home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ im Kunstforum Ingelheim

Von der fließenden Linie zur kantigen Bildsprache

Von Hans-Bernd Heier

Werke von Ernst Ludwig Kirchner, dem bedeutendsten und produktivsten Vertreter des deutschen Expressionismus, waren bereits einige Male im Kunstforum Ingelheim zu bewundern. Erstmals aber wird Kirchners künstlerisches Schaffen in einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim präsentiert. „Ziel der Schau ist es“, so Dr. Ulrich Luckhardt, Leiter der von Boehringer finanzierten Internationalen Tage in Ingelheim, „Kirchners künstlerisches Werk und Leben mit prägnanten Beispielen von höchster Qualität sichtbar zu machen“. Zu sehen sind herausragende Werke aus öffentlichen wie privaten Sammlungen in Deutschland und der Schweiz.

Ernst Ludwig Kirchner, „Dodo mit japanischem Schirm“, 1909, Farblithografie, 38 x 32,5 cm; Privatsammlung

Unter dem schlichten Titel „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ gewähren über 90 Werke – Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafiken und einige beispielhafte Gemälde – in chronologischer Hängung Einblicke in die wichtigsten Schaffensphasen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland. Mit den Ortswechseln gehen bei Kirchner nicht nur auffälliger Wechsel der Sujets, sondern häufig stilistische Veränderungen einher.

Bei der Auswahl konnten die Kuratoren aus dem Vollen schöpfen. Denn der experimentierfreudige Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) hat neben einem umfangreichen malerischen Werk über 17.000 Zeichnungen und rund 2.000 druckgrafische Arbeiten hinterlassen. Da das Kunstforum wegen der begrenzten Ausstellungsfläche zu klein, um den vielen Facetten in Kirchners Werk auch nur annähernd Rechnung zu tragen, haben die Kuratoren eine den Räumlichkeiten angepasste Dramaturgie entwickelt und Kirchners Werk in fünf entscheidende Werkphasen gegliedert. Ausgewählt wurden Motivgruppen, denen sich Kirchner in der jeweiligen Entstehungszeit besonders intensiv widmete und die seine thematische wie stilistische Entwicklung exemplarisch verdeutlichen.

Ernst Ludwig Kirchner wurde als ältester von drei Söhnen 1880 in Aschaffenburg geboren. Da sein Vater als Ingenieur in der Papierbranche häufig beruflich versetzt wurde, waren damit entsprechende Ortswechsel verbunden. 1886 zog die Familie nach Frankfurt am Main, wo Ernst Ludwig auch eingeschult wurde. Ein Jahr später ging es nach Perlen bei Luzern und 1890 nach Chemnitz, wo Ernst Ludwig 1901 das Abitur machte. Danach beginnt er ein Architekturstudium an der Technischen Universität Dresden. Im Wintersemester 1904 wechselt er nach München. Parallel zum Architekturstudium besucht er eine private Kunstschule, an der er Kompositionslehre und Aktzeichnen lernt.

„Selbstbildnis mit Model“, 1910, farbige Kreiden, 60 x 49,4 cm; Privatsammlung Süddeutschland, courtesy Thole Rotermund Kunsthandel, Hamburg

Zurück in Dresden lernt Kirchner die Kommilitonen Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff kennen. Die vier verbindet großes Interesse an Kunst und die gemeinsame Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln außerhalb des Akademiebetriebs. Noch vor Kirchners Abschluss als Diplomingenieur gründen die vier am 7. Juni 1905 die „Künstlergruppe Brücke“. Deren ein Jahr später formuliertes Programm schnitzt Kirchner in Holz.

1.Station: Dresden. Das Atelier als Ort der Freiheit

Fernab der Akademie und deren Bildtradition suchen die jungen Brücke-Künstler nach mehr Lebensnähe in der Kunst. In Kirchners Atelier beginnen die jungen Brücke-Künstler mit den sogenannten „Viertelstundenakten“. Das rasche Zeichnen von ungestellten Momenten mit ihren Freundinnen und Freunden praktizieren sie auch im Freien.

Ab 1908 sind für Kirchner weibliche und männliche Akte, die sich ungezwungen im (Wohn-) Atelier bewegen und dort spontan gezeichnet werden, Impuls einer sinnlich erfahrbaren Welt. Eine wichtige Rolle zwischen den kleinen, intimen Darstellungen und den späteren Gemälden spielen dabei großformatige Zeichnungen und Holzschnitte. Kirchner wählt bewusst unprofessionelle Modelle aus seinem Umfeld, wie etwa seine damalige Lebensgefährtin Doris Grosse, genannt Dodo. Motive sind ebenso die Schwarzen Milly und Sam, die vermutlich in einer »Völkerschau« in Dresden arbeiteten, oder die beiden minderjährigen Mädchen Fränzi und Marcella, die auch den anderen Künstlern Modell stehen.

„Straßenszene“, 1913, Tusche, 51 x 38 cm; Privatsammlung Hamburg

2. Station: Berlin. Straßenszenen

Im Herbst 1911 zieht Kirchner nach Berlin, andere Brücke-Mitglieder folgen ihm. Mit dem Umzug in die Reichsmetropole vollzieht sich bei dem Künstler eine deutliche stilistische Veränderung. Er ist fasziniert von der Dynamik und Modernität der Hauptstadt. Seine Bildsprache wird kantiger. Unter dem Einfluss des hektischen Treibens auf den Straßen werden die bisher fließenden Linien kantig und spitz. „Der seismografisch ausschlagende Strich scheint nicht nur die innere Unruhe des Künstlers, sondern auch ein allgemeines Lebensgefühl zu artikulieren: die Unrast und Reizbarkeit des modernen Großstadtmenschen. Kirchner notiert die drangvolle Enge auf den Boulevards, darin die Verstrickungen von Kokotten und Freiern“, erläutert Co-Kuratorin Dagmar Lott.

„Kokotten am Kurfürstendamm“, 1914, Lithografie, 50,5 x 59,5 cm; Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

3. Station: Fehmarn. Einheit von Mensch und Natur

Zum Ausgleich des hektischen Großstadt-Lebens entflieht Kirchner in den Sommerwochen von 1912 bis 1914 in die exotische Idylle der Ostseeinsel Fehmarn. In Staberhuk, an der einsamen Südostkante der Insel, sieht er seine Vorstellungen von der friedvollen Verbindung des Menschen mit der Natur verwirklicht. Das bisweilen raue Wetter und das Treiben der Badenden inspirieren Kirchner zu einer großen Anzahl von Zeichnungen und Druckgrafiken, die laut Luckhardt, „zum wichtigsten Teil seines gesamten Schaffens zählen“.

„Strand auf Fehmarn“, 1912, Aquarell über Bleistift, 45,9 x 58,5 cm; Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Die üppige wilde Vegetation, die sich ständig verändernden Wetterverhältnisse und die Menschen, die sich der Natur anpassen, wie auch die Badenden verbindet Kirchner zeichnerisch zu einer Einheit. Ähnlich wie im Dresdner Atelier entstehen auf Fehmarn intime und ungezwungene Beobachtungen, häufig auch von seiner neuen Lebensgefährtin Erna Schilling.

„Mann und Frau am Strand bei aufgehendem Mond“, 1914, Holzschnitt, 34,4 x 23,5 cm; Städtisches Museum Braunschweig (Foto: Dirk Scherer)

4. Station: Krise

Zurück in Berlin plagen Kirchner Ängste, für den Kriegsdienst eingezogen zu werden. Er greift verstärkt zum Absinth und nimmt zur Beruhigung Schlafmittel und Morphium. In der Hoffnung, die Waffengattung selbst wählen zu können, meldet er sich freiwillig zum Wehrdienst. Bereits während der Ausbildung muss er jedoch den Dienst aufgrund seiner physischen und psychischen Leiden abbrechen; er wird freigestellt und schließlich dienstuntauglich erklärt.

Zu seiner äußerst prekären Verfassung dürfte wohl auch das Auseinanderbrechen der Brücke-Gruppierung beigetragen haben. 1913 hatte der selbstbewusste Kirchner die „Chronik der Brücke“ verfasst, in der er sämtliche Innovationen der Gruppe sich selbst zuschreibt. Darauf kommt es im Mai zur Auflösung der Künstlervereinigung

„Selbstbildnis (zeichnend)“, 1916, Radierung, 40,4 x 30,8 cm; Privatsammlung

Kirchner stürzt in eine schwere psychische Krise, die eine Zäsur in seiner Kunst darstellt. Als Patient der Sanatorien in Königstein und im Schweizer Kreuzlingen dokumentiert der Künstler mit erschütternden  Selbstbildnissen seine desolate innere Verfassung. Es entstehen Zeichnungen und Druckgrafiken, in denen er seinen Zustand als Kranker und Gefährdeter eindringlich reflektiert. Symbolhaft dafür steht auch die Folge der farbigen Holzschnitte zu Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, die in der Ingelheimer Schau zu sehen ist.

Trotz seiner Krankheit hält der Künstler weiter Kontakt zu wichtigen Sammlern und Galeristen. Kirchners Werke verkaufen sich gut und er kann finanziell ein auskömmliches Leben führen. Mit dazu beiträgt unter anderem der renommierte Frankfurter Galerist Ludwig Schames, der dem Maler und Bildhauer 1916 eine Einzelausstellung widmet, der wegen des Erfolgs vier weitere folgen sollten. In der Mainmetropole lebte auch der wohlhabende Chemiker Carl Hagemann, ein großzügiger Kunstsammler und Mäzen, der eine beachtliche Kollektion an Kirchner-Arbeiten erworben hatte.

5. Station: Davos. Die neue Lebenswelt

Mit dem ersten Aufenthalt im schweizerischen Davos im Sommer 1917 verändert sich Kirchners Situation grundlegend. An Beinen und Händen zeitweise gelähmt verbringt er zur Erholung einige Wochen auf der hochgelegenen Stafelalp. Er ist höchst beeindruckt von der monumentalen Gebirgslandschaft und auch von der Arbeit der Bauern, die sich als Nachbarn um den Künstler kümmern. Die Bergwelt und das Leben der Bauernfamilien mit ihren Tieren inspirieren ihn zu einem eigenständigen Spätwerk.

„Ansicht der Stafelalp“, 1919, Bleistift, Aquarell, 38 x 50 cm; Privatsammlung

Mit der endgültigen Übersiedlung in die Umgebung von Davos im folgenden Jahr findet Kirchner zu neuer Schaffenskraft und zu Motiven, die sein Naturerlebnis und die Beziehung zu den Einheimischen ins Zentrum rücken. „Kirchners Stil beruhigt sich und eine neue Farbigkeit hält Einzug“, so das Fazit der Ko-Kuratorin Lott. „Seine Landschaftspanoramen zeigen das Erlebnis von Erhabenheit und Größe der Natur, die ungewöhnlichen Lichterscheinungen gibt er als kosmische Erfahrung wieder. Zugewandt und würdevoll porträtiert Kirchner seine neuen Nachbarn“.

Die Fotoserie zeigt – von rechts nach links – den jungen Kirchner um 1902 neben einem frühen Gemälde, dann ein Selbstporträt des Künstlers als Soldat im Atelier, 1915, sowie weitere Porträts von 1919, 1928 sowie 1937; © Kunstforum Ingelheim; Foto: Hans-Bernd Heier

Der Tanz spielt im Leben und Werk Kirchners eine wichtige Rolle. Aber in der Schau ist nur ein Kreidebild von 1920 zu sehen, das tanzende Bauern zeigt. Weitere Tanz-darstellungen hätten wohl die Raumverhältnisse in der großartigen Ingelheimer Schau gesprengt – leider.

In Deutschland werden Kirchners Werke als „entartet“ diffamiert und aus den öffentlichen Sammlungen entfernt. 1937 beschlagnahmen die Nationalsozialisten über 600 Arbeiten Kirchners, 32 davon werden in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Auch das regionale politische Umfeld verdüstert sich bedrohlich. Der „Anschluss „ Österreichs an Deutschland im März 1938 schürt seine Angst vor einer deutschen Invasion in die Schweiz. Kirchner greift erneut zu morphiumhaltigen Medikamenten und nimmt sich im Juni 1938 das Leben.

Im HIRMER Verlag ist zur Ingelheimer Ausstellung ein umfangreicher Katalog erschienen, in dem alle ausgestellten Werke farbig reproduziert sind; Preis 25,00 € im Kunstforum.

Die klar strukturierte und ansprechend präsentierte Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen ist bis zum 9. Juli 2023 im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus, François-Lachenal-Platz 1, zu sehen.

 

Abbildungen: Kunstforum Ingelheim

Comments are closed.