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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Frankfurt liest ein Buch 2023: „Streulicht“ von Deniz Ohde

Schreiben als Akt der Befreiung

Von Petra Kammann

Im Mittelpunkt des 14. Frankfurter Lesefestes „Frankfurt liest ein Buch“ steht vom 24. April bis 7. Mai 2023 zum ersten Mal ein Debütroman im Fokus. Und zwar der Roman „Streulicht“ (Suhrkamp Verlag) der 1988 in Frankfurt am Main geborenen und heute in Leipzig lebenden preisgekrönten Autorin Deniz Ohde, die selbst an 26 von insgesamt 77  Veranstaltungen in Frankfurt und Umgebung teilnimmt. Ihr Roman widmet sich den Sollbruchstellen eines Lebens in einer als international angesehenen Stadt, wo die Außenseiterin die Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit erlebt und sich frei schreibt…

Deniz Ohde als Finalistin im Rahmen des Deutschen Buchpreises 2020 im Römer, Foto: Petra Kammann

Die Pressekonferenz zu „Frankfurt liest ein Buch“ fand in diesem Jahr im Hotel Villa Orange statt, wo seit 2010 die Autoren dieses so rührigen Lesefests häufig wohnten, nicht zuletzt der Satiriker Eckard Henscheid 2014 mit den „Volliditionen“, wie Dr. Sabine Baumann, Vorsitzende des Vereins seit 2017 und Programmleiterin des Kampa Verlags verschmitzt schmulzelnd verkündete. Im vergangenen Jahr sei es die berührende Präsenz von Martina Keun-Hurtig, der Tochter von Irmgard Keun, gewesen, die den Roman „Nach Mitternacht“, der 1936 im nationalsozialistisch geprägten Frankfurt spielt, dank ihres ausgedehnten Aufenthaltes im Hotel ganz persönlich auf verschiedenen Veranstaltungen begleiten und kommentieren konnte. Das Hotel, das den Autoren und Autorinnen für eine Zeit eine Heimstatt bietet, wäre schon selbst eine eigene Geschichte wert.

Dr. Sabine Baumann, Vorsitzende des Vereins „Frankfurt liest ein Buch“,  Foto: Petra Kammann

Frankfurts Kulturdezernentin und Literaturkritikerin Dr. Ina Hartwig macht darauf aufmerksam, dass die junge zeitgenössische Autorin Deniz Ohde Frankfurt „vom Rand her“ wahrnehme und erlebbar mache und so auch Selbstreflexionen bei uns Lesern hervorrufen könne, wenn man nur seine eigene alltägliche Lebenssituation im Viertel, in dem man aufwachse, derjenigen Ohdes im Fabrikarbeitermilieu in Frankfurt-Sindlingen gegenüber stelle.

Denn die Erzählerin Deniz Ohde mit ihrer Migrationsbiografie und dem sie bedrückenden Arbeitermilieu in einer ruhrgebietsartigen Atmosphäre, in der sie aufwächst, geht die Wege zurück in ihre Kindheit, an jenen Ort, an dem sich ihr wortkarger und trinkender Vater wie auch ihr erblindeter Großvater gegen jegliche Veränderung stemmen, während ihre Mutter versucht, aus der Enge dieses Lebens am Rande des wohlgeordneten gesellschaftlichen Alltags auszubrechen.

Sie macht sich auf  und davon. Zurück bleibt die Tochter allein beim Vater, bricht erst einmal die Schule ab und nimmt die Anstrengung auf sich, Versäumtes nachzuholen, was zwangsläufig mit Angst und Scham verbunden ist, weil sie nirgends dazugehört. Damit erinnere Ohdes Geschichte gar an Peter Handkes „Wunschloses Unglück“, meint Dr. Julia Cloot, stellvertretende Geschäftsführerin des Kulturfonds RheinMain und Kuratorin, um auf die Breitenwirkung großer Literatur, um die es sich in diesem Roman handele, zu verweisen. Auch sie beschreibt auch noch mal die Vorzug des regionalen Lesefestes, das auch zur Herausforderung einer neuen Wahrnehmung der eigenen Stadt herausfordere.

Die Idee von ‚Frankfurt liest ein Buch‘ ist einfach aber zündend: Ein vielteiliges Veranstaltungsprogramm rankt sich jährlich um ein einziges Buch, und zwar eins mit Frankfurt-Bezug“… und weiter: „Die Autorin Deniz Ohde ist Frankfurterin mit türkischen Wurzeln und lässt uns teilhaben an einer Kindheit fernab vom gutsituierten Frankfurt der Bankentürme und Plüschcafés, sie zoomt hinein in ein Dasein zwischen kleinbürgerlichen Vorgärten und Eckkneipen, beschienen vom Streulicht industrieller Produktion.“

v.l.n.r.: Ina Hartwig, Julia Cloot und Lothar Ruske im Gespräch, Foto: Petra Kammann

So empfindet die Erzählerin, dass sie allein war „…auf einer Insel, an die unablässig Zigarettenrauch, Unrat und stumme Trauer anbrandeten“. Gleich im ersten Kapitel wird der Vater als eine der zentralen Figuren vorgestellt. Verloren, überfordert, brutal spiegelt er als Einwanderer auch das Trauma einer ganzen Generation, ohne eine eigene Sprache dafür gefunden zu haben. Somit spiegelt auch er die Sprachlosigkeit etlicher Eltern nach dem  Zweiten Weltkrieg.

Lothar Ruske, Planer und Organisator von Anfang an, Foto: Petra Kammann

Dankbar greift Lothar Ruske, Organisator und Planer der ersten Stunde des so vielfältig angelegten Veranstaltungsreigens,  den Vergleich mit Peter Handke auf und stellt voller Enthusiasmus die inzwischen 100 verschiedenen Veranstaltungsorte vor: von den Akademien, Buchhandlungen, Bibliotheken, Kinos, Kirchengemeinden, Kultureinrichtungen, Museen, Privathäusern, Schulen, Senioreneinrichtungen, Jugend- und Gemeindezentren, bis hin zum Theater, und nicht zuletzt zur Begegnung mit Schülern der Max-Beckmann-Schule, an der Deniz Ohde im zweiten Anlauf das Abitur abgelegt hat, und wo ein an sie glaubender Lehrer sie „gerettet“ hat. Auch er stellt sich den Gesprächen.

Nach der traditionellen Eröffnung in der Deutschen Nationalbibliothek und danach an den verschiedensten Orten der Stadt und der Umgebung (z.B. Bad Soden, Bad Vilbel, Dieburg, Eschborn, Friedberg, Gießen, Hainburg, Kelkheim, Königstein, Kronberg, Maintal, Mörfelden-Walldorf, Offenbach und Oberursel) finden dann vielversprechende Lesungen, Stadtspaziergänge, Bildvorträge, Filmvorführungen, Musikalisches, Vorträge und Gespräche rund um den Roman  statt.

Dabei sind Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus und aller Altersklassen angesprochen und eingebunden.

Mitwirkende 

Mit dabei sind Organisator:innen vor Ort, Buchhändler innen, Schriftsteller:innen, Musiker:innen, Schauspieler:innen, Journalist innen, Schüler:innen, Studierende und Vertreter:innen der Stadt Frankfurt. Sie werden den Roman aus unterschiedlichen Perspektiven zum Funkeln bringen. Das sind u.a.:

Birgitta Assheuer, Fatma Aydemir, Katharina Bach, Nadja Benaissa, Alexandra Bentz, Marit Beyer, Tanja Brühl, die „Bücherfrauen“, Isabella Caldart, Eleonore Wiedenroth-Coulibaly, Katharina Deschka, Elisa Diallo, Nassir Djafari, Ersuni Orfa (Band), Gabriele Fachinger, Ruth Fühner, Sven Hassel, Michael Heinz, Angi Henn, Helge Heynold, Mike Josef, Sandra Kegel, Anja Kittlitz, Fridtjof Küchemann, Martin Lejeune, Till Lieberz-Groß, Karmen Mikovic, Gesche Müller, Katharina Müller, Rolf Mütze, Jo van Nelsen, Hanna-Lena Neuser, Maria Niesen, Never Wash Them, Gregor Praml, Petra Roth, Bärbel Schäfer, Tobias Schmidt, Steffen Schwarz, Ute Schwens, Christoph Gérard Stein, Oliver Teutsch, Sonja Vandenrath, Linus Volkmann, Jan Costin Wagner, Andrea Wolf, Martina Wunderer 

2020: Lesung im Frankfurter Literaturhaus, als Deniz Ohde auf der Shortlist zum Buchpreis stand, Foto: Petra Kammann

Biographisches

Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie heute auch lebt. Für ihren Debüt­roman Streulicht, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literatur­preis 2020 ausgezeichnet.

Weitere Infos:

www.frankfurt-liest-ein-buch.de

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