Eindringlich wie nie zuvor: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Serhij Zhadan
Unerschrocken, mutig und voller Empathie
Minutenlanger Beifall nach der Dankesrede des Autors
Von Uwe Kammann
Zur Eröffnung der Buchmesse war der Bundespräsident gekommen, zum Abschluss hätte er kommen müssen. Die geplante Reise nach Kiev hatte er zuvor abgesagt, aus Sicherheitsgründen. Was hätte ihm in der Paulskirche passieren können, bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan? Nun, nichts Lebensbedrohliches. Wohl aber das, was wohl allen der Gäste an diesem besonnten Sonntag naheging: eine intensive Berührung, vielleicht auch eine Zumutung durch zwei Reden, wie es sie in dieser Form, auch in dieser Kombination noch nie gegeben hatte in der nun schon langen Geschichte des Preises.
Der diesjährige Friedenspreisträger Serhij Zhadan kam aus Charkiw, Foto: Petra Kammann
Denn während bisher in vielfach variierter Theorie-Konstellation von Frieden und Freiheit die Rede war, natürlich auch von allen Bedrohungen des Ideals – durchaus nicht nur im hohen Ton, aber in der Regel doch auf einer Folie der feierlichen Beschwörung –, war auf einmal die Sprache direkt, radikal, hart. Weil sie sich einer harten Realität stellen musste, stellen wollte: einem Krieg. Einem Krieg in all seiner Grausamkeit, mit all seinem Morden, seiner Zerstörung, seiner Brutalität, seinem Vernichtungsfuror. Und dies, wenn man realistisch ist, nur unweit der Paulskirche, und somit unmittelbar mit ihr verbunden, so wie auch mit der Gesellschaft, für die sie steht, die für sie steht.
Beifall für das Erinnern an die simbabwische Friedenspreisträgerin 2021 Tsitsi Dangarembga, die auf Gefängnisstrafe mit Bewährung verklagt wurde, Foto: Petra Kammann
Zhadan – der Autor und Musiker, der Helfer an der ukrainischen Front ebenso wie an den Orten des geschundenen Zivillebens in seiner Heimatstadt Charkiw – ersparte dem Paulskirchen-Publikum (und damit uns allen) nichts. Nicht in der harten Beschreibung des Kriegs, der nicht erst seit dem russischen Überfall in diesem Februar zur Realität der Ukraine gehört; und auch nicht in der Zuschreibung dessen, was er auslöst an Empfindungen, Gedanken, Reaktionen. Was zu fundamentalen Sätzen führt wie folgendem: „Die Unmöglichkeit, frei zu atmen und leicht zu sprechen, das ist es, was die Wirklichkeit des Krieges fundamental von der Wirklichkeit des Friedens unterscheidet.“
Was aber bei ihm – dem Autor, dem Übersetzer, dem Journalisten – nicht zum Verstummen führt, nicht zur Geste des hilflosen Zuschauens. Ganz im Gegenteil. „Sprechen muss man. Selbst in Zeiten des Krieges. Gerade in Zeiten des Krieges.“ Dass es geht, wie es geht, beweist er in jedem Wort, in jedem Satz, der wie gemeißelt klingt in seinem klaren Deutsch, dessen Tonalität und Färbung seinen eigenen Sprachraum spiegelt – auch dies macht die Rede so eindrücklich. Genauso wie die Fragen, inwieweit Europa bereit ist, sich der neuen Wirklichkeit zu stellen, zu der Massengräber gehören.
In seinen Fragen stecken auch Anklagen, wie jene, die sich an europäische Intellektuelle und Politiker richtet, wenn sie einen schnell geschlossenen Frieden „um jeden Preis“ das Wort reden, den Widerstand der Ukrainer nicht anerkennen. Weil sie, wie er es einfach diagnostiziert, unter dem Vorwand des Pazifismus, der die Opfer ausblendet, an ihrer Komfortzone hängen.
Die Laudatorin Sasha Marianna Salzmann, Foto: Petra Kammann
Auch eindringliche Bilder gehören zu Zhadans Rede. Wie jenes von den Augen, welche uns jetzt „aus jeder Gemeinschaft, aus jeder Menge herausheben“: „Sie fangen das äußere Feuer ein und haben von nun an immer diesen Widerschein.“ Und immer wieder beschwört er die Sprache, die zwar – wie alle Kunst – keine Kriege beenden könne; die aber hoffen lasse, dass „in Zukunft keine unausgesprochenen Dinge oder Missverständnisse zwischen uns stehen.“ Und weiter: „So lange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns zu erklären, unsere Wahrheit zu sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können.“
Welche Kraft in Zhadans Sprechen, Schreiben, Handeln steckt, das hatte zuvor in ihrer Laudatio die Berliner Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann in einer kongenial-intensiven Laudatio beschrieben. In einer Zeit, „in der Worte, Positionen, Urteile uns wundreiben bis aufs Fleisch, schafft dieser Dichter Momente des Aufatmens durch radikale Menschlichkeit“, so charakterisiert sie an einer zentralen Stelle eine Haupteigenschaft des noch jungen, 1974 geborenen Friedenspreisträgers.
Auch Salzmann relativiert: Prosa und Poesie, Kunst überhaupt könnten nicht die Welt retten, keine Kriege gewinnen, keine Heilsverprechen liefern. Aber damit verbunden seien Momente des Aufatmens, des kurzen Luftholens. Und das sei „immer ein Zeichen der Hoffnung.“
Herzliche Umarmung der Laudatorin, Foto: Petra Kammann
Beide, Zhadan und Salzmann, umarmen sich nach der Laudatio für mehr als nur drei Momente der westeuropäischen Höflichkeit. Es ist ein inniges Verständnis, geprägt auch durch Erfahrungen des Lebens auf der anderen Seite des Kontinents, jene, die vom Westen kaum oder nur mit engem Vorverständnis betrachtet wurde. Salzmann wurde 1985 in Wolgograd geboren, wuchs in Moskau auf, bevor sie 1995 nach Deutschland emigrierte.
Die Laudatio zeigt, wie genau sie alle Züge und Winkel in Zhadans so vielfältigem Werk kennt. Und sicher wird sie mit einer Feststellung alle verblüfft haben, die genau dieses Werk nur aus der heutigen Perspektive, aus der Zone des kämpferischen Engagements beurteilen. „Dieser Autor ist kein Realist, eher ein hoffnungsloser Romantiker – leidenschaftlich gerne beschreibt er den Himmel, den tauenden Schnee, die ihre Farbe wechselnden Kronen der Bäume.“ Zugleich zeigt sie eine andere Eigenschaft des Autors auf: diejenige des Sammlers und Erfinders zahlreicher Tagebücher, die er führe für jene, „die unbemerkt wieder aus der Menschheitsgeschichte verschwinden“: „Diesen Individuen, fiktiven wie realen, widmet er sein gesamtes Werk.“
Diesen Kern, diesen unverbrüchlichen Humanismus fern aller Sonntagsreden, den spüren alle in der Paulskirche. Und erheben sich nach der Dankesrede Serhij Zhadans sofort, um einen Beifall zu spenden, wie es ihn in der Paulskirche in dieser Form noch nie gegeben hat für einen Friedenspreisträger. Minutenlang dauert er, Ausdruck sicher auch des Gefühls, so direkt wie noch nie erlebt zu haben, was es heißt, in einer lebensbedrohlichen, existentiellen Phase, wie sie in Europa nicht vorstellbar schien, einem Menschen zu begegnen, der eine hohe Kraft verkörpert, in intensivster Form: die Kraft eines unbeugsamen Lebenswillens, zu dem ein ebenso unbeugsamer Widerstand gegen alle gehört, die ein solches selbstbestimmtes Leben zerstören wollen.
Lange standing ovations für den Preisträger Foto: Petra Kammann
Der Blumenschmuck neben dem Rednerpult in der Paulskirche war in ein Drahtgeflecht gehüllt. Das Gelb der Blüten leuchtete hindurch, so wie glänzendes Oktoberlicht die Paulskirche erhellte. Fast wie bei jener Preisverleihung im Jahr 1989, als der Schauspieler Maximlian Schell für den in Prag unter Hausarrest stehenden Václav Havel einen unvergesslichen Satz sprach: Der Gummiknüppel werde nicht das letzte Wort haben. Dieses Mal allerdings geht es um Tod, Zerstörung, Vernichtung, Barbarei. Diesem unmittelbaren Ernst konnte sich niemand an diesem Sonntag entziehen. Auch dies klang im Beifall mit. Der Bundespräsident wäre am richtigen Platz gewesen.
Eine Chronik der ersten vier Kriegsmonate
Serhij Zhadan
Der Himmel über Charkiw
Nachrichten vom Überleben im Krieg
Suhrkamp