„Rage und Respekt“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Flammende Phädra, spöttischer Richter, fliegende Artisten
von Simone Hamm
Im eisigen Nachkriegswinter 1946/47 standen die Hamburger Theater vor der Schließung, denn es gab keine Kohle zum Heizen. Sie baten die Zechen im Ruhrgebiet um Hilfe. Die Bergarbeiter luden Kohle auf LKWs, umgingen schlau die Kontrollen durch die Besatzungsmächte. In Hamburg wurde Theater gespielt. Im Sommer 1947 dankten es 150 Schauspieler der Hamburger Bühnen den Recklinghausern. Sie gaben kostenlose Gastspiele „Kunst für Kohle“. Die Ruhrfestspiele waren geboren. Jahr für Jahr kommen Schauspieler, Tänzer, Akrobaten, Schriftsteller und bildende Künstler aus aller Welt nach Recklinghausen. Sechs Wochen lang. Jedes Jahr haben die Ruhrfestspiele ein Motto. In diesem Jahr ist es: „Rage und Respekt“.
„Tempest Project”, Peter Brook und Marie-Hélène Estienne, Théâtre des Bouffes du Nord /Ruhrfestspiele, Foto: Marc Brenner
Alle Aufführungen sind gut besucht. Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen mit ihrer gekonnten Mischung aus Unterhaltungskunst auf hohem Niveau, Klassikern und deren Umschreibungen werden vom Publikum begeistert angenommen.
Die letzte Regiearbeit von Peter Brook, der im vergangenen Jahr 97-jährig in Paris gestorben ist, wird gezeigt: „Tempest Project“. Es ist ein inniger, sehr persönlicher, Shakespeare Abend.
„Pah-Lak“ von Abhishek Majumdar, Foto: Ursula Kaufmann / Ruhrfestspiele
Pah-Lak ist ein Stück über den gewaltlosen tibetischen Widerstand gegen die chinesische Unterdrückung. Das Tibet Theatre und das Tibetan Institut of Performing Art in Dharamsala fragen nach der heutigen Relevanz von gewaltlosem Widerstand.
Politisches kommt auch aus Deutschland. Tugsal Mogul aus Neubeckum / Westfalen erinnert in seinem neuesten Rechercheprojekt an das Attentat von Hanau, bei dem ein Rassist neun Menschen ermordet.
Simon McBurney Complicité zeigen „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ nach einem Roman von Olga Tokarczuk. Es ist ein Krimi, ein Stück über Aktivismus, die Beziehung der Menschen zur Natur und über toxische Männlichkeit.
„Phädra, in Flammen“ von Nino Haratischwili, Regie: Nanouk Leopold, Berliner Ensemble, Foto: IR Berliner Ensemble / Ruhrfestspiele
Um letzteres geht es auch in „Phädra, in Flammen“ von Nino Haratischwili – eine Überschreibung des Phädra Mythos. Und auch um Rage und Respekt. Diese Uraufführung entstand in Zusammenarbeit mit dem Berliner Ensemble.
König Theseus ist alt geworden und will seinen Sohn Demophon zum König machen. Phädra (Constanze Becker) will sich befreien aus dem Regelkorsett des Hofes. Sie ist eine Frau in Flammen, wie im Georgischen eine Frau in den Wechseljahren genannt wird. Phädra ist bitter geworden. 20 Jahre hat sie an der Seite eines Mannes gelebt, der sie nie respektiert hat. Sie hadert mit ihrem Leben, dem König, ihrem Gemahl, der sich nur für die Macht, nicht für die Familie interessiert.
Im Original verliebt sich die unglückliche Phädra in ihren Stiefsohn, der diese Liebe nicht erwidert. Daraufhin nimmt sie sich das Leben.
Nino Haratischwili ist als Romanautorin überwältigend. Sie weiß mit Sprache umzugehen. In „Phädra, in Flammen“ hat sie sich für eine sehr derbe Umgangssprache entschieden. Ebenso grob wie die Sprache ist die Geschichte, die Haratischwilli erzählt, fast ein wenig holzschnittartig erzählt sie von der verzweifelten Königin und ihrem Machomann. Text und Inszenierung lassen wenig Raum für Zwischentöne.
Phädra sitzt, ein Glas Wein in der Hand, allein auf der Bühne und schimpft auf ihren Ehemann. „Bin ich den 20 Jahre lang nicht gut genug darin gewesen, alle meine Sehnsüchte zu amputieren?…War ich nicht genug im „so -tun-als-ob“…Im „mich- ergeben, während in mir der Krieg wütete?“ Constanze Becker spielt diese grobe Phädra großartig, ihr Gegenüber Oliver Kraushaar ist der polternde Macho Theseus. Hier ist Phädra nicht erhaben, nicht tragisch.
Die Regisseurin Nanouk Leopold kommt vom Film. Auf dreigeteilten Leinwänden sind Videos von Sandlandschaften und kühlen Bauten zu sehen. Davor ein Bassin voller rotem Sand. Kühler Hintergrund, flammend roter Vordergrund. Das Außen-, und das Innenleben Phädras.
Bei Nino Haratischwili ist es nicht der Stiefsohn, sondern die zukünftige zukünftige Schwiegertochter, die der Königin den Kopf verdreht. Persea (Lili Epply) verkörpert ein anders Leben. Sie ist eine ungestüme junge Frau, die mit Phädras ältestem Sohn Demophon (Maximilian Diehle) verheiratet werden soll.
Die ungleichen Frauen verlieben sich ineinander.
Sie wagen alles und sie verlieren alles. Der fudamentalistische Hohepriester Panopeus (Paul Herwig) wird die Gelegenheit nutzen, die Königin, ja das ganze Reich zu zerstören. Er führt die Menschenopfer wieder ein. Und das erste Opfer ist Persea. Sie wird von den Hunden zerrissen, die Phädras Lieblingssohn Acamas (Paul Zichner) einst liebevoll großgezogen hat. Phädra muss das mitansehen. Acamas vergiftet die Hunde. Phädra wird schreiend in Flammen aufgehen.
„Der zerbrochne Krug”, Regie: Anne Lenk, Deutsches Theater Berlin, Ruhrfestspiele, Foto: Arno Declair
Toxische Männlichkeit auch in Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“, das Schauspieler des deutschen Theaters Berlin aufführen. Ganz anders inszeniert Anne Lenk. Behutsam, fein, witzig, hintergründig.
Wandhoch prangt ein Stilleben an der Wand – mit Trauben, Granatäpfeln, Austern und Schinken und einem großen Papagei – ein Bild aus dem Jahre 1655, das Original gemalt von Jan David van Hem. Davor elf Stühle auf denen orange und hellrot gekleidete Schauspieler in Kleidern der siebziger Jahre sitzen. (Bühnenbild: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum)
Der Dorfrichter Adam führt eine Gerichtsverhandlung. Frau Martha will den bestrafen lassen, der ihren Krug zerbrochen hat. Doch es geht um weit mehr. Sie hat ihre Tochter Eve mit ihrem Freund Ruprecht erwischt, wie sie zwischen den Scherben standen. Folglich muss Ruprecht der Täter sein. Krug zerbrochen, Tochter geschändet. Richter Adam will kurzen Prozeß machen. Ruprecht (Tamer Tahan), gleichermassen polternd eifersüchtig wie naiv, beteuert seine Unschuld, ein anderer sei’s gewesen, er hätte ihn aus Eves Fenster springen sehen und ihm noch zwei Hiebe mit der Türklinke auf den Kopf gegeben.
Der Dorfrichter Adam trägt keine Perücke und gut sichtbar hat er zwei dicke blutverkrustete Schrammen am Kopf. Er sei, so erklärt er es dem nur scheinbar naiven Schreiber (Jeremy Mockridge), am Morgen aus dem Bett gestürzt. „Der erste Adamsfall, / den ihr aus einem Bett hinaus getan“, erwidert der. Er hat Richter Adam längst durchschaut und hofft auf dessen Posten.
Ulrich Matthes spielt den Dorfrichter von Huisum stolz und kühn, er ist sich keiner Schuld bewusst. Er lächelt verschmitzt, glaubt, alles in der Hand zu haben, räkelt sich im verschwitzten Unterhemd und schmutzigen Jogginghosen.
Anne Lenk hat die wunderbare Kleist’sche Sprache beibehalten, ist der Versuchung nicht erlegen, die Sprache zu modernisieren. Das gibt einen herrlichen Gegensatz zur bäuerischen, tölpelhaften Gesellschaft von Huisum. Sie hat kaum etwas geändert an dieser #metoo Geschichte aus dem 19. Jahrhundert.
Bei Kleist ist es noch ein Gerichtsrat, der auf dem Lande in den Gerichtssälen der Niederlande nach dem Rechten sieht und nach Huisum kommt. Bei Anne Lenk ist es die selbstbewusste hochschwangere Gerichtsrätin Walter (Lorena Handschin) mit blonder Topffrisur, die sich nichts vormachen läßt. Sie verschüttet den Wein, den der Richter ihr anbietet und schaut ungerührt zu, wie er sich betrinkt.
Immerhin hat Richter Adam sich zur Verhandlung die rote Robe übergezogen, doch er bleibt derselbe hochmütige, selbstgerechte, anmaßende Mann. Er hatte Eve (LIsa Hrdina) vorgegaukelt, ihren Freund Ruprecht mittels eines Attests vor der Einberufung nach Batavia zu retten. Spätabends bringt er ihr den Schrieb.
Weil sie sich schämt, weil sie glaubt, keine Chance gegen den übergriffigen Tyrannen zu haben, schweigt sie lange. Bis alles aus ihr herausbricht. Und die Nachbarin mit der spitzen Nase (Julia Windischbauer) die Perücke hochhält, die Richter am Abend bei seinem Sprung in die Hecke verloren hat. Der Halunke wird enttarnt. Da verstummt sogar die grobe, laute Frau Marthe (Franziska Machens) mit all ihrem zickigen Gehabe, ihrem Tupperdosengeklappere, ihren Schnapsgläschen.
Zwischen den Szenen wird es stockdunkel, Jazztrommeln zerreißen die Stille (Musik: Lenny Mockridge).
Bis ins kleinste Detail ist Anne Lenks Inszenierung stimmig, klug und präzise. Und bis ins kleinste Detail hinein überzeugen die Schauspieler. Immer neu gruppieren sie sich auf den Stühlen. Ohne Worte zeigen sie, wer sie sind: Richter Adam, der sich gleich auf drei Stühlen ausbreitet, mit einem schmierigen, überheblichen Lächeln auf den Lippen. Ruprecht und Eve, weit entfernt voneinander sitzend, werfen sich scheue Blicke zu.
Anne Lenk zeigt ein Stück über den, der die Macht missbraucht und diejenigen, die viel zu lange hilflos zusehen und über die Missbrauchten, die lange schweigen. Sie moralisiert nicht. Sie dämonisiert nicht. Sie beschwichtigt nicht. Sie beruhigt nicht. Kleist, daran erinnert sie in jedem Augenblick, hat eine Komödie über ein sehr ernstes Thema geschrieben.
„Humans 2.0” Circa Contemporary Circus, Photo by David Kelly, Ruhrfestspiele
Bei dieser Inszenierung wird viel gelacht im Publikum.
Viel Zirkus ist zu sehen bei den Ruhrfestspielen. In PLI lassen die Bildhauerin Domitille Martin und der Papierkünstler Alexis Mérat Landschaften wachsen, die dann zerknüllt und zerknittert werden, ehe Neues aus ihnen entsteht. Die israelische Zirkuskünstlerin Inbal ben Haim hängt Kopfüber an einer meterlangen Papierschlange.
In „Gregarious“ der Soon Circus Kompanie wetteifern zwei Akrobaten in absurden Wettbewerben miteinander.Beim Collecif Malunés von HOMAN werden der Hühne Vejde Grind und das belgische Federgewicht Vincent Bruyninckx zu rollenden Tieren und hüpfenden Bällen. BARK zeigt Acting vor Climate. Hier ist die Natur die Hauptdarstellerin: Bäume, Blätter, Laub und Erde. Die Artisten tanzen und träumen.
Aus Australien kommt Circa Contemporary Circus mit Humans 2.0. Es fängt an wie eine ganz normale Artistennummer: menschliche Pyramiden, Hebenummern. Aber dann: die Türme aus Menschen zerfallen, immer ekstatischer werden die Akrobaten, sie springen in alle Richtungen, sie fliegen, werden aufgefangen. Das ist ein unglaublich schnelles Spiel von Zuversicht und Vertrauen. Yaron Lifschitz führt Regie bei diesen wirklich atemberaubenden Zirkusdarbietung.
Das ist neu und aufregend. Und so wird es weitergehen. Mit der Deutschlandpremiere des Jugendtheaters Double You, einer Performance, in die die Zuschauer miteinbezogen werden. Sie sehen nur einen Teil der Vorstellung, sind getrennt durch ein weißes Tuch und fragen sich, was die anderen wohl gerade erleben, wenn sie lachen oder schreien. Mit dem Tanzabend „Nutcrusher“ der Südkoreanischen Choreografin Sung Im Her. Sie zeigt Frauen, wie sie sind, wie sie sein wollen und wie sie wahrgenommen werden.
Auf die Premiere von Macbeth können wir uns freuen, in der Inszenierung von Roger Vontobel, die zusammen mit dem Theatre Bern erarbeitet worden ist. Bei ihm sind die Hexen, die „weird sisters“ die prägenden Figuren. Ist, so fragt der Intendant Olaf Kröck in seinem Vorwort im Programmheft Macbeth das Stück der Stunde?
Nach der Pandemie und angesichts des Krieges in der Ukraine?
Ruhrfestspiele Recklinghausen
Noch bis 11. Juni 2023
Otto-Burrmeister-Allee 1
45657 Recklinghausen
Tel. +49 2361 918-0
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