Weibliches Weltpanorama der literarischen Moderne
Eine Schatzkiste voller Trouvaillen
Von Petra Kammann
Nach 1900 veränderte sich das künstlerische Selbstverständnis von schreibenden Frauen überall auf der Welt grundlegend. Sie eroberten sich gedankliche Freiräume, brachten weibliches Denken und Fühlen in die Literatur ein und schufen große Erzählkunst. Ihnen widmet die Literaturredakteurin und FAZ-Feuilleton-Chefin Sandra Kegel den von ihr herausgegebenen Band „Prosaische Passionen“ mit insgesamt 101 Erzählungen von Else Lasker-Schüler, Djuna Barnes, Marina Zwetajewa und etlichen anderen Autorinnen aus aller Frauen Länder. Eine Art Gegenkanon zur bisherigen männlichen Autoren-Dominanz.
Frankfurter Premiere in der Historischen Villa Metzler mit Sandra Kegel, Herausgeberin von „Prosaische Passionen“, einem Gespräch mit dem Literaturkritiker Christian Metz und einer Lesung von Birgitta Assheuer, Foto: Alexander Englert
Eigentlich hätten nach dem Vorbild der Sheherazade 1001 Erzählungen in Sandra Kegels Band „Prosaische Passionen“ aufgenommen werden sollen. Doch schon jetzt wurde aus dem „Projekt“ ein fast 1000-seitiges Buch. Und der Manesse-Verlag, der die renommierte Literaturkritikerin Sandra Kegel dazu angestachelt hatte, unbekannte Autorinnen zu Beginn der Moderne herauszufiltern, um den literarischen Kanon zu erweitern, setzte erst einmal einen Schlussstrich unter den Anfang und strich die Null in 1001.
Immerhin sind in dem schwergewichtigen Band nun 101 Erzählungen von zwischen 1850 und 1920 geborenen schreibenden Frauen aus 50 Ländern und 26 Sprachen, von denen die Hälfte als Erst- und Neuübersetzungen aus dem Arabischen, Chinesischen, Dänischen, Englischen, Finnischen, Französischen, Griechischen, Hebräischen, Italienischen, Japanischen, Katalanischen, Koreanischen, Norwegischen, Persischen, Polnischen, Portugiesischen, Russischen, Tschechischen, Türkischen, Schwedischen, Spanischen, Ukrainischen, Ungarischen, Urdu und Walisischen darin versammelt sind. Schon das allein ist eine kleine Meisterleistung.
Und es ist umso bemerkenswerter, als diese Frauen, allein schon wegen der Weltgegend, in der sie aufwuchsen, sei es in Afrika, Lateinamerika oder Asien, diskriminiert wurden oder auch bei uns unbekannt blieben. Dabei wurden sie von ähnlichen Themen angetrieben wie die europäischen Frauen, die inzwischen einen Eingang in den Kanon der Moderne gefunden haben wie Selma Lagerlöf, Else Lasker-Schüler, Virginia Woolfe oder Nathalie Sarraute etwa. Sie alle vereint, dass sie aus der Engführung ihrer Lebensgeschichten heraus ihre Texten literarisch verdichteten und nicht etwa Pamphlete schrieben, auch wenn sie häufig auf Anhieb keine Verlage dafür fanden.
Etliche von ihnen konnten aber ihre „short stories“, wofür man bekanntlich einen weniger langen Atem braucht, in Frauenzeitschriften oder Magazinen veröffentlichen wie zum Beispiel die amerikanische Schriftstellerin Kate Chopin (1850–1904) aus St. Louis, väterlicherseits irisch-katholischer, mütterlicherseits französischer Abstammung, und Mutter von sechs Kindern. Sie schrieb zahlreiche Geschichten. Ihr Werk fand nach der Veröffentlichung von „The Awakening“ („Das Erwachen“) wegen der moralischen Vorbehalte jahrzehntelang so gut wie keine Beachtung mehr. Ihre Erzählung „Die Geschichte einer Stunde“ las die Sprecherin Birgitta Assheuer und öffnete mit ihrer Stimme die geheimnisvolle Tiefe eines neuen Raums.
Lebendige Diskussion der FAZ-Literaturkritikerin Sandra Kegel mit dem Literaturkritiker Prof. Christian Metz, Foto: Alexander Englert
In der knappen Zeit einer Stunde, die auch der Titel der Geschichte andeutet, entsteht nämlich ein ganzer Kosmos von Empfindungen, den man als Leser*in erleben kann, geht es darin doch um die kränkliche und herzkranke Mrs. Louise Mallard, deren Mann bei einem heftigen Zugunfall vermeintlich getötet wurde, was ihr schonend beigebracht wird, um ihre fragile Gesundheit nicht zu gefährden. Die Nachricht von dessen Tod löst bei ihr zunächst auch Tränen aus. Doch daraufhin sperrt sie sich in ihrem Zimmer ein, entdeckt plötzlich die Schönheit der Außenwelt.
Nun also könnte sie in die Welt hinausgehen und „frei, frei, frei sein!“ „Frei! Körper und Seele frei!“ Atemberaubend und nachschwingend las Birgitta Assheuer diese Passage des fast fiebrigen Triumphierens über die kurz sich anbahnende Utopie der Freiheit mit all ihren Aussichten. Doch schon unmittelbar darauf findet das Gefühl des Aufbruchs wieder ein jähes Ende, als Louises Mann Brentley plötzlich zerzaust und lebendig in der Tür steht. Da fällt sie schlicht tot zu Boden.
Zwar konstatiert der Arzt, dass es die übergroße Freude gewesen sei, die sie getötet habe. Doch der Leser hat Einblicke in ihre Seele bekommen und weiß, dass Louise aus Enttäuschung über den Verlust der neu gewonnene Freiheit gestorben ist. „Und doch hatte sie ihn geliebt – bisweilen. Oft aber auch nicht. „Was konnte Liebe, dieses ungelöste Geheimnis, schon bedeuten, angesichts des Besitzes von Selbstbehauptung, die sie plötzlich als den stärksten Antrieb ihres Daseins erkannte!“ Entsprechend heftig fielen die Reaktion zur damaligen Zeit gegenüber der Autorin aus ob der ‚Ungehörigkeit‘ solcher Gedanken.
Das war nur einer der dichten Momente dieses Frankfurter Premiere-Abends, der ebenfalls jeweils auf eine Stunde bemessen ist, was die Präsentation von Texten anbelangt. Vorgestellt wurde auch die erstmals 1905 in dem The Indian Ladies Magazine veröffentlichte Kurzgeschichte „Sultanas Traum“ einer Autorin aus Bangladesch, Rojeka Sakhavat Hossain (1880-1932), die die Geschichte eines ‚Ladylands‘ beschreibt, in dem die Männer gefangen gehalten werden, damit sie kein Unheil anrichten. Die auf Englisch geschriebene Erzählung „Sultanas Traum“ ist eines der ersten feministischen Utopien der Weltliteratur, in der die sowohl naturwissenschaftlich als auch sprachlich hochgebildete Autorin geradezu aktuelle Visionen eines ökologisch natürlichen und unaggressiven Staates entwickelt. Da wundert es nicht, dass sie kurz vor ihrem Tod mit 52 Jahren noch den Vorsitz auf der Konferenz indischer Frauen übernahm.
Auch beim anschließenden informellen Austausch im grünen Salon bei einem Glas Wein ging es im Anschluss sehr lebendig zu. Das Interesse und die Lust an der Erweiterung des bisherigen Literaturkanons der Moderne aus weiblicher Sicht war bei vielen Besuchern und Besucherinnen geweckt worden.
Eines wurde auch klar, dass man trotz des großen Buchumfangs von 924 Seiten, sich die Geschichten nach dem Zufallsprinzip herauspicken und lesen und dabei Entdeckungen machen kann, zumal man in der reichhaltigen Anthologie neben den Texten der einzelnen Autorinnen am Ende auch deren Viten präsentiert bekommt, was unweigerlich zu einer Erweiterung des Bewusstseins von Lebensumständen an den verschiedenen Ecken der Welt führt.
Sandra Kegel (Hrsg.)
Prosaische Passionen:
Die weibliche Moderne
in 101 Short Stories.
928 Seiten,
Manesse 2022
40,00 Euro