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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Festrede von Oberbürgermeister a. D. Andreas von Schoeler bei der Gedenkstunde zur Reichsprogromnacht am 9. November 1938

 „Keine von uns wird zurückkehren“ heißt der erste Teil einer Triologie der französischen Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebenden Charlotte Delbo. Es ist der Versuch, für das Unbeschreibliche Worte zu finden, die „ Verzweiflung jenseits der Verzweifelung spüren“ zu lassen, wie es in „Le Monde“ hieß. Ein Gedicht im ersten Teil dieser Triologie lautet:

Andreas von Schoeler Oberbürgermeister A.D., Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Ereignisse der Pogromnacht am 9. November 1938 in der Frankfurter Paulskirche, Foto: Holger Menzel

„Ihr, die ihr zweitausend Jahre geweint habt um einen, der drei Tage und drei Nächte starb

Welche Tränen werdet Ihr für die haben, die viel länger als
Dreihundert Nächte und viel länger als dreihundert Tage
gestorben sind
wie sehr
werdet Ihr um die weinen, die so viel Todeskämpfe durchlitten haben
und sie waren unzählige

Sie glaubten nicht an die Auferstehung zum ewigen Leben
Und sie wusste, dass Ihr nicht weinen würdet“.

Wir haben uns hier gemeinsam versammelt, um gemeinsam zu trauern und um des millionenfachen Leidens zu gedenken. Diese Gedenkstunde in der Paulskirche wird von der Stadt Frankfurt und der Jüdischen Gemeinde Frankfurt seit etwas mehr als 30 Jahren ausgerichtet. Sie will eine klare Botschaft aussenden: Das Erinnern an die Pogromnacht ist nicht „nur“ eine Sache der Jüdinnen und Juden in unserer Stadt, sondern aller Frankfurterinnen und Frankfurter. Die Vergangenheit vergeht nicht, sie bleibt gegenwärtig: für die Opfer, für die Überlebenden und für Ihre Nachkommen, für alle, die in Deutschland leben.

Der 9. November 1938 war der Tag, an dem in Frankfurt und überall in Deutschland die Synagogen brannten, Geschäfte von jüdischen Inhabern geplündert, Wohnungen, in denen jüdische Frauen, Männer, Kinder lebten, verwüstet wurden. Die Börne-Synagoge brannte. Das 1922 eröffnete Museum Jüdischer Altertümer wurde geplündert. Das Haus in der Fahrgasse beherbergte nicht nur das von der Jüdischen Gemeinde betriebene Museum. Dort war auch die Verwaltung der israelitischen Gemeinde, eine große Bibliothek und ein Archiv. Das Haus wurde verwüstet, viele Kulturgüter und Dokumente zerstört. Am Ende stand die völlige Zerstörung.

Die Pogrome wurden zum Anlass genommen, die Gesetze gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger weiter zu verschärfen – getragen von der Mehrheit der Bevölkerung, auch das gehört zur Wahrheit dazu. In der Folge wurden die Jüdischen Gemeinden zwangsvereinigt, viele Repräsentanten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verhaftet oder ins Konzentrationslager deportiert. Die Friedhöfe wurden zwangsweise der Stadt übertragen und von ihr kontrolliert. Die noch verbliebenen Gebäude der Gemeinde wurden 1939 der Stadt einverleibt, Mietverträge auf drei Jahre geschlossen – ein klares Zeichen für das, was man mit den Jüdinnen und Juden vorhatte. Im Herbst 1942 war nach den großen Deportationen in die Vernichtungslager in den Jahren 1941 und 1942 das grauenhafte Werk vollbracht. Am Sonntag, dem 6. November 1942 wurde die Gemeinde offiziell liquidiert. Das war vor 80 Jahren.

Brennende Synagogen, verwüstete Wohnungen, zerstörte Geschäfte, verhaftete und verschleppte Menschen – die Pogrome waren ein Fanal für noch viel schrecklichere Verbrechen. Das Buch von Saul Friedländer und Orna Kenan „Das dritte Reich und die Juden“ endet nach der Erzählung ganz vieler Schicksale mit einem in seiner Nüchternheit  schockierenden Satz: „Zwischen fünf und sechs Millionen Juden waren ermordet worden und von ihnen waren fast anderthalb Millionen jünger als 14 Jahre gewesen.“

Wir trauern mit denen, die nicht vergessen können, weil sie große Teile ihrer Familie, ihrer Vorfahren, Eltern, Großeltern verloren haben, weil ihr Leben unwiederbringlich von diesen barbarischen Taten gezeichnet ist. Und wir alle dürfen nicht vergessen, sondern müssen und wollen erinnern. „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“, konstatierte Primo Levi. Wir alle sind heute hier, damit es nicht wieder geschieht.

Gedenken heißt, die Anstrengung der Erinnerung auf sich zu nehmen, das Unbegreifliche immer wieder aufs Neue verstehen zu wollen und sich mit dem Scheitern daran nicht zu begnügen. Manch einer von uns mag sich schon einmal gefragt haben, ob Gedenkveranstaltungen wie diese, ob die Erinnerungsarbeit insgesamt denn einen Sinn habe, einen Erfolg erzielen, die Gesellschaft verändern könne. Denn in jedem Jahr, in dem wir uns am 9. November versammeln, sind immer neue, sich in ihrer Gewalttätigkeit und ihrem Hass steigernde antisemitische und rassistische Straftaten zu beklagen. Die Morde des NSU, Hanau, Halle sind die traurigen Fanale letzter Zeit. Sind wir gescheitert? Die Zahl rechtsextremistischer Täter steigt. Die Gewaltbereitschaft wächst. Eine demokratiefeindliche Partei wird in die Parlamente gewählt. Es gibt die Gefahr eines durch muslimische Einwanderung importierten Judenhasses und manch eine Kritik an der Politik Israels kann kaum noch antisemitische Klischees verbergen. War also alle Erinnerungsarbeit, alles Bemühen um einen vorurteilslosen, offenen und verständnisvollen Umgang zwischen Jüdinnen und Juden und Nicht-Juden vergeblich?

Ich möchte am heutigen Tag unser Augenmerk auf das richten, was wir erreicht haben. Ich selbst bin Jahrgang 1948. Geprägt wurde ich in den 60er Jahren. In dieser Zeit versuchte die übergroße Mehrheit der Deutschen, alles zu beschweigen und zu vergessen, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war. Der Ruf nach einem Schlussstrich war laut. Zu einer nachdenklichen Erinnerung an eigene Schuld und gesellschaftliches Versagen waren nur sehr, sehr wenige bereit. Die Ausreden fürs Mitmachen in der NS-Zeit waren bei der übergroßen Mehrheit vielfältig.

Es bedurfte mutiger Männer und Frauen, um das zu ändern. Einige wenige davon, die mir wichtig waren und sind, möchte ich nennen: Als ersten natürlich Fritz Bauer. Nicht nur wegen des von ihm durchgesetzten Auschwitz-Prozesses, sondern schon Jahre zuvor mit dem viel beachteten Prozess gegen den ehemaligen Generalmajor Remer, der Hitlerattentäter als Hoch- und Landesverräter verunglimpft hatte und gegen den Bauer erfolgreich in Braunschweig Anklage erhob. Nennen möchte ich auch Ralph Giordano. Nie werde ich seine Berichterstattung über die NS-Prozesse in den späten 50-er und 60er Jahren vergessen, die er im Auftrag des Zentralrates der Juden in Deutschland verfolgte. Er berichtete z.B. darüber, dass die als Zeugen geladenen Überlebenden der KZ´s sich Beschimpfungen der Zuhörer gefallen lassen mussten, während die angeklagten Täter Beifall bekamen. Zu nennen ist Trude Simonsohn, die die Kraft aufgebracht hat, immer wieder Zeugnis über Theresienstadt und Auschwitz abzulegen. Trotz allem, was sie in der Nazizeit erleiden musste, begegnete sie ihren Mitmenschen, besonders den Jugendlichen mit großer Herzenswärme. Eine unglaublich starke und dabei fröhliche Frau!  Es wären viele andere zu nennen. Ich möchte mich auf einen beschränken, nämlich Ignatz Bubis s.A. Er hat seine Stimme wie kein anderer erhoben, um die Erinnerung an die Shoah aufrechtzuerhalten. Er hat gegen Judenhass und Vorurteile gekämpft. Und er hat sich ebenso mit allen Kräften gegen Angriffe auf nicht-jüdische Minderheiten gewehrt. Nicht nur in Hoyerswerda. Das ist unvergessen, hat ihn zu einer moralischen Instanz werden lassen.

Ich denke, Männer und Frauen wie Fritz Bauer, Ralph Giordano, Trude Simonsohn oder Ignatz Bubis  – und diese sehr subjektive Auswahl steht für viele andere – haben Deutschland verändert. Wir leben heute in einem Land, das sich in seiner Mehrheit der Vergangenheit stellt, für den demokratischen Rechtsstaat einsteht und Judenhass nicht zulassen will. Ich bin nicht naiv. Wir alle wissen, dass diese Demokratie in unserem Land und in vielen Ländern der Welt bedroht ist. Und wir wissen, dass die Demokratie nicht selbstverständlich so bleiben wird, sondern dafür Einsatz notwendig ist.

Deshalb freue ich mich darüber, wenn sich Schulklassen des Themas annehmen. Ich freue mich über die zahlreichen Geschichtsinitiativen, über Unternehmen und Behörden, die ihr Verhalten in der Zeit zwischen 1933 und 1945 untersuchen lassen. Ich denke, es gibt viele Gründe, diese Initiativen zu ermutigen und zu sagen: Machen Sie weiter. Sie bewirken damit etwas.

Mit Freude habe ich vor einigen Tagen in der FAZ gelesen, dass die 10. Klasse der Albert-Einstein-Schule in Schwalbach am Taunus mit einer Filmreihe über verschiedene Jüdinnen und Juden aus Frankfurt und der Region im Berliner Jüdischen Museum den Rolf Joseph Preis gewonnen hat. Die von den Schülerinnen und Schülern erstellte Dokumentation stellt einzelne Personen vor und konfrontiert ihr Publikum unter dem Titel „Alles koscher?“ auf charmante Weise mit ihrer eigenen Unkenntnis. „Was unterscheidet eine Synagoge von einer Kirche?“ Woher kommt der Ausdruck „Schmiere stehen“ – vom hebräischen „Schmira“, der „Wache“. Festredner des Abends war der dreißigjährige Yan Wissmann, der als Enkelkind deutscher Juden in Brasilien aufwuchs und erst seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Mit einem Zitat aus seiner Laudatio möchte ich heute enden und meinen Optimismus unterstreichen, dass wir gemeinsam etwas verändern können:

„Wir brauchen eine vielfältige Wahrnehmung des Jüdischseins in diesem Land für eine normale Zugehörigkeit der jüdischen Gemeinschaft in der breiteren Gemeinschaft. Wir brauchen lässige, lockere Begegnungen zwischen Juden und Nicht-Juden. Wir brauchen weniger Theater in der Interaktion von Medien mit Juden. Wir brauchen weniger Sonntagsreden und leeres Mitleid gegenüber Opfern von Antisemitismus und mehr persönlichen Einsatz durch Nichtjuden, um einen jüdischen Mitbürger im Notfall zu verteidigen. Wir brauchen mehr Menschlichkeit, um Juden zu einem normalen Teil des Landes zu machen, denn sie sind nur das: normale Menschen.“

 

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