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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pina Bausch und die, die ihr in Wuppertal nachfolgen

Frauen, die gegen Stühle rennen, Frauen, die ihr Leben erzählen und ein radikales „Sacre du Printemps“

Von Simone Hamm

Es war keine andere als Pina Bausch selbst, die sich in „Café Müller“ mit geschlossenen Augen über die Bühne tastete, sich an Spiegeln die Stirn aufschlug. Boris Chormatz, Leiter des Tanztheaters von Pina Bausch, lässt sein erstes abendfüllendes Programm mit diesem Klassiker beginnen.

Pina Bauschs Klassiker Café Müller, Foto: Copyright Uwe Stratmann/ Tanztheater

Naomi Brito tanzt die Rolle, die Pina Bausch sich auf den Leib geschrieben hat.

Eine andere Frau (Emily Castelli) läuft immer wieder gegen Stühle. Ihr ist nicht zu helfen. Obwohl ein Mann (Oleg Stepanow) hektisch versucht, die Stühle aus dem Weg zu räumen, knallt sie doch dagegen. Ein zweiter Mann (Milan Nowoitnick Kampfer) trägt die Tänzerin schließlich auf Händen. Ein dritter Mann (Reginald Lefebvre) hat sie ihm in die Arme gelegt, aber sie entgleitet den beiden immer wieder, fällt zu Boden. Diese immer gleiche Bewegung wiederholt sich, wird immer schneller.

Pina Bausch 2007 in „Café Müller“,  Foto: Petra Kammann

Zum ruppigen Bühnengeschehen eine fast überirdische Musik: Patrick Hahn dirigiert das Wuppertaler Sinfonieorchester, es erklingt Musik von Henry Purcell, Ralitsa Ralinova singt bezaubernd schön Arien aus „The fair queen“ und „Dido und Aeneas“.

Eine Frau, die gegen Plexiglaswände rennt, die gefangen bleibt im düsteren Café, der Kampf einer Frau gegen Hindernisse – das mag banal klingen und ist doch leider auch 2023 noch immer aktuell.

Eine Frau mit roter Perücke tippelt herein (Maria Giovanna Delle Donne), ein Paar umarmt sich. Sie sind seltsam unbeteiligt, nehmen die stürzende Frau in ihrem dünnen Kleidchen gar nicht wahr. Warum lässt sie sich nicht helfen von den Männern? Ahnt sie, dass sie in eine Falle tappen wird?  Hat sie sich eingerichtet in ihrer Pein? Will oder kann sie nicht anders handeln?

Common Ground(s), copyright: Evangelos Rodoulis

Common Ground(s)“, gemeinsame Wurzeln haben die beiden Choreografinnen, Tänzerinnen und Lehrerinnen Malou Airaudo und Germaine Acony, die gut in ihren Siebzigern sind. Wer den Film „Dancing Pina“ gesehen hat, kennt sie. Germaine Acony hat die „Ecole de sables“ gegründet, ein Tanzzentrum im Senegal. Malou Airaudo hat lange Jahre bei Pina Bausch getanzt.

Vor blutrotem Hintergrund sitzen die beiden Frauen, den Rücken zum Publikum gekehrt, einen Speer in der Hand. Dann beginnen sie tanzend aus ihrem Leben zu erzählen, sind Mütter, Großmütter, Töchter. Sie legen sich gegenseitig das Ohr auf den Bauch, um den Herztönen eines noch ungeborenen Kindes zu lauschen, sie erzählen von Pina Bausch, sie halten sich an den Händen.

Sie schlagen mit den Fersen den Rhythmus. Sie sind hochgewachsen, majestätisch und strahlen eine unerschütterliche Ruhe aus. Fabrice Bouillons zarte Komposition, beeinflusst von traditioneller senegalischer Musik , unterstreicht das noch.

Und dann das genaue Gegenteil, der Höhepunkt des Abends: „Sacre du Printemps“ nach der Musik von Strawinsky. Ich habe viele herausragende „Frühlingsopfer“-Versionen gesehen und über einige geschrieben: Aber diese war eine der besten: kraftvoll, jung, rau, ursprünglich.

Pina Bausch vor einer Plastik von Wilhelm Lehmbruck in Duisburg, wo ihr 2009 der Musikpreis der Stadt verliehen wurde, Foto: Petra Kammann

Was in Pina Bauschs Choreografie schon immer angelegt war, perfektionieren die afrikanischen Tänzer der „Ecole de Sables“: die Radikalität, die Brutalität des menschlichen Frühlingsopfers. Der dunkle Torfboden, mit denen der Boden bedeckt ist, spritzt hoch, wenn die Tänzer springen. Sie suchen das Opfer aus. Voller Angst erscheint Tänzerin um Tänzerin vor ihnen, hält ihnen das rote Tuch entgegen. Wenn es angenommen wird, wird sie das Opfer sein.

Das gewählte Opfer schließlich wird in ein rotes Kleid gehüllt und tanzt noch einmal, wie um sein längst verwirktes Leben. Die sich mit aller Kraft gegen ihr Schicksal aufbäumende Luciény Kaabral ist ebenso stark wie verletzlich, ebenso mutig wie verzweifelt.

Das „Sacre du printemps“, Ensemble , Foto: Ursula Kaufmann 

Da sind Gewalt und schließlich Raserei zu sehen. Dieser Ausbruch der Urgewalten wird vom Ensemble ungeheuer genau und präzise getanzt und bleibt dabei jede Sekunde intensiv.

Ursprünglich sollte dieses „Sacre“ schon 2020 in Dakar aufgeführt werden.Die Pandemie verhinderte das. Jetzt können Tänzer und Tänzerinnen weltweit und auch in Wuppertal zeigen, wie sie es interpretieren. Patrick Hahn dirigiert sehr bedacht, weiß, wann er wuchtig werden darf und wann wieder zurückhaltend.

Am Ende des Abends waren Tänzer, Tänzerinnen und Publikum gleichermaßen atemlos, erschöpft und glücklich.

So kann, so muss es dort weitergehen unter Boris Charmatz Leitung.

 

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