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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Johan Simons inszeniert in Bochum und Leipzig  „Der Würgeengel“ nach Luis Buñuel

Paralysierte Gesellschaft: No way out

Von Simone Hamm

Auf der Bühne im Bochumer Schauspielhaus passiert erstmal: nichts. Und dann: nichts. Die Schauspieler haben den Kopf auf kleine Schulbänke gelegt, liegen darunter, hängen über Kinderstühlen, blicken reglos und starr geradeaus.

Marius Huth, Foto: © Armin Smailovic

Ganz leise beginnt Johan Simons Adaption von Luis Buñuels „Würgeengel“ in der Version der Dramaturgin Angela Obst. In Buñuels Film aus dem Jahre 1962 war es eine elegante Abendgesellschaft, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr aus dem Speisezimmer herauskam. Bei Simons sitzen fünf Schauspieler in einem Klassenzimmer. Auch sie können nicht heraus. Der „Würgeengel“ hält sie gefangen.

Der biblische Würgeengel ist laut Martin Luther ein von Gott zum Töten ausgesandter Engel. Er zog durchs gelobte Land und tötete die Erstgeborenen der Ägypter, in der Apokalypse wird der Würgeengel am Ende über alle richten.

Die Menschen können das Zimmer nicht verlassen. Haben sie einen inneren Widerstand dagegen? Werden sie von außen daran gehindert?

Es gibt nichts mehr zu essen, nichts mehr zu trinken. Wie Tiere lecken die Schauspieler die letzten Tropfen vom Boden auf. Stück um Stück fällt der Mantel der Zivilisation. Es gibt kein Zurück mehr und aus kein Heraus.

Sandra Hüller, Anne Cathrin Buhtz, Marius Huth, Roman Kanonik, Alexander Wertmann (v. li.), Foto: © Armin Smailovic

Weltuntergangsstimmung in Bochum, wäre da nicht ein Kind, ein kleines Mädchen, das durch eine Tür hineinkommen und auch herausgehen kann: einmal hält sie einen Vortrag über den Perlbooten, ein Meerestier, das vom Aussterben bedroht ist, weil die silbrigen Schalen so begehrt sind und einmal über das  ebenso bedrohte  Volk der Bienen.

Sie bringt Frische, Hoffnung, Zukunft. Sie geht.

Das wird nicht eingebunden in den „Würgeengel“ und wirkt dadurch natürlich viel mehr. Es gäbe ja einen Ausweg, die Klimakatastrophe zu verhindern, aber wie sehen ihn nicht.

Natürlich fällt bei Simons das Wort Klimakatastrophe nicht und die Zuschauer werden auch nicht wie in anderen Schauspielhäusern bei Stücken zu diesem Thema belehrt und beschimpft.

Stattdessen lässt Simons einige Textteilen mehrfach wiederholen: Des Lebens tausendfache Wiederholungen. Anders als Buñuel nicht von demselben, sondern von verschiedenen Schauspielern gesprochen. Gebetsmühlenartig wiederholen wir ja auch, was zum Stopp der Klimakrise führen könnte.

Die Schauspieler singen um ihr Leben. Johann Simons läßt in seiner Adaption des Films des mexikanischen Surrealisten Buñuel Kirchenmusik erklingen, Psalmen des protestantischen Musikers Johann Sebastian Bach. Extremer kann es kaum sein: „Jesu, meine Freude“, „Es ist genug“.

Doch an diesem Abend helfen weder Kunst noch Religion.

Sandra Hüller, Foto: © Armin Smailovic

„Würgeengel“ ist eine Zusammenarbeit des Schauspiel Bochum und des Schauspiel Leipzig. Die Schauspieler kommen aus beiden Ensembles. Und dazu eine überragende Sandra Hüller im korallenfarbenen Kleid im Stiel der siebziger mit blonder Perücke.

Sie tänzelt auf silbernen Sandaletten mit hohem Absatz, über dem Arm trägt sie ein durchsichtiges Täschchen, darin ein Pass und Geldscheine. Sie tanzt und singt „Girls just wanna have fun“ von Cindy Lauper, aber Spaß hat sie wahrlich nicht.

Sie seufzt, sie klagt, sie wirft sich auf den Boden. Der Rock gleitet nach oben. Sie trägt fleischfarbene Funktionsunterwäsche statt zarter Dessous. Die erotische Blondine wird entzaubert. Das düstere „Roads“ von Portishead trifft ihre Stimmung schon besser.

Alexander Wertmann, Anne Cathrin Buhtz als Anne Cathrin (v. li.), Foto: © Armin Smailovic

Auch das übrige Ensemble ist brilliant. Anne Cathrin Buhtz als Anne Cathrin verzweifelt immer mehr, aus der liebenden Frau wird eine mordlüsterne, Alexander Wertmann als Alexander, im Abendanzug, bleibt stoisch bis zur letzten Minute.

Roman Kanonik als Roman ist ein Schmierlappen im violetten Anzug mit riesiger Sonnenbrille. Das Geckenhafte wird ihm schon vergehen. Markus Huth als Marius ist ein sehr junger, sehr nervöser, sehr sanfter Mann im grünen Samtanzug, groß, zart, zerbrechlich, todkrank.

Er wird diesen Abend nicht überleben. Im Klassenzimmer sitzen keine Kinder, denen die Zukunft gehört, sondern Erwachsene, die von Minute zu Minute verstörter wirken. Das geht langsam vor sich und die gefangenen Schauspieler zeigen das in winzigen Nuancen.

Zwei Musiker, Laura Wasniewski an der Kirchenorgel und Christopher Bruckmanann an der Hammondorgel umrahmen das Bühnenbild und begleiten die Sänger mit schrägen Intonationen bei ihre Abgesang auf eine untergehende Area. Noch ist es ein großer Abend in Bochum. Aber wie lange noch?

Nächste Vorstellungen am 10. März Premiere in Leipzig 11.3., 4.4., 14.4., 15.4. Leipzig am 18.3., 19.4. Bochum.

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