Berliner Inszenierungen: Beeindruckend, zynisch und komisch
Uraufführungen an der Komischen Oper, am Deutschen Theater und an der Volksbühne
von Simone Hamm
Ein Meer aus kaltem, gleißend weißen Eis
„Intolleranza 1960“ von Luigi Nono an der komischen Oper Berlin
Bühnenbild von In#toller#an#za 1960 von Luigi Nono, Foto: Barbara Braun
Was für ein beeindruckender Abend! Die Zuschauer werden zu ihren Plätzen geführt. Sie gehen durch schwarze Tore, die aussehen, als habe dort ein Brand gewütet. Dahinter: Eine Wüste aus Eis. Gefrorene Zeit. Blendendweiße Eisschollen treiben dort, wo sonst die plüschigen roten Parkettsitze stehen. Es sieht aus, als seien schon Schollen aus dem brüchigen Eis gebrochen.
In diesen Ausbuchuchtungen sitzen die Zuschauer auf weißen Plastikstühlen, ganz nah am, ja im Geschehen. Sie werden gebeten, einen weißen Umhang anzuziehen, sie sind Teil der Inszenierung, und sie werden bald von Choristen umgeben sein. Stoffbahnen verhüllen den zweiten Rang, dahinter sitzen die Musiker. Der weiße Stoff überzieht auch Decke und Bühnenboden.
Halloween ohne Kürbis. Zuschauer sitzen auch im ersten Rang und auf einer großen, hohen Tribüne.
Gabriel Feltz dirigiert auf einem Vorsprung vom zweiten Rang aus wie vom Zehnmeterbrett in einem Schwimmbad. Offenbar ist er schwindelfrei. Dann beginnt ein unsichtbarer Chor zu singen, leise, fast überirdisch klingen die Töne. Pure Schönheit.
Was für ein Auftakt! Regisseur Marco Storman, Bühnenbildner Márton Ágh und Kostümbildnerin Sara Schwarz haben ein Kunstwerk geschaffen, eine Installation. Hör – und Sehperspektiven sind andere geworden. Und das wäre wohl ganz im Sinne von Luigi Nono, mit dessen „Intolleranza“ die komische Oper ihre Spielzeit beginnt.
Der überaus beliebte und der die komische Oper prägende Barrie Koksy mit seinen opulenten Inszenierungen ist gegangen, seine Nachfolger, die Intendanten Susanne Moser und Philip Bröking, setzten mit ihrer ersten Premiere auf etwas anderes, auf eine politische Oper.
„Intolleranza 1960“, Luigi Nonos erstes Werk für die Opernbühne, wurde 1961 auf der Biennale in Venedig uraufgeführt und sorgte damals für Turbulenzen. Themen sind Krieg, Migration, Gewalt und Sehnsucht. Ein Gastarbeiter (Sean Panikkar) macht sich auf den Weg zurück nach Hause, seine Frau (Deniz Uzun) versteht ihn nicht, will ihn vergeblich zurückhalten.
Er gerät in kriegerische Auseinandersetzungen, wird verhört, gefoltert und eingesperrt. Es gelingt ihm zu fliehen. Er trifft einen Algerier (Tom Erik Lie), der ihm eine Lampe schenkt , dann eine schwarzgefiederte Frau (Gloria Rehm), die zu seiner Gefährtin wird. Sie steigen in ein morsches Boot, wagen sich auf die stürmische See und kentern.
Nonos Oper hat immer auch Sprechrollen zugelassen. Ilse Ritter liest einen kurzen Essay von Carolin Emcke „Es ist genug“. Es endet mit den Sätzen: „Es gibt keine Voraussetzungen dafür, als Mensch geachtet zu werden. Mehr brauchen wir nicht zu wissen.“
Sean Panikkar als Emigrant ist ein großartiger Sänger, meistert auch die wildesten Melodiesprünge. Die anderen Sänger und Sängerinnen des kleinen Ensembles stehen ihm in nichts nach. Star des Abends ist der von David Cavelius geleitete Chor (die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin werden verstärkt durch Vocalconsort Berlin).
Sie raunen, sie werden unglaublich laut, sie sind überall, auf, vor und hinter Bühne. Sie setzen den Schlusspunkt an diesem musikalisch herausragdenden, ungewöhnlichen, phantastischenAbend. Am Ende werden die weißbekleideten Choristen eine Vertonung von Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ singen:
Ihr aber, wenn es soweit sein wird,/ Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,/Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.
Zynische Langeweile am Deutschen Theater
Timofej Kuljabin inszeniert „Platonow“.
Enno Trebs, Max Thommes, Alexander Khuon, Linn Reusse, Manuel Harder, Katrin Wichmann, Foto: Arno Declair
Platonow wird von den Frauen geliebt. Tschechows Held betört sie, verführt sie, demütigt sie und auch ihre Ehemänner. Er liebt sie nicht, er ist eine Tschechow’sche Figur und ist daher gelangweilt.
Regisseur Timofej Kuljabin inszeniert „Platonow“ am Deutschen Theater in Berlin. Er verlegt seinen „Platonow“ von einem schäbigen Landgut in ein Altersheim für Künstler. Für eine alte Frau, die glaubt, zum letzten Mal die Liebe erleben zu dürfen, sind die Zurückweisung, die Erniedrigung vielleicht noch schwerer zu ertragen als für ein junges Mädchen.
Kuljabins Schauspieler sind nicht alt, sondern starkgeschminkt mit Perücken, Gehhilfen, Krücken, Rollstuhl. Sie spielten die Alten mit falschen Buckeln und dick aufgetragenen Falten, imitieren deren klapprige, steife Bewegungen, deren zitternde Hände. Ihre Stimmen hingegen sind fest und laut und gar nicht rau. Das soll wohl Distanz zu den Personen schaffen, führt aber dazu, dass man seltsam unberührt bleibt.
Pausen sind an diesem Theaterabend reine Pausen, weil Alte halt für alles länger brauchen, keine Spannungsmomente.
Die Figuren bleiben ungebrochen, haben keine Facetten. Im Jahre 2022 hängen vier Frauen an den Lippen des einen Mannes, der sie mit seinem Charme bezirzt. Viel braucht er nicht zu tun, damit sie sich in ihn verlieben oder eine Jahrzehnte zurückliegende Liebe wieder aufflammt. Der Sinn ihres Lebens ist Platonow.
Am bunten Abend im Seniorenheim steht er vor der Tür des Saales, in dem die alten Künstler singen, Zaubertricks vorführen und deklamieren. Eine verliebte Frau nach der andern kommt kurz heraus, hört eine Liebeserklärung, bekommt einen Kuss, wird abserviert.
Alexander Khoun gibt einen nervösen, zynischen, ausgebrannten Platonow, wirkt deutlich jünger als andere anderen. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, allen voran Katrin Wichmann, die ihn als einzige durchschaut, mühen sich sehr, betagt und traurig zu sein. Sie warten auf die Liebe, warten auf den Tod.
Sie seien isoliert wie die russischen Künstler während des Ukrainekrieges, heißt es im Programmheft. Beim Zuschauen erschließt sich Timofej Kuljabins Regieeinfall nich
Unendlicher Spaß – traurige Erinnerungen
Florentina Holziger zeigt „Ophelia’s got talent“ an der Volksbühne
„Ophelia’s Got Talent“ mit: Saioa Alvarez Ruiz, Xana Novais Inga Busch, Sophie Duncan, Florentina Holzinger, Foto: © Nicole Marianna Wytyczak
Dieser Abend an der Berliner Volksbühne ist eine Mischung aus Varieté, Zirkus, Theater Tanz und Trash. In „Ophelia’s got talent“ bietet Florentina Holziger wirklich alles auf: Wasserbecken auf der Bühne, Piraten der Karibik, Captain Cook (Annina Machaz), eine Talentschau mit einer Artistin unter der Zirkuskuppel (Sophie Duncan), einer tätowierten Schwertschluckerin (Fibi Eyewalker), einer erfolglosen Entfesselungskünstlerin à la Houdini unter Wasser (Netti Nüganen) und Lieder von Udo Jürgens (Zora Schlemm), Schwimmbecken und durchsichtige Wasserbehälter auf der Bühne, Videos von Bauchoperationen. Meerjungfrauen, deren Fischschwanz meterlang, klebrig und schwarz und alles andere als anmutig ist.
Dieser Tanzabend erinnert nicht im geringsten an John Neumeiers kleine Meerjungfrau. Hier sind die geheimnisvollen Wasserwesen, die ertränkte Ophelia, die Sirenen und Nymphen wahrlich keine Männerphantasien. Das Ensemble steppt eher schlecht als recht zu einem Matrosensong. Sogar ein Hubschrauber wird auf die Bühne gelassen und macht mächtig Wind. Bei Holziger wird dieses riesige Gefährt zu einem Sextoy. Klamauk, Spaß, Theater pur an der Volksbühne.
Kinder springen in ein Wasserbecken, in das zuvor mit großem Getöse tausende von Plastikflaschen von der Bühne knallten.
Und das alles in Berlin, nicht im Kölner Karneval, sondern an der völlig ausverkauften Volksbühne vor einem johlenden, klatschenden, lachenden Publikum. Ein wunderbar kurzweiliger Abend. Dass alle Darstellerinnen wie immer bei Holziger nackt sind, spielt nach fünf Minuten – und darauf will sie ja hinaus – keine Rolle mehr. Ansonsten hält sie sich für ihre Verhältnisse ziemlich zurück, nur einmal wird ein Angelhaken durch die Wange gestochen, ein kleiner Anker auf einen Hintern tätowiert.
Florentina Holziger zeigt Brüche im scheinbaren Frohsinn. Lässt Schrecken und Angst nicht außen vor. Es wird auch erst, sehr ernst, als Xana Novais von ihrer Vergewaltigung erzählt: „Ich dachte, ich konnte nie mehr einen Cupcake essen.“ Und was tut sie, als sie dem Peiniger entfliehen kann? Kauft einen Cupcake und beißt hinein. Sie will sich nicht zum Opfer degradieren lassen. Ebenso wenig wie Florentine Holzinger, die davon erzählt, wie sie als Kind aufhörte zu essen. Und auch, wenn Schillers „Taucher“ und Schuberts „Forelle“ (der Text zu dessen Forellenquintett) zitiert werden, wird an diesem Abend niemand zum Opfer.
Inga Busch erzählt konzerniert mit warmer Stimme. Frauen haben ihre eigenen Phantasien von Sex und Macht. Sie sind Entfesselungskünstlerinnen. Und mag die Befreiung auch nicht gleich beim ersten Mal klappen, sie machen einfach weiter. Melodie Alia in Overknees filmt das alles. Es wird auf Bildschirme übertragen. Am Ende färbt sich das Wasser im großen Becken blutrot. Und Kinder mit Haifischflossen balgen miteinander darin.
Starke Inszenierung. Starke Regie. Starkes Bühnenbild (Nikola Knezevíc). Starker Abend und: superstarke Frauen.