte bei den Malern James Ensor (1860-1949), Willy Finch (1854 – 1930) und vielen anderen Künstlern der Zeit einen großen Zauber aus. Es wurde vor allem von Ensor geschätzt, der sein halbes Leben in seiner Geburtsstadt Ostende verbrachte, oft auch im idyllischen Mariakerke mit dem dort changierenden Licht.
Ensors phantastische Einfälle und Maskeraden, Versuchungen und Travestien machten ihn zum Avantgardisten am Meer und ließen ihn Mitglied der belgischen Künstlervereinigung Société des Vingt werden, die auch für die Künstlerin Anna Boch eine wichtige Rolle spielen sollte. Bezeichnenderweise liegt Ensors Grab hinter der Kirche in den Dünen.
James Ensors Grab in Mariakerk bei Ostende im Kirchhof von Onze-Lieve-Vrouw Ter Duinenkirchen Foto: Petra Kammann
Anna Bochs Bruder Eugène Boch (1855-1941) ,den Vincent van Gogh (1853,-1890) als Träumer beschrieb, war ebenfalls Maler und mit van Gogh befreundet. Eugène porträtierte seinen Malerfreund auf sehr charakteristische Weise. Auf seinem Van Gogh-Porträt bildet dessen ausgemergelt markantes Gesicht einen scharfen Kontrast zum dunklen angedeuteten Sternenhimmel im Hintergrund. Das Bild befindet sich heute normalerweise im Besitz des Musée d’Orsay in Paris und ist nun in Ostende zu bewundern.
Eine einflussreiche Gestalt war auch Annas Cousin, der Rechtsanwalt und Schriftsteller Octave Maus (1856-1919). Er hatte wiederum die bedeutenden Künstlergruppen Les XX (Les Vingt, 1883-1893) und La Libre Esthétique (1894-1914), deren Experimentierfreude groß waren, in Brüssel gegründet.
Dort lernte Anna später auch den bedeutenden flämischen Maler des Pointillismus Theo van Rysselberghe (1892-1926) kennen und schätzen. Er porträtierte auch sie als Malerin. So machen Porträts, Atelierszenen und Intérieurs auch einen Großteil der ausgestellten Arbeiten aus. Den Landschaftsmaler Isidore Verheyden (1846-1905) porträtierte Anna malend am Strand, reiste mit ihm. Sie war ihm auf sein Anraten hin nach Paris gefolgt, um sich dort als Malerin weiter ausbilden zu lassen.
Anna Boch im Entree des Mu.ZEE, einem umgebauten Kaufhaus des Architekten Esselinck, Foto:Petra Kammann
Noch bedeutsamer als ihr Bild Onze-Lieve-Vrouw Ter Duinen aus der Sammlung des Mu.ZEE, das eine beachtliche Zahl von Gemälden, Skulpturen, Installationen, Illustrationen und Zeichnungen namhafter belgischer Künstler, belgische Kunst von 1880 bis in die Gegenwartskunst, beherbergt. Heute ist in dem transparenten Gebäude des einstigen Kaufhauses, das der Architekt Gaston Eysselinck gebaut hat, nun eine ganze Palette verschiedenster Arbeiten von ihr zu entdecken. In diesem besonderen Gehäuse werden die verschiedenen Arbeiten auf besondere Weise in ein helles Tageslicht getaucht, das durch die riesige Glasfront in sämtliche Stockwerke und Zwischengeschosse dringt. Und nicht nur die im Mu.ZEE ausgestellten Künstler aus derselben Epoche bieten interessante Vergleichsmöglichkeiten mit Anna Bochs Kunstwerken, auch so manche zeitgenössische.
Eingang zum Mu.Zee in der Ostender Romestraat, Foto: Petra Kammann
Zweifellos spielte bei der Konzeption der Ausstellung die Tatsache eine Rolle, dass Anna Boch um 1900 die prominenteste Künstlerin in Belgien schlechthin war. Im Gegensatz zu ihrem eher introvertierten Bruder Eugen Boch machte sie mit sage und schreibe 130 Ausstellungen schon zu ihren Lebzeiten als Frau eine echte Karriere. Daher sollte ihr in vielen bedeutenden Museen verstreutes Werk und das ihrer Malerkollegen wieder in ein neues Licht gerückt werden.
So wurde die Zeit um die Jahrhundertwende und der Belle Epoque zum chronologischen Ausgangspunkt für die Ausstellung, die auch so berühmten künstlerischen Zeitgenossen wie Vincent van Gogh, dem die Mäzenin, die sie eben auch war, ein Bild abkaufte, mit einbezieht. Die Museumsdirektorin Dominique Savelkoul ist sehr stolz darauf, dass der vielseitigen Persönlichkeit Anna Boch, die bei einem breiten Publikum eher in Vergessenheit geraten ist, damit endlich auch posthum langfristig die Ehre zukommt, die ihr gebührt. Auch ist es ihr ein Anliegen, kreative Frauenpersönlichkeiten herauszustellen.
Blick in die lichtdurchfluteten Räume des Mu.ZEE, Foto: Petra Kammann
Mehr als zwei Jahre Recherche waren dann auch der Ausstellung vorausgegangen, die nötig waren, um etliche bedeutende Museen um Leihgaben zu bitten. Neben den Malern, die sie selbst sammelte, entsteht auf diese Weise ein vollständigeres Bild der außergewöhnlich vielfältigen Persönlichkeit Anna Bochs.
Daher hatte das Mu.ZEE die renommierte Kuratorin Virginie Devillez beauftragt, gemeinsam mit dem Mu.ZEE-Kurator Dr. Stefan Huygebaert und der Forscherin und Projektleiterin Wendy Van Hoorde zahlreichen Recherchen nachzugehen und einen besonderen Ausstellungsparcours mit herausragenden Leihgaben und verschiedensten Aspekten zu entwickeln.
Kurator bei Mu.ZEE Stefan Huygebaert vor der Vernissage vor Anna Bochs Bild „Pendant l’élévation“, Foto: Petra Kammann
Die Spezialität des 35-jährigen promovierten Kunstwissenschaftler Stefan Huygebaert, der über verschiedene Aspekte der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts (1789-1914) forscht, lehrt und veröffentlicht, hatte sich bis dahin vor allem auf Ausstellungs- und Forschungsprojekte zur Kunst um 1900 und insbesondere zu Léon Spilliaert (1891-1946) konzentriert.
Er hat für die Ausstellung etliche zusätzliche Objekte ausfindig gemacht und herbeigeschafft wie Zeichnungen, Postkarten, Reisetagebücher, Keramikobjekte etc., so dass ein lebhafter Gesamteindruck von der Lebensweise und den ständigen Reisen dieser eigenständigen und ganz modernen Frau entsteht. Das vermittelt auch ein großaufgezogenes Foto aus dem Jahre 1908 von ihren Reisen mit dem Auto im luxuriösen Minerva mit ihren Bruder Eugène, der sie quer durch Europa und rund um das Mittelmeer begleitete.
Anna Boch vor der Staffelei, aus der Privatsammlung Binche, Foto:Vincent Everarts
Für eine Frau zu dieser Zeit ist ihre spezielle Ausgangssituation natürlich eine privilegierte und durchaus keine Selbstverständlichkeit. Als begüterte älteste Tochter des Steingutfabrikanten Victor Boch (Boch Frères Keramis in La Louvière), einem Nebenzweig der Familie Villeroy und Boch aus Mettlach, bekam sie bereits als Kind Klavierunterricht, konnte sich schon früh auf ihr Zeichnen und Malen konzentrieren, was ihre Liebe zur Kunst und zur Musik beeinflusste und aus ihr eine große Musikliebhaberin und Sammlerin von Werken ihrer herausragenden Künstlerfreunde machte, die dazu noch einen geselligen Salon führte.
Sie bemalte auch das in der Manufaktur hergestellte Porzellan. Hier ein Stück aus der Privatsammlung Binche, Foto: Vincent Everarts
In ein so wohlhabendes Umfeld hineingeboren zu werden, war natürlich für ihre Ausbildung wertvoll. Frauen besuchten um diese Zeit noch nicht einmal die Kunstakademie. Darin ähnelt Anna Bochs Biografie ihren impressionistischen Zeitgenossinnen Berthe Morisot (1841-1985) in Frankreich oder Mary Cassatt (1844-1926) in den Vereinigten Staaten. Sie ist den beiden Künstlerinnen zweifellos wegen ihrer jeweiligen neuartigen Plein Air-Malerei verbunden.
Als Anna 1876 den Landschaftsmaler Isidore Verheyden (1846-1905) kennenlernt, rät der ihr, auf jeden Fall eine Ausbildung in Paris, dem Hotspot der damaligen fortschrittlichen Kunstszene zu machen. Er wird ihr Lehrer und ihr Freund. Ihr Bruder Eugen lässt sich ab 1879 in Paris nieder. 1885 schließt Anna sich dem Kreis der Vingt an und stellt in Paris sogar im berühmten Salon Salon des Indépendants aus. Hier entstehen ihre ersten neo-impressionistischen Gemälde.
Und Anna beginnt, Werke von Avantgarde-Künstlern zu kaufen, die heute fast alle in den großen Museen wie im Brüsseler Kunstmuseum Musées Royaux des Beaux-arts wiederzufinden sind wie etwa Paul Gauguins Conversation dans les prés. Pont Aven (1848) oder das pointillistische Gemälde der Seinelandschaft von Georges Seurat (1859-1891), La Seine à la Grande Jatte von 1888, oder Paul Signacs Sicht auf die Calanque bei Marseille, dann die Plaine de la Crau, pêchers en fleurs von 1889 oder das pointillistische Gemälde der Seinelandschaft von Georges Seurat (1859-1891), La Seine à la Grande Jatte von 1888 . Van Goghs letzter Blick auf Arles hingegen befindet sich heute im Londoner Courtauld Institute.
Und Van Goghs ungeheuer expressives rotes Weinfeld La Vigne rouge à Mont-Majour aus dem Jahre 1906 wiederum hängt heute im Moskauer Puschkin Museum. Es konnte wegen der aktuellen politisch vertrackten Situation leider nicht nach Ostende reisen. Darüberhinaus gibt es Arbeiten von Henry Moret, Emile Bernard oder Jan Toorop undundund… Sie alle machen sichtbar, wie reich allein Anna Bochs eigene Sammlung war.
Und als Musik- und Literaturliebhaberin hatte sie außerdem eine Vorstellung von dem, was Wagner möglicherweise im Sinn hatte, als er vom Gesamtkunstwerk sprach. Für sie hieß das auch: Das häusliche Umfeld muss entsprechend künstlerisch gestaltet sein. So lag es nahe, dass sie dazu auch entsprechende Designer, Architekten und Künstler beschäftigte.
Teile des von Victor Horta eingerichteten Salons sind in der Ausstellung zu sehen, Foto: Petra Kammann
1903 lässt sie sich in einem Haus des Architekten Paul Hermanus (1859-1911) nieder, das von keinem Geringeren als von Victor Horta (1861-1947) ausgestattet wurde. Jugendstil vom Feinsten. Und sie bittet den symbolistischen Maler Maurice Denis (1870-1943), die Eingangshalle zu gestalten und auszumalen.
Das Meer sucht die Weitgereiste oft auf und stellt es in verschiedensten Variationen dar, Foto: Petra Kammann
Immer wieder taucht in ihrem so reichen und reichhaltigen Leben und in ihren Arbeiten das Motiv des Meeres auf: mal in der Provence bzw. an der Côte d’Azur, mal am Ärmelkanal, mal in der Bretagne, mal an der belgischen Küste, dort vor allem am Standort Ostende, der Stadt von James Ensor, dessen Schlüsselwerk La Musique russe, das sie unter anderem erwarb, ihr besonders am Herzen lag.
Und sie hatte einen offenen und vorurteilslosen Blick sowie ein ausgesprochenes Gespür für junge künstlerische Talente wie beispielsweise die von Paul Gauguin, für den sie 1890 eine Benefizauktion organisierte oder Vincent van Gogh, dem sie zwei Bilder abkaufte und Paul Signac, der in ihrem Salon verkehrte.
Und genau wie bei ihren französischen Künstlerkollegen, für die sie eine große Bewunderung hegte, nahmen Seestücke, Natur und Reisen einen wichtigen Platz in ihrem Werk ein.
Stilistisch lässt sie sich beeinflussen, aber nicht festlegen. Das Werk, das sie hinterlassen ist, ist so vielfältig wie bemerkenswert und sucht seinesgleichen. Eine Reise in das Mu.ZEE nach Ostende und Mariakerke ist es allemal wert.
Die Ausstellung
„Anna Boch, eine impressionistische Reise“
1.7.2023 – 5.11.2023
Mu.ZEE
Romestraat 11
8400 Ostende / Belgien
Der Katalog:
Anna Boch. Eine impressionistische Reise, herausgegeben von Hannibal.
Mit Beiträgen von Virginie Devillez, Stefan Huygebaert, Wendy Van Hoorde, Dominique Savelkoul, Sophie Kervran, Thérèse Thomas, Sylvie Patry, Laurence Brogniez, Barbara Caspers, Eric Min, Mireille de Lassus, Marjan Sterckx und Linda Van Santvoort, Dominique Bauer und Stijn Paredis sowie Benoît Goffin und Ludovic Recchia.
Verfügbar in Niederländisch, Französisch und Englisch.
Verlag Hannibal, Einzelhandelspreis: € 49,95
Berlinde De Bruyckeres eindrucksvolle Arbeit im Mu.ZEE, Foto: Petra Kammann
Anna Boch und die Verbindung zur permanenten Sammlung im Mu.ZEE
In der Dauerausstellung schlägt Mu.ZEE stets eine Brücke zu den Wechselausstellungen. Die Verbindung zu Anna Boch zieht sich dieses Mal durch die gesamte Sammlung. Eine Reihe starker Künstlerinnen wie Berlinde De Bruyckere und Ria Pacquée, aber auch Liliane Vertessen – die mit einer Serie von Selbstporträts aus den 1980er Jahren einen ganzen Raum einnimmt – finden in der aktuellen Ausstellung besondere Beachtung. Es gibt auch kleine Hommagen an Anna Boch! Beispielsweise gibt es eine wunderbare Serie von Werken einiger ihrer Zeitgenossinnen Anna De Weert und Juliette Wytsman-Trullemans.
Wie bei Boch selbst sind auch ihre Werke in lebhaftes Licht und Farben getaucht. Schließlich deutet eine Auswahl von Werken der aus Ostende stammenden Malerin Euphrosina Beernaert aus dem 19. Jahrhundert darauf hin, dass sie – als eine der ersten Lehrerinnen – Anna Boch insbesondere in die technische Seite der Malerei einführte.
ÜBERNACHTUNGSTIPP:
Der perfekte Ort, um die belgische Küste zu entdecken. Zwischen Stadt und ruhigen Poldern, etwa 800 m vom Meer entfernt. Ein gemütliches Familienhotel zwischen Ostende und Mariakerke
Hotel Kruishof
Kruishofstraat 1
8400 Ostende