Joachim Gauck plädiert im „Forum der Demokratie“ für kämpferische Toleranz
Sein politisches Ziel:
Streiten für die Freiheit – Aktueller Bezugspunkt: der Ludwig-Börne-Preis
Von Uwe Kammann
Streit sei keine Eskalation, sondern die „Normalität in einer heterogenen Gesellschaft der Vielfalt“, so unterstrich es gerade doppelt und dreifach der jüngste Träger des Luwig-Börne-Preises, Robert Habeck – übrigens der erste amtierende Politiker, der im Namen des großen Publizisten ausgezeichnet wurde. Nun, im letzten Jahr fand Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig, dass nicht jeder streitbare Geist den Preis verdient hätte – jedenfalls nicht der Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, Eric Gujer. Und so blieb sie – die selbst zuvor im Umlaufverfahren dem Beschluss des Vorstands der Börne-Stiftung zugestimmt hatte, Leon de Winter als alleinigen Juror mit der 2022-Wahl zu beauftragen – demonstrativ und mit klarem Distanz-Signal der Preisverleihung fern. Und forderte angesichts der ihr unliebsamen Auszeichnung zugleich eine Änderung des Preisverfahrens.
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck und Prof. Dr. Ulrike Ackermann, Foto: Petra Kammann
Gibt es also Grenzen des Streits, Zonen des Nicht-Streitbaren, wenn schon, pars pro toto, beim Börne-Preis eine harsche Kritik von außen reichte (hier kam sie vor allem markant-militant vom Politolgen Claus Leggewie), um Preisträger als unliebsam – schlechter noch: als eigentlich undiskutabel – zu deklarieren, sprich: zu diskriminieren? Nun, bei Robert Habeck passierte dies nicht, jedenfalls nicht im intern beteiligten und verantwortlichen Kreis. Bei ihm protestierten draußen vor dem Verleihungsort, der Paulskirche, laut Beobachtung der „taz“, „rechtslinke Reaktionäre“, um den Wirtschafts- und Klimaminister „der Ökodiktatur, des Kriegstreibens, der sozialen Verelendung und was sonst noch alles zu bezichtigen“.
Was hätte Joachim Gauck, 2011 selbst Preisträger im Namen Börnes, sowohl zu Ina Hartwigs Rückzieher als auch zu solch’ giftigem Protest gesagt? Nun, er hat sich konkret zu diesen Fällen natürlich nicht geäußert. Aber im größeren Rahmen – jenem, in dem sich gesellschaftlicher Streit ausmessen lässt – hat er in der Woche zuvor nicht mit klaren Worten gegeizt. Denn in der Reihe „Forum der Demokratie“ der „Frankfurter Bürgerstiftung“ lag ihm vor allem eines am Herzen: einer von ihm vielerorts konstatierten Verzagtheit, basierend auf vielfältigen Ängsten, eines entgegenzusetzen: das unbedingte Vertrauen auf die Basiseigenschaften des Mutes – und auf das unerschütterliche Festhalten am Grundwert der Freiheit.
Immer wieder umkreiste Gauck – im Gespräch mit der Soziologin und Politologin Prof. Dr. Ulrike Ackermann, welche dieses „Forum der Demokratie im Frankfurter Bürgersalon“ maßgeblich mit angestoßen und konzipiert hat – diese Hauptmotive seines Denkens und Schreibens (aktuell im Buch „Erschütterungen“). Natürlich gehörte dazu der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, für den Ex-Bundespräsidenten eine tiefe Zäsur, die zum „Ende des Wunschdenkens“ wesentlich beigetragen habe, stärker noch als die anderen großen Krisen, vom Klimawandel bis zur Migration.
Keinen Zweifel ließ er an seiner Positionierung: Natürlich müsse man einen Freiheitsraum „notfalls verteidigen“, in einer Entwicklung, bei der vielen „klarer wird, was unsere Freiheiten wert sind“. Er hat aber auch alte Gegenmodelle noch im Kopf, zitiert aus dem Stegreif die friedensbewegte Parole „lieber rot als tot“. Es sei für viele Menschen nicht einfach, aus den früheren Mustern und den grundierenden Mentalitäten auszubrechen. „Die Deutschen“, so eines seiner Beispiele, „mögen Angst, und das weiß Putin“. Sprich, er sucht es sich zunutze zu machen.
Als Gauck über Gegenwartserscheinungen sprach, tat er das immer mit einem weiten Blick über den Tellerrand. Es gehöre zur Gegenwart von gut einem Drittel der Menschen in ganz Europa, eher einer „autoritären Disposition“ zu unterliegen: „Die AfD ist kein deutscher Spezialfall, sondern ist Teil einer gesamteuropäischen Bewegung“.
Joachim Gauck stellte die Freiheit als wichtiges Gut in den Raum, Foto: Petra Kammann
Die Vielzahl und die Vielfalt der Krisen, die Angst vor dem Wandel, das Bedürfnis nach klaren und einfachen Strukturen: Das alles gehöre zu den Erklärungsmustern dieser sich so herstellenden Normalität eines Teils der Europäer, die zunächst einmal ungefährlich sei. Viele dieser so nach Orientierung suchenden Menschen wendeten sich dabei von den traditionellen konservativen Parteien ab, weil sie sich nicht repräsentiert sähen oder fühlten. Diese „Repräsentationslücke“ suchten die Vereinfacher zu nutzen, indem sie die Unzufriedenen sammelten; die sich so animiert fühlten: „Los, wir hauen auf die Pauke.“
Das demokratische Gegenmittel sei eine „kämpferische Toleranz“, und diese Wehrhaftigkeit gelte es nach innen und außen „unter die Leute zu bringen.“ Dass es dabei je nach Lebenserfahrung große Unterschiede geben könne, machte Gauck – in Rostock geboren, als Pastor einer der Mitinitiatoren des kirchlichen und gesellschaftlichen Widerstands gegen die SED-Diktatur – gerade am Beispiel der DDR fest.
Dort habe es, in einer Kontinuität zweier Diktaturen, verfestigte Charakterzüge unter dem Siegel von „Gehorsam und Anpassung“ gegeben, die Kontinuität des Traumas von einem „Nicht-Ich“ in einer unterentwickelten Zivilgesellschaft habe in vielen Fällen zu einem „Dauerfrust“ geführt, das sich noch jetzt auswirke: „In den Seelen der Ostdeutschen herrscht ein anderes Klima“, sie seien imprägniert von einer „Kette von Niederlagen“.
Die Gefahr eines ganz anders gearteten Frustes sieht Gauck auch bei bestimmten Formen einer größeren Bürgerbeteiligung (grundsätzlich: „Wir brauchen sie“) im demokratischen Raum. Dann nämlich, wenn die beispielsweise in Bürgerräten erörterten und entwickelten Ideen von den entscheidenden Institutionen nicht umgesetzt würden. Für das jetzige institutionelle Prozedere spreche allerdings viel: „Mit der repräsentativen Demokratie sind wir ganz gut gefahren.“
Joachim Gauck bedankt sich beim Publikum, Foto: Petra Kammann
Vieles gab Gauck in den knapp anderthalb Stunden im voll besetzten Saal der räumlich gastgebenden Deutschen Nationalbibliothek zu bedenken. Und dies immer in geschliffenen Sätzen, in einer auf Klarheit und Verständlichkeit setzenden Sprache, die im politischen Raum keiner so beherrscht wie er – wobei sie jetzt noch freier, noch frischer, noch unbeschwerter klingt, weil keinerlei diplomatische Rücksichten des Amtes mehr den Hintergrund grundieren oder gar bestimmen können.
Als Fazit war eindeutig zu ziehen: Hier sprach einer mit Überzeugung und mit Überzeugungskraft von der Notwendigkeit, sich gegen eine „Wahrheitsverweigerung“ zu stemmen, die lange auch gerade westdeutsches politisches Denken und Handeln bestimmt habe. Dies sei beispielshaft am Umgang mit den frühen Freiheitsbewegungen in den osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn abzulesen. Die westdeutschen Politiker (und nicht nur sie) hätten in der zweiten Phase der Ostpolitik „die Sichtweise der Unterdrücker angenommen“, das Freiheitsmoment sei „von links und rechts in Frage gestellt worden“ („Ahnungslosigkeit der politischen Klassen“).
Diskussionen im Nachgang mit dem Publikum, hier mit Hans-Joachim Otto, früherer Bundestagsabgeordneter der FDP aus Frankfurt, Foto: Petra Kammann
Jetzt, mit der tatsächlichen Zeitenwende auf der Grundlage von „Erschütterungen, die ans Eingemachte gehen“, müsse man sich von diesem so lange vorherrschenden Wunschdenken verabschieden: „Wir brauchen eine Zeit des Erwachens.“ Dass dazu durchgehend die gleich eingangs gestellte Frage gehört: „Wie mutig sind wir eigentlich?“, dürfte dem sehr aufmerksam zuhörenden Publikum überdeutlich klar geworden sein. Es verabschiedete Joachim Gauck mit mehr als kräftigem, sehr lange anhaltenden Beifall.
Anbei das gesamte aufzeichnete Gespräch auf You Tube: