7. Musikalische Matinee mit dem ukrainischen Konzertpianisten Volodymyr Lavrynenko
Ein Kosmos zwischen Romantik und Moderne
Von Petra Kammann
Eine besondere Klaviermatinee im Gästehaus der Goethe-Universität, die dem geladenen Publikum sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird: so brillant wie zurückgenommen, so innerlich wie temperamentvoll, so ausdrucksstark wie melancholisch und lyrisch – eine Pèlerinage durch die Klaviermusik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Schwelle zur Moderne. Der ukrainische Konzertpianist Volodymyr Lavrynenko entfaltete mit seinem in sich stimmigen Programm einen ganz eigenen, einen inneren musikalischen Kosmos mit Klaviermusik von Mendelssohn Bartholdy, Claude Debussy, Fréderic Chopin und Franz Liszt.
Der ukrainische Konzertpianist Volodymyr Lavrynenko im Gästehaus der Goethe-Universität, Foto: Petra Kammann
Wenn Viviane Goergen zu einer Konzert-Matinee in das Gästehaus der Universität einlädt, dann kann man sich darauf verlassen, dass die kenntnisreiche außerordentliche Pianistin eine kluge Entscheidung getroffen hat. Feinsinnig und mit großem musikalischen Verstand ausgestattet, wählt die Organisatorin der Konzerte die Interpreten aus, für die sie sich stark macht. Auf ihre freundlich-bescheidene Art heißt sie die Gäste mit einleitenden Worten zu Programm und zur Person des Pianisten willkommen. Dem Vorsitzenden des Stiftungsrates zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Goethe-Universität, Prof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn, dankt sie für das zur Verfügung Stellen des Raums.
Vielleicht stamme die Bezeichnung dieser lebhaften Episoden der „Sechs Lieder ohne Worte op. 67“ von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) am Ende sogar von Fanny Hensel (1805-1847), der Schwester des Komponisten? Wie auch immer: diese sechs Stücke der letzten, von Mendelssohn selbst zusammengestellten und herausgegebenen Sammlung wurden vermutlich in den Jahren 1843–1845 komponiert.
Einführende Worte der Pianistin und Organisatorin Viviane Goergen, die auch als Musikcoach arbeitet, Foto: Petra Kammann
Kaum hat sich Volodymyr Lavrynenko an den Flügel gesetzt, so herrscht auch schon eine ganz besondere Stille und gespannte Aufmerksamkeit im Saal. Fein zurückgenommen ist der Anschlag des Pianisten, wenn er mit dem Andante aus den „Sechs Liedern ohne Worte“ anhebt, bevor es dann in der Folge lebhaft und tänzerisch zugeht, die Tonarten und Tempi wechseln, bis das schlichte, elegante Spiel zu einem leidenschaftlichen Presto anschwillt und so gleichsam eine große Dynamik entwickelt.
In den folgenden, zwischen 1904 und 1907 entstandenen „Images“ des französischen Komponisten Claude Debussy (1862-1918) ist das musikalische Thema der Bewegung bestimmend, vor allem die des Wassers und des flirrenden Lichts. Debussy war durch das Erlebnis fernöstlicher Musik bei der Pariser Weltausstellung 1889 zu einer völligen Neuorientierung in seinem musikalischen Denken angeregt worden. Seither baute er seine Musik bevorzugt auf die, für die asiatische Musik so typische Ganztonleitern auf, und auf der Pentatonik (Fünfton-Musik). In den „Images“ schuf er eine Musik, Bilder aus Tönen und Klängen, die für kurze Augenblicke im Zuhörer „Bilder der Wirklichkeit“ wachrufen, die in der Wahrnehmung entweder ständig ineinander übergehenden oder auseinander streben.
Besonders beliebt und geradezu populär wurden Debussys „Reflets dans l’eau“, die „Lichtspiegelungen auf dem Wasser“ aus dem ersten Teil seiner „Images“. Doch Lavrynenko beginnt sein Spiel nicht etwa damit, sondern stattdessen mit dem ersten Stück des zweiten Teils der „Images“ mit den auf Anhieb wesentlich undurchdringlicheren magisch klingenden Geräuschen, mit den „Cloches à travers les feuilles“ („Durch Laub hindurch klingende Glocken“), wo man dem imaginierten Glockengeläut wie von Ferne nachlauscht. Diesem Bild folgt: „Et la lune descend sur le temple qui fut“ („Und der Mond senkt sich über den Tempel von einst“), ein verwobener Klangteppich, der ein melancholisches Fernweh heraufbeschwört.
Der Komponist hatte es seinerzeit seinem Kritiker, dem Musikwissenschaftler Louis Laloy (1874-1944), gewidmet, der Debussys „Images“ wegen der Komplexität der Kompositionen, welche die gesamte Klaviatur beanspruchen, als „eine wirkliche Revolution in der Kunst des Klavierspiels“ bezeichnete. Anders als in der romantischen Musik ist das Besondere daran wohl die künstlerische Transformation einer atmosphärischen Moment-Stimmung, die einen visuell-farbigen als auch einen akustisch-vielfältigen Eindrucks hinterlässt, der so typisch für den französischen Impressionismus ist, Musik, die im Hier und Jetzt wie hingetuscht entsteht, den Moment auskostet, um sich gleich auch wieder zurückzunehmen.
Die Anregung zu dem dritten Bild der „Poissons d’or“ („Goldfische“) hatte Debussy sich offensichtlich von einem seiner Chinoiserie-Sammelstücke, einer fernöstlichen Lackarbeit mit Perlmutt- und Goldintarsien, die damals en vogue waren, geholt. Da drehen sich die bezogenen Fische auf dem schwarzen Lackfond zueinander wie Ying und Yang. Auch dieses Bild der quicklebendigen Fische inspirierte den Komponisten, er übersetzte es in ein entsprechendes Klangbild, so als würden die Fische im lockeren Dreivierteltakt im Inneren des Wassers miteinander tanzen.
Virtuos bewältigte der Pianist Lavrynenko nicht zuletzt die technische Herausforderung, die diese komplexe, zwischen Dur und Moll changierende, schillernde Komposition darstellt, auch rhythmisch mit den zahlreichen temporeichen Trillerfiguren. Licht, schlank und unangestrengt konzentriert wirkte sein Spiel. Er durchdrang die pulsierende Klangfläche des durch die Bewegung der Fische hervorgerufenen strömenden Wassers, das zum Schluss in die Bewegung eines ruhigen Gleitens überging. Sicher einer der Höhepunkte dieser so besonderen Konzertmatinee.
Allerdings zählt auch die eher selten gespielte Zwitterkomposition „Polonaise-Fantaisie op. 61 As-Dur“ von Frédéric Chopin (1810-1849) aus dem Jahr 1846 nicht gerade zu den leichten Stücken oder zu einer der üblichen Chopin-Polonaisen. Geschrieben hat sie der Komponist im Pariser Exil, wohin er 1831 nach dem gescheiterten Novemberaufstand der Polen gegen die russische Herrschaft geflohen war. Für die damit einhergehende Melancholie und Wehmut über den Verlust der Heimat mag zusätzlich noch die Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin Georges Sand (1804-1876) beigetragen haben.
Die „Polonaise-Fantaisie op. 61 As-Dur“ gehört zu Chopins letzten großen und reifen Klavierwerken, bevor er im Alter von 39 Jahren starb. In dieser Komposition schweift er frei durch die verschiedensten Tonarten, Stimmungen und Motive und schafft sowohl thematisch als auch formal unkonventionell überraschende Übergänge. Sie wurde auch erst sehr spät als Meisterwerk erkannt. Lavrynenko, der als exilierter ukrainischer Künstler möglicherweise eine Parallele zu Chopins Exilsituation empfindet, spielte sie mit großer Tiefe und Reife. Das vom Eindruck des Spiels fast benommene Publikum würdigte es nach kurzer Stille am Ende des Spiels mit dem entsprechenden Applaus.
Ein weiterer Höhepunkt der Matinee war das Spiel der Tondichtung „Vallée d’Obermann“ aus dem Schweiz-Heft Nr. 6 von Franz Liszt (1811-1886). Es stammt aus der Sammlung von 26 Charakterstücken des österreichisch-ungarischen Komponisten, Pianisten, Dirigenten, Theaterleiters, Musiklehrers und Schriftstellers deutscher Muttersprache Liszt. Der Heimatlose reiste damals rastlos durch Europa. Von einem Tal in den Schweizer Alpen ließ sich Liszt dann zu dem Klavierstück „Vallée d’Obermann“ inspirieren. Es gehörte ursprünglich zu dem Zyklus „Album d’un voyageur“ („Album eines Reisenden“) von 1835/36 und wurde erst später in das “erste Jahr” der „Années de Pèlerinage“, der “Pilgerjahre”, aufgenommen.
Die Beschreibung des Alpentals ist hier nicht nur eine Landschaftsschilderung, sondern auch eine Anspielung auf den romantischen Briefroman „Obermann“ von Étienne-Pivert de Senancour (1770–1846) aus dem Jahr 1804. Dieser stark autobiografisch gefärbte Briefroman gilt mit seiner Weltschmerzstimmung und Selbstbespiegelung als eines der wichtigsten Werke der französischen Frühromantik. In dem Briefroman, dem keine klare Handlung zugrundeliegt, schreibt der Protagonist an einen imaginären Empfänger und gibt sich dabei seinen philosophischen Betrachtungen hin. Als Obermann in die Schweiz reist, wird er von einer „tristesse d’une vague profonde“, einer unerklärlichen Melancholie, bestimmt. Sie lässt ihn von einem Ort zum anderen treiben und verzweifeln.
Liszt nahm seine Reiseerfahrungen zum Anlass für solch neue Kompositionen. Unter dem Eindruck seiner Reisen findet er dabei musikalisch immer mehr zu sich selbst. Auch diese eher introspektive Stück trug Volodymyr Lavrynenko sehr bewegend und ausdrucksstark vor. Und das, wie alle Stücke an diesem besonderen Vormittag aus dem Gedächtnis und ohne jegliche Partitur! Das ist nicht nur eine besondere Leistung, sondern spricht auch dafür, wie sehr er diese so verschiedenen Kompositionen verinnerlicht hat.
Was folgte, war der begeisterte Applaus des Publikums, woraufhin sich Lavrynenko noch zu einer Zugabe hinreißen ließ: Mit der „Arietta“ aus Edvard Griegs berühmten „Lyrischen Stücken“ schloss er den romantisch-modernen Reigen wie ein Rondo. Sein Spiel zu erleben, war angesichts der derzeit zahlreichen gegenwärtigen Erschütterungen das reine Glück, gepaart mit größer Könner- und Leidenschaft. So empfanden es wohl viele im Raum.
Prof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn, Vorsitzender des Stiftungsrates zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Goethe-Universität, überreicht ein Buchgeschenk zur Erinnerung an das gelungene Konzert, Foto: Petra Kammann
Der Pianist Volodymyr Lavrynenko
1984 geboren im ukrainischen Schytomyr
Erster Klavierunterricht als Fünfjähriger
Musikalische Studien an der Lysenko Spezialmusikschule für besonders Begabte in Kiew
2006 Abschluss am Tschaikowsky Konservatorium mit Auszeichnung
Weitere künstlerische Ausbildung in der Schweiz
Studium bei Tomasz Herbut an der Hochschule der Künste Bern
2009 dort Konzertdiplom
bis 2012 in der Meisterklasse von Konstantin Lifschitz an der Hochschule Luzern mit Solistendiplom-Abschluss.
bis 2013 Assistent von Lifschitz
Ab 2014 Studium für das Konzertexamen an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bei Evgeni Koroliov und Anna Vinnitskaya.
Abschluss mit Auszeichnung
Zahlreiche Preise und Auszeichnungen bei Wettbewerben in Deutschland und im europäischen Ausland
2015 Internationaler Wettbewerb „Premio Trio deTrieste“ im Duo mit der Cellistin Olena Guliei
2016 als 1. Preisträger unter 81 Teilnehmern aus 20 Nationen beim Internationalen Schubert-Wettbewerb in Dortmund
2017 als „außerordentliches Talent “Kulturpreisträger“ der Hamburger Berenberg-Stiftung
Meisterkurse u.a. bei Andrey Gavrilov, Dmitri Bashkirov, Alfred Brendel, Alexei Lubimov und Leon Fleisher
Reputation als beeindruckender Solist und Kammermusiker in ganz Europa