Ulrike Damms „Zwei Wahrheiten des Schreibens“
Einblicke in einen kreativen Schreibprozess
von Petra Kammann
Wo anfangen? Zeichnen, Gestalten, Dinge in Szene setzen ist ihr Metier. Als diplomierte Designerin hat die gebürtige Frankfurterin Ulrike Damm 15 Jahre eine Designagentur betrieben und mit Wirtschaftsunternehmen zusammengearbeitet. Dann gründete sie den Damm und Lindlar Verlag. Schließlich wurde sie zu einer gestaltenden Dichterin und dichtenden Gestalterin. Zwei Facetten ihres Schaffens werden sichtbar in dem gerade erschienenen Buch „Zwei Wahrheiten des Schreibens und der Fall Kulp“. Es bezieht sich auf ihr drittes belletristisches Werk, den Roman „Kulp und warum er zum Fall wurde“, der in der edition frölich erschienen ist.
Ulrike Damm vor ihrer handgeschriebenen Papierskulptur, Foto: Gudrun Arndt
Romananfänge sind in der Literaturgeschichte oft vielsagend. Und oft sind sie es auch, die einen gordischen Knoten durchtrennen und damit eine Story in Gang setzen. So auch im Falle von Ulrike Damms Roman „Kulp und warum er zum Fall wurde“, deren erster Satz lautet: „Einem glücklichen Umstand zufolge war er jetzt blind: ein Autounfall vor zehn Jahren, lange nachdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. So fügen sich die Dinge manchmal und man muss selbst nichts tun. Nur warten“.
Dieser Satz setzt scheinbar einen Eckpunkt und gibt Rätsel auf. Ganz konkret geht es dann aber los mit einem Protagonisten namens Kulp (Nomen est omen), der nach einem selbstverschuldeten Autounfall erblindet war, und der sich in der Folge seiner begrenzten Physis mit allen darin steckenden Konsequenzen bewusst und Schriftsteller wird. Zweideutig und zwiespältig ist die anfängliche Aussage, die sich gleichsam wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Kulp hat überlebt und ist auch nicht krank. Als er sich nach dem Unfall aber als Blinder wiederfindet, kann er es nicht fassen, dass das jetzt sein Leben sein soll. Er muss wieder neu anfangen, um sich die dunkel gewordene Welt zu erschließen.
Bedenkend, dass über 80 Prozent unserer Informationsaufnahme über die Augen geschieht, zumal in einer Medienwelt, die zunehmend auf die Vermittlung durch Bilder setzt, werden die vier anderen Sinne in der Regel kaum gefordert, um sich z. B. rasch einen „Überblick“ zu verschaffen. Ulrike Damm hat sich als Schreiberin des Romans in die Psyche ihres Helden hineinversetzt und dazu auch im Vorfeld ihre Studien betrieben, ist einer alleinlebenden Blinden nach Hause gefolgt und hat deren Alltag beobachtet, um ihre Sinneserfahrungen schreibend verarbeiten zu können.
Horst Janssens „Goya“ blickt von oben auf Ulrike Damms Arbeitstisch, Foto: Petra Kammann
Schon während des Verfassens des Textes am Computer, begann die Künstlerin an einer Verbildlichung desselben zu arbeiten. Von der Emotionalität und Verzweiflung des Protagonisten geleitet, schuf sie mit dem Bleistift auf großen Papierbahnen, wie sie selbst sagt: visuelle Psychogramme. Dabei geht es um existenzielle Fragen.
Wie werden Erinnerungen zu Geschichten? Wie weiten sie den Erfahrungsraum, den inneren und den äußeren? Man fühlt sich an Goyas Caprichos „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ erinnert, der in den Wirrnissen des Spanischen Bürgerkriegs auf das Licht der Aufklärung hoffte, vor allem aber Düsternis erlebte.
Ein raumfüllendes Papierobjekt entstand aus einem unleserlichen Haufen zerknüllten Papiers, Foto: Holger Biermann
Im Laufe dieses zeichnerischen Arbeitsprozesses gelang es der Künstlerin, sich die Sprache selbst förmlich einzuverleiben, sie physisch „abzuarbeiten“, indem sie Kulps Empfindung noch einmal in einer handgeschriebebenen Version reproduzierte und verwandelte.
Mit dieser besonderen Art, sich dem Text zu nähern, wird sicht- und spürbar, wie in ihrem Romanhelden die Verzweiflung an ihm nagt, wie tobt, wie er hadert, rebelliert, schreit und sein Leben neu lernt, wobei ihm all seine innere Wut, sein Aufbäumen, seine Verdrängungsmechanismen die Schuld, die er tragischerweise in seiner Jugend auf sich genommen hat, nicht hat nehmen können. In dem Roman spielt auch ein Mord eine Rolle.
So entstanden am Ende aus den 360 gedruckten Buchseiten des Romans 1200 Meter lange handgeschriebene Papierbahnen auf knisterndem Seidenpapier. Aus einem unleserlichen Haufen zerknüllten Papiers wurde ein raumfüllendes Papierobjekt, das sich wie eine Bedrohung über das Leben ihrer Romanfigur Kulp zu legen schien.Ein langer Weg des Scheiterns, der zu etwas Neuem führt, einer neuen Herangehensweise an das Leben und das Lesen.
Wie Worte eine eigene Dynamik annehmen, erlebt man im gedruckten Buch, auf knisterndem Papier und auf Schrifttafeln, Foto: Petra Kammann
Eine andere Zeichnung ist die 13 Meter lange Papierbahn, in der sie als Kulp, der Schriftsteller ist und seine Texte handschriftlich auf so unbequeme Weise durch die Zeilenschablone schreibt, was nicht nicht nur die Form, sondern auch die Inhalte seiner Texte beeinflusst: „Die Herrschaft über seine Texte hatte ein Werkzeug, genannt Schablone, übernommen.“
Ulrike Damm nahm das gleiche Schreibwerkzeug. Sie legte eine Seidenpapierbahn auf ihrem langen Arbeitstisch und schrieb bis zur psychischen Erschöpfung zeichnend wieder und wieder übereinander, strich Textstellen aus und ließ sich dabei wie fremdgesteuert von der Zeilenschablone treiben.
Und auf der langen Papierbahn rückte sie in Analogie zum Schreibvorgang ihres Helden Stück für Stück weiter mit der Schablone und verzerrte dadurch den Text, bis man nichts mehr sah. Sie hatte sich förmlich „blind geschrieben.“
Verdichtung bis zur Unkenntlichkeit als Psychogramm des Protagonisten, Foto: Jörg Bruchhausen
Dann verrutschte alles so, dass ein Netz aus Buchstaben entstand, gewisse Passagen und Stellen immer dichter und dunkler wurden, je mehr sich der Schwarzanteil des Bleistifts erhöhte, so dass am Ende ein weiteres visuelles Psychogramm ihrer Romanfigur entstand. Dieses zweite erschöpfende Schreiben kommt geradezu einer Art Exerzitium nahe, wie wir es von der Überlieferung schreibender Mönche aus den mittelalterlichen Klöstern kennen.
Eine weitere Arbeit, eine 20 Meter lange Zeichnung entstand in der benachbarten Zionskirche in Berlin. Beim Aufrollen riss das weiße Papiers in der Mitte durch. Dieser Riss bestimmte diese neue Arbeit. Der Text aus dem Roman, ein Ausschnitt, in dem sich Kulp mit Gott unterhält und ihn anklagt, war die Grundlage, der Riss ein Geschenk Gottes an die Künstlerin. „Guten Tag Gott“ heißt diese Arbeit. Zwei Wochen lang hatte Ulrike Damm auf dem Holzboden der Empore gezeichnet.
Der Zufall spielte Schicksal. Ein Riss ging durch die Papierbahnen, Foto: Ulrike Damm
Mit dem Riss brach die Lebensgeschichte des Kulp in zwei Teile. Es gab ein Davor und ein Danach. Sie stellen den verzweifelten künstlerischen Arbeitsprozess dar, bei dem der Schreibende mit jeder Handbewegung im wahrsten Sinne des Wortes an seine Grenzen geführt wird. Für Damm handelt es sich dabei um eine visuelle Übersetzung des Textes, bei dem Kopf und Hand intuitiv zusammenarbeiten.
Reizvoll verändert das Licht in der Zionskirche die Papierskulptur, Foto: Ulrike Damm
Zu sehen war diese riesige Textskulptur in einer Einzelausstellung der Berliner Zionskirche. Monströs, unzugänglich, schön und vergeblich, wie das neue Leben des Kulp, wie der nicht lesbare Roman.
Text und Bild erzählen auf unterschiedliche Weise ein und dieselbe Geschichte. Das ist die Arbeit der Künstlerin und Schriftstellerin Ulrike Damm. Sie stellt all ihren Romanen ein handgeschriebenes Schriftbild gegenüber. Die Handschrift als Psychogramm ihrer Hauptpersonen, um zu begreifen: Wie sieht Verzweiflung aus? Und Vergessen? Und sinnloses Tun? Oder Wut?
Persönliche Erinnerungen wie die Robotron-Schreibmaschine werden zu Geschichten, Foto: Petra Kammann
„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, sagte die österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann in ihrer berühmt gewordenen Dankesrede als Preisträgerin des renommierten Hörspielpreises der Kriegsblinden. Sie erhielt ihn im Jahre 1959 für ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“.
Ingeborg Bachmann war zweifellos auch für Ulrike Damm ein Vorbild. In „schweige wund das wort“ hatte die Künstlerin der deutsch- und russischsprachigen Dichtung, der Poetin Ingeborg Bachmann wie auch der russischen Dichterin Anna Achmatova, die unter Stalin zum Schweigen verurteilt war, ein poetisch sensibel gestaltetes Buch gewidmet, das im Verlag Damm und Lindlar erschien.
Beiden Dichterinnen, die 1964 in Rom einander begegneten, und ihrer jeweiligen Dichterliebe zu Ossip Mandelstam und Paul Celan verbunden waren, hat sie in dieser besonderen Ausgabe deren je individuellen poetischen Widerstandskraft ein Denkmal gesetzt.
In „Die zwei Wahrheiten des Schreibens und der Fall Kulp“, dem neuen Buch der Künstlerin und Schriftstellerin ,
kann man die doppelte Sichtweise auf die Dinge in besonderer Weise nachempfinden. Das eigenwillige Buch macht durch das
zweimalige Schreiben des Romans nicht zuletzt das Phänomen Zeit und Erinnerung sichtbar.
BUCHTIPP

(edition fröhlich)
17 x 23 cm, 192 Seiten, 130 Abbildungen,
Die Publikation wird durch eine Vorzugsausgabe in einer Auflage von 25 nummerierten und signierten Exemplaren ergänzt (bestellbar direkt über den Verlag). Jedes Exemplar enthält eine von der Künstlerin nummerierte und signierte Fotografie der Arbeit „962 Meter – Eine Textskulptur“ aus der Ausstellung in der Zionskirche Berlin, 2021. Ladenverkaufspreis der Vorzugsausgabe: 48,– Euro