„Die ersten Menschen“. Oper von Rudi Stephan in der Oper Frankfurt
Eine zerrissene, bereits aus dem Paradies vertriebene Familie
von Renate Feyerbacher
Was für ein Abend in zweifacher Hinsicht: Eine Opern-Rarität in grandioser Inszenierung von Tobias Kratzer – und vorzüglicher stimmlicher Interpretation von Andreas Bauer, Kanabas, Ambur Braid, Iain MacNeil und Ian Koziera und noch die Verabschiedung des Dirigenten Sebastian Weigle, der 15 Jahre als Generalmusikdirektor an der Oper Frankfurt wirkte und mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester wieder ein Musik-Erlebnis kreierte. Der begeisterte Beifall war entsprechend lang andauernd.
Sebastian Weigle, das Orchester, die Solisten – rechts am Rand: Intendant Bernd Loebe und Oberbürgermeister Mike Josef, Foto: Ilona Heymann-Marschall
Selbst Musikengagierte und -freunde kennen den Namen des Komponisten Rudi Stephan (1887-1915) nicht. Der in Worms geborene Komponist aus betuchter Juristen-Familie durfte mit Erlaubnis der Eltern das Gymnasium verlassen und Studien bei dem Frankfurter Komponisten Bernhard Sekles am Hoch’schen Konservatorium aufnehmen. Ein Jahr später wechselte er nach München, wo er die Musik von Richard Strauss, Arnold Schönberg und Max Reger kennenlernte. Sie waren für ihn Randfiguren, denn er wollte seinen eigenen Stil entwickeln. Das ist ihm gelungen.
Ende 1914 hatte die Frankfurter Oper bereits signalisiert, Stephans Werk „Die ersten Menschen“ uraufzuführen. Rudi Stephan rechnete damit, dass der Krieg dann zu Ende gewesen wäre. Er irrte sich. Noch mit 28 Jahren – im März 1915 – wurde er zum Heeresdienst verpflichtet. Im September musste er an die Front und wurde nach wenigen Tagen durch Kopfschuss getötet.
v.l.n.r. Andreas Bauer Kanabas (Adahm), Ambur Braid (Chawa; sitzend) und Ian Koziara (Chabel), Foto: Matthias Baus / Oper Frankfurt
Die Frankfurter Oper aber hielt Wort und brachte das Werk am 1. Juli 1920 zur Uraufführung. Das sind fast auf den Tag genau 123 Jahre her. Danach gab es mehrfach Aufführungen in anderen Städten, auch nach dem Krieg. Zuletzt hatte Calixto Bieto das Werk 2021 in Amsterdam auf die Bühne gebracht.
Die Bücher des Darmstädter Schriftstellers Kasimir Edschmid (1890-1966), gestorben in der Schweiz, beerdigt in Darmstadt, wurden von den Nazis verbrannt, schrieb über seinen Freund Rudi Stephan: „Er wird die bedeutendste musikalische Kraft des jungen Deutschland gewesen sein.“ (Programmheft S. 25)
Für Paul Scheinflug (1875-1937), Komponist und Dirigent, war Rudi Stephan ein Hoffnungsträger: „Er war derjenige, welcher berufen war, alles Tastende in der modernen Musik zu einem großen künstlerischen Werk zu sammeln und ihr eine neue Richtung zu geben.“ (Programmheft S. 14)
Wolfgang Fuhrmann, Professor für Musiksoziologie und -philosophie, titelt im Programmheft: „Eine Kraft, die zum Ausßerordentlichen berufen war.“
Stephan schaffte es, die klare Handlungslinie, aber das schwülstige Libretto von Otto Borngräber (1774-1916), von dem Freunde hatten ihm abgeraten hatten, musikalisch zu veredeln. Der Dramatiker-Monoist (Freidenker) und Pazifist hatte 1908 sein „Erotisches Mysterium“ Die ersten Menschen geschrieben. Das Drama wurde nach der Uraufführung in München wegen seiner inzestuösen Handlung und erotischen Sprache verboten.
Die biblische Vorlage von den ersten Menschen Adam, Eva, Kain und Abel erzählt Borngräber in einer veränderten Version. Die Familie, deren Mitglieder nun hebräische Namen tragen – Adahm, Chawa, Kajin, Chabel – , wurde aus dem Paradies vertrieben und lebt in einer Art Bunker, die Wände voller Konserven-Vorräte. Sie leben wie die Prepper, die horten, um für die nächste Katastrophe vobereitet zu sein. Und die kommt.
Familiäres Alltagsleben. Adahm hat sich nach der Vertreibung aus dem Paradies verändert. Er sucht seinen Sinn in der Arbeit, während Chawa sich nach seiner Liebe sehnt und hofft, mit ihm noch ein Kind zu zeugen. Ihren ältesten Sohn Kajin fürchtet die Mutter. Seine Triebe sind erwacht und er schweift in der Wildnis umher, um ein Weib zu finden. Arbeiten lehnt er ab. Mutter Chawa ist die einzige Frau in dieser Welt und er begehrt sie.
Dem jüngeren Sohn Chabel hat sich ein allmächtiger Gott offenbart. Kajin macht sich lustig über den Religionswahn, dem auch Adahm und Chawa verfallen. Kajin will verhindern, dass Chabel dem Gott ein Schaf opfert. Vergeblich. Entsetzt flieht er in die Wildnis. Die vierköpfige Familie kann ihre Konflikte nicht lösen. Es gibt keine anderen Bezugspersonen.
Der renommierte Regisseur Tobias Kratzer, hatten 2018 an der Oper Frankfurt mit Meyerbeers L‘Africaine debütierte, er inszenierte später Verdis La forza del destino. Wagners Tannhäuser in Bayreuth wurde 2019 noch in diesem Jahr bejubelt und er wurde zum „Opernregisseur des Jahres“ gewählt. 2025 wird er Intendant der Hamburgischen Staatsoper.
Kratzer und sein Team: Rainer Sellmaier Bühnenbild und Kostüme, Joachim Klein Licht, Manuel Braun Video, sie alle erzählen faszinierend, spannungsreich letztlich die Tragödie der „letzten Menschen“. Der Zweite Aufzug macht die Katastrophe sichtbar.
v.l.n.r.: Ambur Braid (Chawa; im Auto), Ian Koziara (Chabel; unten)und Iain MacNeil (Kajin; oben), Foto: Matthias Baus / Oper Frankfurt
Die große Zerstörung der Welt ist Metapher für den Zustand der zerstrittenen Familie, in der der Brudermord vorprogrammiert ist.
Der Streit der Brüder entfaltet sich nicht im Gottesopfer, wie es in der Bibel steht. Er steigert sich in der Oper als Kajin hört, wie Chabel die Schönheit seiner Mutter Chawa preist. In Kajin, der seine Mutter auch begehrt, brodelt die Eifersucht. Und als er Chawa und Chabel beim Liebesspiel in dem Autowrack erwischt, tötet er seinen Bruder.
Chawa verlangt Rache, aber Adahm, der zu spät aus der Bunkertiefe hochkam und den Mord verhindert hätte, plädiert für rationale Vernunft. Chawa und Adahm finden wieder zueinander. Adahm hofft, dass ein neuer Tag eine bessere Zukunft bringt.
„Wie soll eine Welt jemals glücklich, friedvoll, positiv beherrschbar werden und auf völkerrechtlicher Ebene zu einem geregelten Miteinander finden, wenn es schon im Mikrokosmos der Familie nicht klappt, vier Personen ohne Konflikt an einen Abendbrottisch zu bringen?“ , so Tobias Kratzer im Gespräch mit Bettina Bartz und Konrad Kühn, Dramaturgie (Programmheft).
Ambur Braid, Ian Koziara, Iain MacNeil am 18.6.23 Oper extra, Foto: Renate Feyerbacher
Großartige Stimmen interpretieren Rudi Stephans Oper: Andreas Bauer Kanabas gibt seine Bassstimme eindrücklich Adahm, Ambur Braid entlockt ihrer Sopranstimme klare, höchste Töne. Wunderbar. Bariton Iain MacNeil wütet überzeugend als Kajin. Alle drei gehören dem Ensemble der Oper Frankfurt an. Alle drei sind ausgezeichnet und weltweit engagiert.
Der junge US- amerikanische Tenor Ian Koziara gab 2018/19 an der Oper Frankfurt sein Europa – Debüt. Er singt Chabel einfühlsam, menschlich – eine ausdrucksvolle Stimme. Alle Vier begeistern auch durch ihr differenziertes, hinreißendes Spiel.
Last but not least das groß besetzte Frankfurter Opern- und Museums Orchester, das Sebastian Weigle wie gewohnt so souverän wie einfühlsam und forcierend führt. Er, der zu den großen der Dirigenten-Zunft gehört, beendet seine Zeit als Generalmusikdirektor an der Oper Frankfurt, wird ihr aber treu bleiben.
Zuvor hatte sich Sebastian Weigle am 18./19.6. vom Konzertpublikum mit Bruckners sensationeller 9. Sinfonie Te Deum in der Alten Oper verabschiedet. Mit dabei waren die vier Frankfurter Chöre: der Cäcilienchor, der Figuralchor, die Frankfurter Kantorei und die Frankfurter Singakademie sie die Solistinnen der Oper Frankfurt Monika Buczkowskaund Zanda Svede und die Solisten AJ Glueckert und Kihwan Sim
Ein nicht enden-wollender Jubel.
Sebastian Weigle am 19. Juni, in der Alten Oper, Foto; Renate Feyerbacher
Dieser sensationellen Opernabend „Die ersten Menschen“, deutsch gesungen mit englischen Übertiteln, ab 16 Jahre empfohlen, sollten Opern- und Musikinteressierte nicht verpassen.
Weitere Vorstellungen im Juli:
am 12., 15., 17. Juli und zum letzten Mal in dieser Saison am 20. Juli 2023.
Telefonischer Kartenverkauf 069 212 – 49 49 4