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FeuilletonFrankfurt

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PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Für Hanne Kulessa – Rede zur Gedenkfeier im Holzhausenschlösschen im September 2022 von Verena Auffermann

Gedenkveranstaltung für Hanne Kulessa

„Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“

Hausherr Clemens Greve rief und alle kamen ins Holzhausenschlösschen, der „zweiten Heimat von Hanne“: Freunde und Wegbegleiter der kürzlich verstorbenen Moderatorin, Autorin und Organisatorin Hanne Kulessa, um sie nochmal lebendig werden zu lassen und Abschied von ihr zu nehmen. Patentochter Marie sprach sehr persönlich gefärbte bewegende Abschiedsworte, der Pianist Dmitry Ablogin spielte ihre Lieblingsstücke: Bach-Präludien und eine Fuge aus dem Wolhltemperierten Klavier und vor allem die legendären Goldberg Variationen sowie Schuberts Ges-Dur Impromptu. Die Schauspielerin und Sprecherin Birgitta Assheuer las eindrucksvolle Texte: von Hanne Kulessa selbst und eine Erzählung von Ilse Aichinger. Einen Nachruf, der uns die besonderen literarischen und menschlichen Facetten Hanne Kulessas nahebrachte, verfasste die mit ihr befreundete Literaturkritikerin Verena Auffermann, den wir hier im Wortlaut wiedergeben.

 Abschied mit Freunden und Weggefährten von Hanne Kulessa mit dem Pianisten Dmitry Ablogin, einer wunderbaren Lesung von Birgitta Assheuer und…, Das so lebendige projizierte Foto stammt von Isolde Ohlbaum, Gesamtfoto: Petra Kammann

… und der so warmherzigen wie kenntnisreichen Rede von Verena Auffermann, Foto im Hintergrund: Isolde Ohlbaum, Foto: Petra Kammann

 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, liebe Bewunderer von Hanne,

vor Euch, vor Ihnen – stellvertretend zu stehen, ist für mich so real wie irreal. So, als hätte der Schriftsteller Hermann Burger mir sein „Kulessa Fragment“ zum Vorlesen in die Hand gedrückt. Als sei das Ganze eine Hommage, eine Hommage zu Lebzeiten mit Hanne in der ersten Reihe. Sie hätte zufrieden gelächelt, die Frau, die sich so oft und sehr erfolgreich für andere eingesetzt hat.

Aber Hanne lebt nicht mehr – sie sitzt nicht mit ihrem typischen Lächeln in der ersten Reihe – sie kann sich nicht mehr den großartigen Schweizer Schriftsteller, der in seinem zweitem Leben ein Zauberer war, sie kann ihren Hermann Burger nicht mehr dem Vergessen entreißen. Wer nimmt ihre Stelle ein, wer hat Hannes Überzeugungskraft?

Ich will versuchen, eine kleine Geschichte zu erzählen, halb wahr, halb unwahr, wie es zum geheimen Wesen der Wahrheit gehört. Ich will einige Spiegel im Saal aufzustellen, damit jeder Hanne sehen kann, jeder aus einer anderen, seiner eigenen Perspektive.

Und hier, in Hannes „Schlösschen“, ihrem eigentlichen von ihrem verehrten „Schlossherrn“ behüteten zuhause, wenigstens einen Zipfel des Glücks wiederentdecken, das sie so großzügig verteilt hat.

Ich beginne mit einer Schleife.

Einer roten Schleife aus Taft, einem kleinen Mädchen von der Mutter in einen dünnen Schweif blonder Haare auf dem Kopf festgezurrt und mit zwei Fingern zu einer Art Propeller gezupft.

So stapfte das Kind los, das Kind, das damals Hannelore hieß und in Loxstedt bei Bremerhaven lebte. Da die Mutter einen Kaufladen im Ort betrieb, der für die Aufsicht über ihre kleine Tochter wenig Zeit ließ, hatte das Mädchen die Straße für sich. Niemand hinderte sie daran, fortzulaufen, einfach in die Weite, in das ungewisse Fremde, Meter um Meter, sie lief ohne Furcht, mutig und selbstbestimmt, getrieben von dem Propeller auf dem Kopf, der ihr damals und der ihr als unsichtbarer Gleitflügel ein Leben lang die Treue hielt.

Hanne hat die Episode manchmal erzählt und sie wurde für mich mit den Jahren zur Literatur, zum ersten Akt einer Emanzipation. Ich weiß nicht mehr, ob der Dorfpolizist sie nach Hause zurückgebracht hat, in einen Haushalt, in dem abends die Tageseinnahmen nach Mark und Pfennigen gezählt wurden und die Bratkartoffeln auf dem Tisch standen.

Ich glaube, sie war 16 Jahre alt, als das Weglaufen – damals schon in Frankurt – gelang. Sie zog mit Katrin zusammen, zwei Mädchen, wie man sie aus den Büchern kennt, zwei „Zazie‘s in der Metro“, oder genauer der Frankfurter U-Bahn, um Raymond Queneaus berühmten Roman in den Zeugenstand zu nehmen. Zazie vermischt mit Spurenelementen von

„Bonjour tristesse“.

Aber ich greife vor. Mit der Eigenständigkeit kamen die Bücher, Brecht natürlich, die Gedichte, der „Pflaumenbaum“, und die großen Stücke, dann die Identifikationen mit Romanfiguren und hohe Ziele. Sie liebte die Großen, die litten, über Kafka müssen wir nicht sprechen, wichtiger war Robert Walser, der Walser‘sche “Gehülfe“, der ihr beistand, ein Gefährte hinter der Leinwand ihres äußeren Lebens.

Hanne arbeitete in einer Buchhandlung, sie studierte, sie las, sie verliebte sich. Der Mann, der sich in sie verliebte, malte ihr Hühner, die klügsten Hühner der Welt, die ihre Lebensphilosophie in einer Luftblase über ihren Köpfen jonglierten. F.K. Waechter schenkte ihr diese Hühner zum Geburtstag, als einmal auf Schloß Elmau – damals als dieser Ort noch den Künstlern und sonstigen Geistern gehörte – als eine ordnungsbeflissene Saaltochter ein Huhn achtlos wegwarf, brach für Hanne das Imperium der Illusion zusammen, der Illusion, dass andere erkennen, was Qualität, was ein gewöhnliches Huhn ausmacht – und wodurch man das eine vom anderen unterscheidet.

Nach Schloss Elmau ist Hanne nie wieder gefahren. Das Spiel war aus, unerbittlich, mochte Hilde Domin auch noch so schrill durch den Saal rufen – das gehörte auch zu ihr, das muss ich erwähnen. Wir, ihre Freunde und Freundinnen, hatten Angst davor, unter dieses radikale Verdikt zu fallen. Über zugefallene Türen mit ihr zu sprechen, hieß das Hoffnungslose im Kopf haben. Ich nenne dieses Kapitel: der Tresor. Ich kämpfte mit allen Mittel der Diebeskunst, den Tresor zu knacken. Ich scheiterte. Meine mir zur Verfügung stehenden „Dietriche“ passten nicht in ihr Schloss. Ich bin ein untalentierter Dieb.

Diese, ihre Unerbittlichkeit schadete ihr und half ihr. Sie hat etwas mit Loxstedt, dem Propeller, dem Abtrennen von Schmerz als Selbsterhaltung zu tun. Der Urgrund ihrer Strenge.

Etwas trieb sie voran.

Sie leitete zusammen mit Paulus Böhmer das Literaturbüro im Mousonturm, sie entdeckte die Bühne für sich, sie wurde Gastgeberin und Ideengeberin, sie genoss den Auftritt, organisierte einen Schriftstelleraustausch mit Israel, sie freute sich, wenn Freundschaften gelangen. Als diese Zeit um war, wechselte sie zum Hessischen Rundfunk: HR Kultur. Sie arbeitete viel, eigentlich immer, begrüßte ihr Publikum am Morgen, begrüßte den Tag, mogelte Gedichte unter, freute sich, wenn ihr das gelang. Wurde eine Institution.

Ihre Stimme beruhigte ihre vielen Hörer, manchmal auch das Gegenteil, denn die Erregung belebte sie. Sie erregte sich über lokalpolitische Themen, bis zum Schluss über das Beharrungsvermögen des Frankfurter Oberbürgermeisters. Sie erregte sich oft und manchmal führte das zu Taten. Wieso hat der Frankfurter Chronist Horst Krüger kein Ehrengrab? Empörend. Sie musste das ändern und schon ging es los. Ich muss betteln gehen. Sie bettelte beim Generalkonsul, beim Kulturdezernat, bei Notaren, bei literaturverliebten Menschen.

Zwischendurch sah sie aus dem Fenster ihrer Wohnung im 4. Stock und hatte plötzlich ein Gegenüber. Eine Liaison begann, sie dauerte vielleicht ein Jahr. Es war die Liaison zwischen ihr und einem riesigen Baukran. Sie schien alles daran zu lieben. Seine krakenhaften Arme, seine nächtliche Beleuchtung, die für sie zu Augen wurden – er tanzt Ballett, schrieb sie manchmal verzückt – dann der Kranführer selbst. Sie identifizierte sich mit ihm, zählte die Stufen, die er hinaufklettern musste – oder gab es einen Aufzug ? – schenkte ihm ein Leben, eine Frau, zwei Kinder, eine Blechbüchse mit Butterbroten, eine Kanne mit Kaffee, Zigaretten – Raucher bekamen sofort ein Gütezeichen auf die Stirn – und machte den Kran zu ihrem Fotomodell.

Und wie sah der Kranführer da in der Höhe eigentlich aus? Gibt es einen Dichter, der sich eines Kranführers angenommen hätte? Ich gab ihr einen Roman der portugiesischen Schriftstellerin Lydia Jorge, in dem ein Kranführer im Zentrum steht, das interessierte sie nicht. Sie musste ihn selbst finden. Hannes Welt war ihre Welt, sie schrieb ihren eigenen Roman.

Zum Geburtstag bekam ich von ihr die Kranführerhefte. Er, nicht zu erkennen in seiner Kombüse im Abend- und im Morgenlicht, bei Regen und Wind. Wochenlang redete sie von ihm, seinem Leben, schwebend, riskant über allen Dächern, mächtig und sehr alleine. Er bin ich.

Es waren immer Lieben, ich könnte viele nennen, meistens waren es Schriftsteller, viele lernte sie während ihres gemeinsamen Bergen-Enkheimer Lebens mit Gert Loschütz kennen. Die Autoren waren Stipendiaten im Enkheimer Stadtschreiberhaus, auch der Schweizer Jörg Steiner, mit dem sie eine Postkartenliebe verband. Aus seinen Antwortkarten ist ein schönes Buch entstanden, ja die Bücher, auch die eigenen, die sie schrieb, das Beste ist noch unfertig: „Odomski“, die Geschichte ihres Vaters, der aus Ostpreussen stammte. Sie fuhr an die Kurische Nehrung, sie fuhr nach Königsberg, da gehöre ich hin, sagte sie nach der Rückkehr, das weiß ich jetzt, dahin in die Ferne, unsere Frankfurter Hanne.

Das Suchende war ihre Bewegung. Wohin gehört der Mensch, wohin gehörte sie? Mit ihrer direkten Familie hatte sie gebrochen, manchmal tauchte ein „Kulessa“ auf, ein entfernter Vetter, einige Verwandte in Loxstedt, Aber sie führte eine andere Existenz, nahe den Büchern und ihren Autoren. Kann man sich von den Dichtern die Antworten für die großen Fragen ins Herz tätowieren lassen?

Sie versuchte es.

Wie viele Schmerzen mag sie durchlebt haben? Wie oft hat sie aus dem Negativen das Gegenteil gemacht, aus den Talfahrten neue Kraft geschöpft, „Ich muss“! gerufen, ich muss etwas für die ukrainischen Schriftsteller tun, ich muss sie einladen, ich muss sie besuchen, sie müssen nach Frankfurt kommen, hier lesen. Wer finanziert das, ich muss betteln gehen….

Vom Krieg hat sie gewusst, ihre größte Sorge galt dem Kämpfer, dem diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Sergii Zhadan, Zhadans Bücher, ob die „Erfindung des Jazz im Donbass“ oder „Internat“ sind Biografien eines wilden, auch brutalen Landes Ukraine, in dem viele Völker nebeneinander leben lernten, bis zum 24. Februar diesen Jahres.

Ohne Schmerz entsteht keine Poesie und kein bedeutender Austausch in Briefen. Diese wollte, musste sie lesen, ihr Gesamtwerk dazu, die Briefe, sie musste das alles lesen, 100 mal hat sie im Holzhausenschlössen, also in diesem Saal hier Briefwechsel vorgestellt, Leben dargestellt, „lieber Gottfried“, „liebe Nelly“. Der langerwartete Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch kam zu spät, er kommt erst in diesem Herbst.

„Liebe Ingeborg“, „lieber Max“, es tut mir leid, ich konnte nicht mehr so lange warten.

Ich muss Sie, liebe Freunde von Hanne, jetzt zu einer anderen Spur führen, nicht zu Ingeborg Bachmann, nicht zu Maxi Wander, nicht zu Brigitte Reimann und ihrer Figur Franziska Linkerhand, ich möchte Hanne mit Annie Ernaux in Verbindung bringen und weiß gar nicht, ob sie diese Bücher kannte. Aber ich habe in Ernauxs „Erinnerung eines Mädchens“ so viele Parallelen gefunden, die Hanne noch nicht gesucht hat. Sie hätte es eines Tages tun müssen, wenn ihr die Zeit geblieben wäre. Sie hätte erkannt, dass Erinnern eine Form der Erkenntnis ist. Sie hätte in einem Buch, das zu schreiben ihr nicht die Zeit blieb, sich so ausdrücken können, wie Annie Ernaux das getan hat.

So heißt es in einem Brief vom Dezember 1961: „Ich ziehe mich von der Welt zurück wie Blaise Pascal. Finde in meinem Zimmer Ruhe. Meine Lieblingsmomente sind die, wenn ich gegen fünf Uhr nachmittags hinter meinem Fenster die Sonne untergehen sehe. Die Kälte lässt draußen alles erstarren. „Es gibt“, schreibt Annie Ernaux, „ein Zitat von Nietzsche, das ich sehr schön finde: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“

Sie hat für und in der Kunst der Literatur gelebt und für sie gekämpft, im intensiven Eigensinn mit der Energie, die Schwierigkeiten ignoriert und einer immensen Ausdauer. Dafür hat sie die Wirklichkeit oft auf Abstand gehalten und die Welt mit ihren Augen, aus der Perspektive des Kranführers gesehen.

Es ist gut, sich bei Hanne zu bedanken, für ihren Kampf und ihre Liebe zu dem, was in den Büchern und den Briefen steht. Jetzt sollten wir in ihrem Sinn für die Bücher die Trommel schlagen, in diesen Monaten natürlich für die des Ukrainers Sergei Zhadan. Und für sie, Hanne Kulessa, das Mädchen, das von Loxstedt aus, mit einer großen, roten Schleife in den blonden Haaren, den Versuch gewagt hat, alleine die Welt zu erkunden. Mit ihren Erkundungen ist sie ganz schön weit gekommen. Wir danken ihr dafür.

Die Schauspielerin Birgitta Assheuer las einfühlsam das erste Kapitel aus Hanne Kulessa Buch „Die scheue Nachbarin“ und Ilse Aichingers Erzählung „Wo ich wohne“, Das projizierte Foto: Isolde Ohlbaum, Foto: Petra Kammann

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