Georg-Büchner-Preis für Emine Sevgi Özdamar
1001 Zungen auf der Waage
Von Petra Kammann
Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hat am 5. November im Staatstheater in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhalten. Mit der in der Türkei geborenen Schriftstellerin, Schauspielerin und Theaterregisseurin zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine herausragende Autorin aus, der die deutsche Sprache und Literatur neue Horizonte, Themen und einen hochpoetischen Sound verdanke, so die Jury, der für ihre Wahl auch ein Lob gebührt. Emine Sevgi Özdamar ist die zwölfte Frau, die ausgezeichnet wird. Als Preisträgerin folgte sie dem österreichischen Schriftsteller Clemens J. Setz.
Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für Emine Sevgi Özdamar, Foto: Petra Kammann
Wie unkonventionell, aufnahme- und anpassungsfähig und wie eigen-sinnig zugleich die Sprachkünstlerin Emine Sevgi Özdamar ist, bewies schon ihre Vorstellungsrede, als sie sich 2007 um die Aufnahme in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung bewarb und das von Kurt Weill vertonte Volksgedicht an den Anfang ihrer Rede stellte, denn ein Ohr hat sie immer auch am Volk:
„Ick sitze da un’ esse Klops
Uff eenmal klopp’s.
Ick kieke, staune, wundere mir, uff eenmal jeht’se uff, die Tür.
Nanu, denk ick, ich denk: nanu, jetzt is’se uff, erst war’se zu!
Ick jehe raus, un blicke
Un wer steht draußen?
Ikke!
Es gibt in der Türkei, in der Stadt, wo ich geboren bin, kein Klops, aber ‚uff eenmal klopp’s‘ gibt es. Ich klopfte ‚uff eenmal‘ im Bauch meiner Mutter, an einem Augusttag. ‚Nanu, denk ick, ich denk nanu, jetzt is’se uff, die Tür, erst war’se zu'“.
Nun hat sich seit ihrer Geburt so manches mal eine neue Tür aufgetan für die experimentierfreudige Schriftstellerin und Schauspielerin, die nicht nur mühelos biographisch wie sprachlich den Spagat zwischen Berlin und Istanbul und zwischen Paris und Istanbul schaffte.
Diesmal war es der Dramatiker und Revolutionär Georg Büchner, der ihr die Tür geöffnet hat, hin zu ihrer frühen Kindheit und zu ihrem Ankommen in Deutschland in den 1960er Jahren, ist er doch der Namensgeber des renommierten Preises. Büchner, 1813 im Großherzogtum Hessen geboren, starb gerade mal 24-jährig 1837 in Zürich. Für Özadamar sei der frühe Tod ihres älteren Bruders von Kindheit an schon allein deshalb ein Thema gewesen sei, weil er ihr nicht den „Weg habe leuchten“ können, als sie es als Heranwachsende gebraucht hätte.
Laudatorin Marie Schmidt, Foto: Petra Kammann
Ihre Laudatorin, die Literaturkritikerin Marie Schmidt, erläuterte Özadamars literarische Methode so: „Ihre Figuren reichen sich Sätze und Gedichte durch die Sprachen weiter, durch Griechisch, Französisch, Deutsch, Türkisch, Arabisch, Spanische“. Ihre „Mutterzunge“ beeinflusst sie ebenso sehr wie die „Großvaterzunge“, ganz abgesehen von den Sprachen der Länder, in denen sie die Fremde ist und das Fremde aufnimmt.
Gleich, ob man die realistisch-surrealen Romane von Özdamar liest oder sich in ihren spezifischen Sound einhört: unmerklich folgt man ihrem Ufer- und Länderwechsel wie auf dem Schiff zwischen Asien und Europa in Istanbul, wo man dem Kreisen und Kreischen der Möwen und ihrem Schatten folgt oder ob man Anteil nimmt an ihren Monologen und inneren Dialogen mit ihren Freunden Brecht und Heine, Rimbaud und Edith Piaf, Trugst Umar und Nâzim Hikmet, Wolfgang Hilbig und Ecke Cyan, von dem sie Autorin sagt, der sei ihr türkischer Rimbaud.
Es sei auch „die Körpernähe“, das „Spiel mit den Rollen der Sprachen, der Sinn für die Bühnenbilder der Welt in Özdamars Kunst vollkommene Sache des Theaters. Ich kenne in der Literatur deutscher Sprache kein vergleichbares Hybrid aus Dichtung, Prosa und Drama wie dieses, ihr Werk“, beurteilt Marie Schmidt deren Gesamtwerk.
Akademiepräsident Ernst Osterkamp, der die Begründung der Jury verlas, Foto: Petra Kammann
Und in der Geschichte des Büchners-Preises ist Özdamars unmittelbare persönliche Annäherung und geradezu familiäre Aneignung sicher einmalig. Bewegend war es zu erleben, wie persönlich die Autorin ihre Dankesrede Büchner widmete, indem sie ihn für sich als eine Vorbild- und Bruderfigur darstellte.
„Jeder hat im Himmel einen persönlichen Himmel, in dem nicht nur die Sterne, sondern auch die Menschen, die uns sehr berührt haben, ständig leuchten. Einer davon ist mein Bruder Georg Büchner“, sagte Özdamar anlässlich der Verleihung. Und weiter:„Meine große Sehnsucht, mein Bewusstsein zu erweitern, zu lesen, zu lernen, hatte mit Büchner zu tun“.
Ihre Großmutter aus Kappadokien, die weder des Schreibens noch des Lesens mächtig war, habe nicht einmal seinen Namen gekannt. Ihr selbst sei der Name Büchner auch erst spät, 1966, zum ersten Mal in Berlin begegnet, indirekt durch den Vater eines Freundes. Und da habe sie schlicht mehr über diesen Dichter erfahren wollen und den „Woyzeck“ gelesen. Sie kehrte nach Istanbul zurück, ging auf die Schauspielschule.
Immer nimmt sie uns völlig selbstverständlich mit auf ihre Reisen, ihre Fähren, ihre Auto- und Zugfahrten, auf die Brücke nach Istanbul und auf die Bühnen in Ost- und West-Berlin, zu Claus Peymann, zu Benno Besson nach Paris, auf die „Karawansereien“. Ihr Roman „Das Leben ist eine Karawanserei: hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“, für den sie 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, gehört sicher zu ihren bekanntesten Büchern .
Ihre Fabulierlust, die sich schon in diesem ungewöhnlichen Titel ausdrückt, hat etwas Orientalisches – und auch wieder nicht. Über die türkischen „Gastarbeiter“ sagt sie nüchtern beobachtend: „Ich sehe immer zwei Personen vor mir. Einer ist Gast und sitzt da, der andere arbeitet.“ … So geht es auch in ihrem jüngsten Werk zu, in dem stark autobiographisch gefärbten Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“, der 2021 erschien. Er war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Der Magie stellt sie immer wieder kritisch Realitäten gegenüber. Und wenn man sich einmal auf ihren so realen wie poetischen Kosmos eingelassen hat, kann man nicht mehr aufhören zu lesen.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) lobte Özdamar als „sprachmächtige, meisterhafte Erzählerin“, die die deutsche Literatur um neue, andere und überraschende Perspektiven bereichert habe.
Das hat sie in der Tat, aber nicht nur sprachlich. Es ist auch ihr sehr eigener Sound, ihre unmittelbar körperlich-sinnliche Wahrnehmung der Welt, die sie auf eine Weise dynamisiert, dass nichts mehr so ist, wie wir es auf den ersten Blick, auf die erste Berührung, den ersten Geruch oder das erste Geräusch erleben, und sie hat unsere Lust am Erzählen angestachelt, die sich um keinerlei Erzähltradition oder gar -konvention schert.
Emine Sevgi Özdamar
„Ein von Schatten begrenzter Raum“
Roman.
Suhrkamp
Biographisches über Emine Sevgi Özdamar
Emine Sevgi Özdamar, geboren 1946 in Malatya (Türkei), wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Als 18-Jährige kam sie zum ersten Mal nach Deutschland. 1976 ging sie für eine Regieassistenz an die Volksbühne nach Ost-Berlin, Mitte der siebziger Jahre dann nach Berlin und Paris und arbeitete mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Sie übernahm zahlreiche Filmrollen und schreibt seit 1982 Theaterstücke, Romane und Erzählungen. Emine Sevgi Özdamar lebt heute in der Türkei und in Berlin.
Seit 1951 vergibt die Akademie den Preis an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in deutscher Sprache schreiben. Die Preisträger sollen „durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten“ und „an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben“, heißt es in der Satzung. Die Auszeichnung ist mit 50.000 Euro dotiert und wird vom Bund, dem Land Hessen und der Stadt Darmstadt finanziert.
Letzte Preise
Düsseldorfer Literaturpreis 2022
Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim 2021
Preis der Leipziger Buchmesse 2022 (Shortlist)