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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Deutscher Buchpreis: Finalisten-Lesung und Diskussion im Schauspiel Frankfurt

Bewegte und bewegende Lebensgeschichten

Von Petra Kammann

Alle sechs nominierten Autori:nnen der Shortlist lasen im Schauspiel Frankfurt im lichtdurchfluteten Haus bei strahlendster Oktober-Sonne. Eine gelungene Matinee und ein starker und erhellender Auftritt im dunklen Zuschauerraum. Wer von ihnen wird wohl gewinnen? Für die Jury keine ganz leichte Entscheidung. Sie alle waren starke Persönlichkeiten, die sich bestens darstellen konnten. Und keines der präsentierten Bücher, so unterschiedlich sie auch waren, konnte einen kalt lassen. Spannend moderiert wurden sie außerdem auch von: Alf Mentzner (hr), Sandra Kegel (FAZ) und dem freien Literaturkritiker Christoph Schröder.

Die Finalisten, v.l.n.r.: Daniela Dröscher, Kim de l’Horizon, Fatma Aydemir, Kristine Bilkau, Eckart Nickel, Jan Faktor; Foto: Petra Kammann

„Die Buchbegeisterung braucht auch Diskurs!“, sagte Karin Schmidt-Friedrichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, in ihrer Begrüßungsrede im prallgefüllten Frankfurter Schauspiel, wo sich erstmals alle Finalisten präsentierten, voller Vorfreude auf die bald beginnende Frankfurt Buchmesse. Sie traf damit voll ins Schwarze, weil sich genau das in den anschließenden lebendigen Gesprächen mit den drei Moderator:innen auch bewahrheitete. Und wer wird der/die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises sein? In knapp einer Woche wissen wir mehr, wenn der Preis im Frankfurter Römer bekanntgegeben wird. Literaturbegeisterte können auch online dabei sein, wenn der Roman des Jahres gekürt wird: Die Verleihung des Deutschen Buchpreises wird nämlich am 17. Oktober 2022 um 18 Uhr auf www.deutscher-buchpreis.de live aus dem Frankfurter Römer übertragen.

Begrüßungsrede der Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Karin Schmidt-Fridrichs, Foto: Petra Kammann 

Sonja Vandenrath vom Kulturamt der Stadt erinnerte an die Anfänge der Veranstaltung „Deutscher Buchpreis“ 2008, wo noch nach einer Großen Bühne für alle Nominierten gesucht wurde und sie mit der Idee zu Maria Gazetti, der damaligen Leiterin des Literaturhauses, gepilgert sei… Inzwischen ist die Kooperation mit dem Literaturhaus Wirklichkeit geworden. Und Hauke Hückstedt, der jetzige Leiter, hieß vor allem die Autorinnen und Autoren an diesem strahlenden Morgen willkommen.

Die Autorin und taz-Redakteurin Fatma Aydemir, Foto: Petra Kammann

Der Moderator Alf Mentzer sprach mit der Autorin Fatma Aydemir, deren Großeltern als türkische Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren, über Aydemirs Roman „Dschinns“, den Mentzer als Familienroman bezeichnete. Es ist die Geschichte des Protagonisten Hüseyin, die geprägt ist von harter Arbeit, Entbehrung, Einsamkeit und der Sehnsucht nach einem anderen besseren Leben, ein Traum, der sich im fortgeschrittenen Alter endlich auch zu erfüllen scheint. Er erwirbt eine Eigentumswohnung in Istanbul. Doch kurz darauf stirbt Hüseyin an einem Herzinfarkt.

Nacheinander reisen seine Frau Emine, seine Kinder Ümit, Peri, Sevda und Hakan nach Istanbul zur Beerdigung. Etwas Unheimliches verbindet sie: ihre Verletzungen, Verstrickungen und Wünsche, die nun wieder wach werden. Und woher  der Titel „Dschinns“ komme, die ja gefürchtete, geisterähnliche Wesen seien? Ja, im Nahen Osten seien das „Wesen, die wir nicht sehen können, die aber unter uns leben“. Dschinns müssten als Erklärung für allerlei Aberglauben herhalten, vor allem auch als Erklärung für Außenseiter. Und die Menschen hätten Angst davor, sich versehentlich einen unheimlichen Dschinn einzufangen, meint die Autorin.

Und so habe sie erfahren, dass diese Familienmitglieder, die anlässlich der Beerdigung zusammenkamen, „Dischinns“ ebenso sehr wie die Wahrheit fürchten, da sie sehr viel voreinander zu verbergen hätten. Ob ihrer Meinung nach die Familie denn die Idealform des sicheren Lebens sei, wie es oft dargestellt werde, fragt Alf Mentzer die Autorin. Diese Vorstellung habe doch auch Risse bekommen habe, bemerkt die Autorin, die im Alltag als Redakteurin bei der taz arbeitet und immer auch dort viel recherchiert habe. Und natürlich habe sie mehr über die erste Generation der türkischen Einwanderer erfahren wollen.

Der tschechisch-deutsche Autor Jan Faktor mit Sinn für schwarzen Humor, Foto: Petra Kammann

Im Gespräch mit Sandra Kegel spricht der 1951 in Prag geborene Autor Jan Faktor über die allumfassende Unzulänglichkeit des Trottels – so nämlich der Titel seines autobiografisch gefärbten Romans, denn ein „Trottel“ sei nun mal kein Schelm. Aber mit dem Leben eines Trottels und dessen Glücksstreben sei eben Segen und Fluch verbunden. Dass der tschechisch-deutsche Schriftsteller den Alltag und die Sprache dabei ständig auseinandernimmt, bisweilen ad absurdum führt, hängt wohl damit zusammen, dass die Palette seiner Erfahrungen groß ist, der gelernte Programmierer zunächst alle möglichen Berufe, von Kindergärtner bis Schlosser ausübte, und Deutsch erst von Grund auf lernen musste. Denn er war 1978 aus Liebe zu seiner späteren Frau in die DDR nach Ostberlin emigriert.

So geht es in seinem Roman „Trottel“ um das Leben in Prag und Ostberlin in den 70er- und 80er-Jahren und damit auch um die daraus resultierenden sprachlichen Tücken. Dabei hatte der Autor Ostberlin im Verhältnis zu den Folgen des Prager Frühlings zunächst geradezu als freiheitlichen Hort erlebt. Der Nonkonformist wanderte bald schon in die literarische Untergrundszene der DDR ab und war zur Zeit der Wende beim Neuen Forum, um sich anschließend wieder mit der ostdeutschen und osteuropäischen Identität auseinanderzusetzen.

Der Mutter seines Sohnes und seinem Sohn habe er das Buch gewidmet. Die Mutter habe es aber nicht lesen wollen, sagte er in dem Gespräch. Denn weder im Buch noch im Gespräch wurde der reale Suizid des einzigen 30-jährigen Sohnes ausgespart. Faktor spricht lieber von „Selbstmord“, denn es sei ja nun mal ein Mord gewesen, sagte er. Trotzdem gibt es auch komische Elemente im Roman, die das „Schwere“ leichter machen. Und er erzählt davon, dass er, aufgewachsen ist zwischen lauter jüdischen Tanten und Großmüttern im großbürgerlichen Prag der 60er Jahre, die immer wieder deren absurde und komische Anekdoten über ihr Leben in Theresienstadt erzählten, bei denen man lachen musste, obwohl man eigentlich nur hätte weinen können. Aber alle hätten aber immer wieder herzhaft gelacht, so wie eigentlich auch sein Sohn sehr gern gelacht hätte. Und es hülfe ihm ja auch nicht mehr, wenn er, der Autor, deswegen in Gram verfallen wäre… So ist das Lachen vordergründig immer da, während die Tragik aus dem Hintergrund aufblitzt und einen nicht loslässt. Ein Ritt auf der Messerklinge.

Kim de l’Horizon, Foto: Petra Kammann

„Blutbuch“ lautet der doppelbödige Titel des Debütromans von Kim de l’Horizon. Es sei eigentlich „ein Hexenkessel, in dem alles Platz hat“, kitzelt der Literaturkritiker Christoph Schröder aus Kim heraus, auch, dass Scham wohl die stärkste und genaueste Kraft der Erinnerung sei. Mit Schmerz und Scham erarbeite Kim sich daher einen ganz eigenen Textkörper mit berndeutschen und französischen Einsprengseln. Die non-binäre Erzählfigur, fluide zwischen Mann und Frau, schreibt einen langen Brief an die Großmutter, die an an Demenz erkrankt ist und möchte sie, solange ihr Bewusstsein noch funktioniert, über Dinge sprechen, über die nie geredet wurde. Er möchte sie über seine sexuelle Orientierung aufklären und um sich auf diese Weise mit seiner eigenen geschlechtsspezifischen Identität auseinanderzusetzen und nach möglichen Ursachen zu forschen.

„Unsere Körper sind alles Archive und wir tragen alles mit“, sagte Kim de l’Horizon einmal in einem Interview auf Bayern 2. Die Erzählfigur bezeichnet sich dabei weder als Mann noch als Frau, sondern gewissermaßen als „es“ und gelangt auf diese Weise zu einer Art experimenteller Familiengeschichte, die auch ein Kapitel über das Wesen der Blutbuche im Garten der Großmutter („Grossmeer“) einschließt, welche das „es“ geradezu kulturgeschichtlich erkundet. Da steht nämlich die Blutbuche als eine Art botanischer Metapher für den Stammbaum der Familie. Genau diese kulturgeschichtliche Beschäftigung wurde in Besprechungen kritisiert, und man bemerkte Kim die geradezu kindliche Freude und das Gerührtsein an, als Christoph Schröder den kulturgeschichtlichen Einschub positiv herausstellte. Da lautete Kims Kommentar: „Ach ja, das hat Dir das wirklich gefallen? Wie schön!“

Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“, Moderation: Sandra Kegel, Foto: Petra Kammann

Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“ spielt in der kleinbürgerlichen Hunsrück-Welt eines rheinlandpfälzischen Dorflebens der 1980er Jahre, wo die immer dicker werdende Mutter (sie ist so dick „dass sie in keinen Sarg hineinpasst“) die Wahrheit immer einmal wieder ein wenig zurechtbiegt (eben: Die Lügen der Mutter). Das ganze, damit verbundene Unbehagen erzählt die Autorin aus der kindlichen Perspektive. Lügt die Mutter oder sind es die Lügen, die über sie verbreitet werden? Darf man lügen? Lügt sie vielleicht aus Not wegen des unter der Fuchtel des patriarchalischen Ehepartner Stehens einerseits, und andrerseits wegen des unter ständiger Beobachtung Stehens durch die Schwiegereltern, die nur eine Treppe tiefer wohnen und einen gemeinsamen Briefkasten haben, oder vielleicht, weil sie irgendwie nicht dazugehören. Denn die Familie stammt aus Schlesien und ist mit dem sechsjährigen Kind nach Rheinland-Pfalz gezogen.

Sandra Kegel vergleicht die mentale Überforderung des Kindes, die Gefangenheit in der Situation des permanenten gesellschaftlichen Drucks und die Doppelbelastung der Mutter mit Annie Ernaux‘ Lebensgeschichte. Unterbrochen wird die Erzählung von essayistischen Passagen. Im Nachhinein versucht die Autorin, Erklärungsstrategien für die Stigmata des Nicht-Passenden zu finden, das immer über der Familiensituation schwelt („das Unglück lag wie Blei auf meinen Schultern“) die das Kind beunruhigt haben. So durften etwa bis 1977, dem Zeitpunkt der Geburt Dröschers, Frauen ohne die Erlaubnis des Ehemanns nicht einmal berufstätig sein. Die Mutter hat sich zwar nach und nach beruflich gegenüber dem ständig über sie nörgelnden und karrierebewussten Ehemanns emanzipiert, Fremdsprachen gelernt, kann das aber nicht für sich nutzen, erringt nicht mehr als eine geringe finanzielle Unabhängigkeit. So wehrt sich ihr fremdbestimmter Körper bis zuletzt gegen die Welt der Bausparverträge und Kalorientabellen…

In Kristine Bilkaus Dorfroman „Nebenan“ geht es eher um die Leere der Häuser, der Seelen und des Körpers der Protagonistin Julia und ihrer Gegenspielerin, der so taffen wie extrovertierten Ärztin Astrid, zunächst vor allem um Julias ungestillte Sehnsucht nach Fülle. „Ich sehne mich nach einem kleinen Lebensradius, der so wenig Schaden anrichten würde wie möglich.“ Und das Ganze in einer Landschaft sterbender Dörfer und Kleinstädte im hohen Norden Schleswig Holsteins, wo massiver Leerstand, Abriss, Einsturz, abgesackte Fundamente das Bild beherrschen. Das Leben der 38-jährigen Julia ist ganz auf das Erwarten eines eigenen Kindes gerichtet ist, Schließlich tickt die biologische Uhr und etliche ihrer Freunde und Bekannten sind inzwischen schon längst Eltern.

Dem Moderator Alf Mentzer, der selbst aus Schleswig-Holstein stammt, ist das dortige Leben vertraut, das bestimmt ist von „Zögern, Zweifeln, Schweigen“. Dabei leben Julia, die eigentlich aus Hamburg kommt und ihr Partner Chris, der Biologe und Umweltaktivist, sehr vernünftig und angepasst. Sie verzichten auf Fleisch, auf ein Auto, auf Plastik und tun alles, was gerade angesagt ist, um eine gesunde Zukunft zu ermöglichen. Manchmal hätten sie aber eben doch gern ein Auto, weil es bequemer wäre zum Einkaufen oder wenn sie zum Arzt nach Hamburg fahren müssen. Ihre Freundin Astrid, die Landärztin, die die ihre Energien auf das Außen richtet und Entscheidungen, für sich und für ihre Patienten treffen muss, ist das komplette Gegenteil. Doch verbindet beide Protagonistinnen die Leere, aus der Leere sie nicht herauskommen. Die scheinbar so vernünftige Welt grundiert atmosphärisch den gesamten Roman, bietet aber weder Geborgenheit noch löst sie Heimatgefühle aus oder gar die Gewissheit, irgendwo emotional „aufgehoben“ zu sein.

Eckhart Nickel „Spitzweg“, Foto: Petra Kammann

Spitzwegs Hagestolz war es wohl, der den Frankfurter Autor Eckart Nickel zu seinem dritten Buch „Spitzweg“ inspiriert hat. Dabei sagt der namenlose Erzähler: „Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.“ Hingegen Carl, sein bewunderter Freund und Klassenkamerad, steckt ihn mit seiner Spitzweg-Begeisterung an. In Kirsten, der Superbegabten, die aber von ihrer Kunstlehrerin kritisiert wird, ist der Erzähler heimlich verliebt. Wie auf dem Bild von Spitzweg, wo Hagestolz auf das Paar in der Landschaft herabschaut, handelt es sich um eine verkappte Dreiecksbeziehung, um die Geschichte dreier junger Menschen, die alle drei auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft sind, den sie gerne erringen würden,  ohne sich dabei zu sehr an gesellschaftliche Norman anzupassen.

Dabei treten alle Romanfiguren verkleidet als Gestalten aus Gemälden. Was macht Kunst mit uns? Und was machen wir mit der Kunst? Wie können wir Kunst in unser Leben integrieren? lautete denn auch die Frage des Moderators Christoph Schröder. Schon der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sprach häufig über die Dichotomie: ,Die Kunst und das Leben‘. Fragen, die zweifellos sämtliche Finalisten, die sich jeweils auf stilistisch eigenwillige Weise mit den notwendigen autobiografischen Prägungen auseinandersetzten, beschäftigt haben oder wie Jurysprecherin Miriam Zeh sagte: „Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit.“ Dass das ästhetisch bestimmende Moment einen solchen Rang einnimmt, und trotzdem keine l’art pour l’art ist, war noch nie so klar wie in diesem Jahr. Deswegen wird die Preisverleihung im Römer bis Montag spannend bleiben.

Der Sieger oder die Siegerin erhält 25 000 Euro, die übrigen Autoren der Shortlist jeweils 2500 Euro. Der Gewinner oder die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2022 wird am 17. Oktober zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse verkündet.

Hier nochmal die Titel zur Erinnerung. Die gut sortierten Buchhandlungen halten sie bereit, Foto: Petra Kammann

 

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