Das Kronberg-Festival: Lebendige Kammermusik vom Feinsten
Mehr als nur Programm-Etiketten: „Nachtmusiken“ und „Im Salon Schumann“
Von Uwe Kammann
Intensives Gesamterlebnis: Schüler direkt hinter dem lebendigen Brahms-Streichsextett, Foto: Petra Kammann
Ein Ehepaar – sie: Philologin, er: Architekt – war eigens aus Düsseldorf angereist, um den vielen Lobpreisungen auf den Grund zu gehen. Stimmt es denn wirklich, was vielerorts zu lesen war: dass dieser neue Kronberger Saal so anders, so rundum faszinierend sei? Die Gelegenheit war vielversprechend: das große Kammermusikfest im Frühjahr, gleichsam ein Auftakt mit einer Konzentration aller Möglichkeiten, dazu so jung wie vielleicht nie wieder, mit der Einladung an all die ehemaligen Schüler der Akademie, das immer noch nagelneue neue Casals-Forum spielend zu feiern. Und wie fiel das Urteil aus, nach dem dritten Konzert im überaus reich komponierten Programm in der zweiten Maiwoche, voller Werke, Ensembles, Proben, auch einer kleinen Geigenwerkstatt?
Nun, es war ein Urteil wie aus dem Bilderbuch, ein Spiegel des Satzes, der doch in all’ den Aufbruchmonaten zuvor – mit Handwerkereifer noch in den allerletzten Tagen – als Motto dienen sollte: „So haben Sie Musik noch nie gehört“. Und in der Tat, die beiden Gäste, die auf ihren Reisen schon viele der renommiertesten Konzertsäle besucht haben, sagten fast wie aus einem Mund, nach dem Abendkonzert unter dem Genretitel „Im Salon Schumann“: ‚Unglaublich, wunderbar, wir sind begeistert. Denn in der Tat: So intensiv, so unmittelbar, so berührend haben wir Musik noch nie gehört.’
Da war sie wieder, die Erfahrung, die niemand von allen Besuchern anders ausgedrückt hätte, die auch schon beim Eröffnungskonzert sich in den Kritiken widerspiegelte, im beschriebenen Begeisterungssturm nach den Werken von Beethoven, Gideon Klein und Antonin Dvorak: mit welcher vibrierenden Präsenz jeder Ton der Streichinstumente zu erleben ist, wie unmittelbar jeder Anschlag auf dem großen Bechstein-Flügel zum Ohr gelangt, vom feinsten Pianissimo bis zum kräftigsten Forte. Es ist, als ob man jegliche Tonartikulation zum ersten Mal wahrnähme, ‚richtig’ und körperlich hörte. Was schon vielfach, beim ‚Einspielen’ des Saals, als staunendes Lob eines Cellisten zitiert wurde – man fühle sich wie im Bauch eines Streichinstrumentes selbst – wurde wieder beim Hörern bestätigt, fast wie in einer Steigerung der Resonanz. So, nur so ist Kammermusik bis in alle Facetten zu erfahren, wie in einer Geheimformel des Sinnlich-Übersinnlichen.
Einbezogen in das Festival: eine kleinen Geigenbau-Werkstatt im Akademie-Gebäude, Foto: Petra Kammann
Wer beispielsweise am zweiten Abend Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ gehört hat, ein Werk in d-Moll für Streichsextett, wird diese Interpretation nie mehr vergessen. Solche Intensität einer so dramatischen wie unkonventionellen Liebesbeziehung und -empfindung (Schönberg schrieb das Stück zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, nach einem Gedicht von Richard Dehmel, das vor der Aufführung auch vorgetragen wurde), solch’ unaufhörliches Hineingleiten in ein sich steigerndes Gefühl von Unglück und Einsamkeit: Das schlug das Publikum atemlos in den Bann.
So wie es, zum Auftakt, in völlig frischer, dynamischer, federnd-spannungsvoller Form Mozarts „Kleine Nachtmusik“ genossen hatte, eine Premieren-Erfahrung, weit weg von der Musikvernichtung eines ultra-oft abgenudelten Stückes in Milliionen von Aufzügen und Kaufhaus-Kabinen. Der Künstlerische Leiter der Akademie, Friedemann Eichhorn, hatte dieses Überraschungs- und Entschlackungsmoment schon bei der Programmierung und Konzeption des Festivals angekündigt. Und in der schlanken Besetzung – zwei Violinen, eine Viola, ein Cello und ein Kontrabass – wurde sein Versprechen in jedem Takt eingelöst. Wunderbar durchsichtig (wenn die Anspielung auf das Visuelle erlaubt ist), klar strukturiert und kraftvoll: so gewann diese festlich-heitere Feier der Nacht eine ganz neue Kontur.
Während das zweite Stück des Abends, „Trio Elégique“ in g-Moll von Serge Rachmaninoff, tatsächlich zum „gewaltigen Erlebnis“ (Eichhorn) wurde. Es ist ein Werk hoher Intensität, bei dem Violine, Cello und Klavier sich fast fiebrig aufeinander beziehen, in stets neuen Schichtungen einen Grundton des Düsteren variieren, immer weitere melancholische Wendungen ausmessen und sich zu einer Expressivität steigern, welche für einen jungen Musiker wahrlich ungewöhnlich war. Auch hier folgte das Kronberger Publikum gebannt. Wobei nicht wenige der Besucher die Spannungshöhepunkte am Schluss der Sätze schon für den Schluss des Ganzen hielten und in Applausjubel ausbrechen wollten – Zeichen dafür, dass das Festival nicht nur die Kenner und Routiniers des Konzertbetriebs angezogen hat.
Dies war am dritten Abend des Festivals, unter dem einladenden Obertitel „Im Salon Schumann“, nicht direkt zu bemerken. Auch hier wieder, sofort zu spüren: diese Grundstimmung eine hellwachen Aufmerksamkeit, ohne jegliche formale Über-Etikette, sondern offen, neugierig, erwartungsvoll. Diesmal saßen sogar in zwei Stuhlreihen – direkt auf der Bühne, hinter den Musikern – Schüler, so jedenfalls konnte man es aus ihrer typischen Kleiderordnung schließen. Das war einfach sympathisch, zeigt, dass Kronberg keine Musikattraktion lediglich Ü50/Ü60 sein will, sondern ein lebendiges Forum, offen für vielfältige Formen der Vermittlung.
Martin Helmchen im Gespräch mit Friedemann Eichhorn, Foto: Petra Kammann
Dass Friedemann Eichhorn bei beiden Konzerten ein kleines Gespräch auf der Bühne inszenierte – einmal mit dem Cellisten Benedict Kloeckner, dann mit dem Pianisten Martin Helmchen –, geht in dieselbe Richtung. Das hatte nichts Anbiederndes, nichts vom Anpeilen der berühmt-berüchtigten Augenhöhe, sondern es war einfach ein zusätzliches Element, das mit einem zentralen Anliegen der Akademie – nämlich Musik im Geiste Casals als etwas Grundmenschliches zu begreifen – zu tun hat.
Aber so konnte man fast beiläufig erfahren, dass jemand wie Kloeckner, ein ‚Kronberger’ der ersten Stunde, geradezu aufgesogen hat, dass er im Kreis der Studenten gelernt hat, „eine gemeinsame Vision zu entwickeln.“ So wie Martin Helmchen überzeugend darlegte, wie wichtig es ihm ist, den Akademie-Grundgedanken der sozialen Öffnung zu vermitteln und zu leben: Musik eben nicht im abgeschlossenen Raum des herkömmlichen Publikums, sondern als Resonanzraum auch für andere Gruppen des Alltags, auch jenen, die mit einem Handicap leben.
Den Auftakt dieses der Romantik gewidmeten „Salon Schumann“ bestimmte ein ganz eigener Streichquartett-Akzent des Spielerischen, das Capriccio e moll, op. 81. Zwei Violinen, eine Viola und ein Violoncello entfalten einen hell getönten Zauber, klar strukturiert, in einer untergründig eher heiter getönten Romantik, welche die vier Musiker im feinen Spiel entwickelten.
Begeisterten mit einem Schumann-Klavierquintett: Irène Duval, Martin Helmchen, Wenting Kang, Marie-Elisabeth Hecker, Foto: Petra Kammann
Von ganz anderem Kaliber dann das Klavierquartett Es-Dur von Robert Schumann. Es war einfach atemberaubend, in welch klarer, bestens austarierter Form hier Martin Helmchen und Irène Duval die sowohl gegenläufigen als auch sich begegnenden und umschmeichelnden Partien von Klavier und Violine aufeinander bezogen, mit immer neuen Akzenten, so überraschend wie selbstverständlich. Und wie parallel, mit gleicher Intensität, Wenting Kang (Viola) und Marie-Elisabeth Hecker (Cello) dieses reife Stück aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem homogenen Ganzen formten, dessen einzelne Linien dabei gleichwohl immer genau zu verfolgen waren. Auch hier also: Kammermusik vom Feinsten, durchhörbar in allen ihren kompositorischen Feinheiten.
Die Cellistin Harriet Krijgh, Foto: Petra Kammann
Nicht anders dann beim letzten Stück des dritten Festival-Abends, dem Streichquartett Nr. 1 in B-Dur op. 18 von Johannes Brahms. Es zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass hier zwei Bratschen eine ganz besondere Tonalität entwickeln, schmeichelnd, zärtlich, fast gesanglich, auch lieblich. Dabei ist das Streichquartett aber weit entfernt von einer lediglich auf Effekte setzenden Melodieseligkeit. Zu erleben ist also kein ‚schwerer’ Brahms, sondern einer, der sich für klare, warme, auch ins Tänzerische hinüberspielende Linien entscheidet – und der dabei, bei aller Klarheit, eine schwebende Homogenität erreicht.
Auch hier wieder ein mehr als herzlicher, mithin: ein begeisterter Schlussapplaus mit vielen Bravos. Und alle, wirklich alle der jungen Musiker (Parität braucht nicht beschworen zu werden: die ist einfach da) sind dem Publikum sofort ans Herz gewachsen, mit ihrer Spielfreude, mit ihrer überragenden Klang-Qualität, mit ihrer hohen Präsenz, fern aller Konzertroutine.
Diesmal war auf der Bühne dazu noch ein visueller Glanzpunkt zu bewundern: das blauglänzende Kleid von Harriet Krijgh, international vielfach gefeierte Cellistin. Ansonsten scheinen sich die jungen Musiker, das war an beiden Abenden zu sehen (kleine Ausnahmen inbegriffen), stillschweigend auf einen Garderoben-Grundton geeinigt zu haben: schwarz, das kontrastieren darf mit weiß. Nun, das liegt ja auch nah: Jede Klaviertastatur begnügt sich mit diesem Farbenspiel.
Dezente Eleganz: Blick in das Foyer des Casals-Forums, Foto: Petra Kammann
Was im neuen Casals-Forum, das sich nicht zuletzt im Foyer farblich sehr dezent gibt, aber immer wieder mitteilt: Kammermusik zeigt sich hier von einer ungemein vielstimmigen Farbigkeit, und dies in allen Nuancen. Deshalb darf das Grundmotto einfach ergänzt werden: So schön haben Sie Musik noch nie gesehen.