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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Verleihung des Rheingau Literatur Preises 2022 an Katerina Poladjan

Ausgezeichnete „Zukunftsmusik“ mit heiterer Melancholie

Von Petra Kammann

Wo gibt’s das schon? 111 Flaschen besten Riesling als Preis“geld“. Dazu noch reale 11.111 Euro. Die Entscheidung für die Preisträgerin des Rheingau Literatur Preises in diesem Jahr war genial… Er ging an die Schriftstellerin und Essayistin  Katerina Poladjan für ihren vielschichtigen und fein verwobenen Roman „Zukunftsmusik“. Ihre Dankesrede hat in der Symbolik alles übertroffen. Humor- und phantasievoll hat sie sich dabei auf das originelle 111er Zahlenspiel eingelassen.

Katerina Poladjan, geboren in Moskau, aufgewachsen in Rom und Wien, lebt heute in Deutschland und schreibt Theatertexte und Essays, Foto: Petra Kammann

Wenn dann der Spediteur bei ihr in Berlin eintreffe, könne sie, wenn sie ihren Keller leergeräumt habe, mit den erlesenen Weinen aus den herausragenden Kellern des Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter Rheingau (VDP) ein bacchantisches Fest mit ihren Freunden feiern. Ja, denn jetzt ist sie im wahrsten Wortsinne liquide… Und vielleicht inspirieren die köstlichen Rieslinge der Region sie ja auch zu weiteren Geschichten. Heitere Melancholie durchzieht den ganzen Roman und begleitete auch ihre Dankesrede, die so vergnüglich wie nachdenklich stimmte.

Der flüssige Teil des Preises, Foto: Petra Kammann

Doch noch mal von vorne. Zu Beginn der Preisfeier schepperte in den feinen Räumen des Hotels Burg Schwarzenstein (Relais & Château) erst einmal aus einem Lautsprecher Chopins „Trauermarsch“, bevor Rheingau Musik Festival-Chef Michael Herrmann zu seiner Begrüßungsrede anhob und klarstellte, damit habe er nichts zu tun oder gar musikalischen Einfluss darauf genommen. Der „Trauermarsch“ spiele halt eine wichtige Rolle im Roman…

Abgesehen davon, schaffe er wegen des fast parallel laufenden Rheingau Musikfestivals kaum, die von der Jury vorgeschlagenen Bücher alle in seiner arbeitsintensivsten Phase des Jahres zu lesen. Es sei schon gut, wenn er es schaffte, vier von ihnen quer zu lesen. Doch bei diesem Roman habe er von der ersten bis zur letzten Zeile förmlich alles verschlungen. Und wäre er in der Jury gewesen, so hätte er ganz sicher auch für dieses Buch gestimmt.

Begrüßungsrede von Michael Hermann, Intendant des Rheingau Musik Festivals; Foto: Petra Kammann

Kein Wunder! Da ist er nicht allein. Das Lob teilt er mit anderen, mit der Staatssekretärin Ayse Asar (Hessisches Ministerium Wissenschaft und Kunst), natürlich auch mit dem neuen Künstlerischen Leiter Andreas Platthaus, der aber das differenzierte Loben jedoch der Literaturkritikerin Shirin Sojotrawalla überließ. Er übernehme nur eine Art Sandwich-Funktion und verwies auf das unbezahlbare Gut der Freiheit, das in dem Roman zum Ausdruck komme.

Außerdem hatte Poledjans jüngster Roman „Zukunftsmusik“ auch schon auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse gestanden. Nun zurück zur Endlosschleife des „Trauermarschs“ von Chopin, der sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht und in der Sowjetunion jedesmal im Radio gespielt wurde, wenn jemand Bedeutendes gestorben ist.

Im Buch geht es um das Leben in einer ‚Kommunalka‘ – in der Sowjetunion die Gemeinschaftswohnungen, die sich mehrere Parteien teilten – und das an einem einzigen ganz konkreten Tag, nämlich am 11. März 1985. Im Mittelpunkt stehen dabei Frauen aus vier Generationen einer Familie. Just an dem bewussten Tag kam auch ein gewisser Michail Gorbatschow ins Amt, was für die Bevölkerung bedeutete: Wäre damit das Ende der Sowjetunion eingeläutet oder gäbe es am Ende noch den Schimmer einer Hoffnung auf einen Neuanfang? Sehr lebendig, teilweise humorvoll, aber auch nachdenklich erzählt Katerina Poladjan von den Träumen, Hoffnungen und der „realexistierenden“ Wirklichkeit damals, die sich auf die aktuelle Welt- und Gefühlslage mühelos übertragen lässt.

So hatte die Jury des Rheingau Literatur Preises unter der Leitung von Andreas Platthaus /Prof. Dr. Heiner Boehncke, Dr. Viola Bolduan (ehemalige Feuilletonchefin des Wiesbadener Kuriers), Dr. Alf Mentzer (Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks) und Shirin Sojitrawalla (Literatur- und Theaterkritikerin) befunden, mit ‚Zukunftsmusik‘ sei Katerina Poladjan ein vielstimmiges Gesellschaftsporträt gelungen. Der Roman lote im Zusammenspiel mit Motiven der russischen Literatur Schicksale aus, die mit dem Tod des Generalsekretärs Konstantin Tschernenko und dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow vor einem Umbruch stehen: politisch wie privat. ‚Zukunftsmusik‘ erinnere daher an einen Moment der jüngeren Geschichte, in dem alles möglich scheine.

Die Literatur- und Theaterkritikerin Shirin Sojitrawalla nimmt die Bezüge zu russischen Erzählern in den Blick, Foto: Petra Kammann

Das vielstimmige Gesellschaftsportrait, das im Roman entsteht, mit den kleinen Leuten, ihrer Euphorie und Hoffnung und ihrem Hang zum Pragmatismus und gleichzeitiger Tapferkeit in den absurdesten Situationen, betonte auch die Literatur- und Theaterkritikerin Shirin Sojitrawalla in ihrer Laudatio. Dabei deckte sie das intertextuelle Spiel mit Motiven aus der russischen Literatur auf. Sie stellte die Bezüge zu den russischen Dichtern wie Bulgakov und Tschechow, her, aber auch zu Franz Kafka. Dass sie Katerina Poladjan zudem als eine Person charakterisierte, die gerne spiele, sei es mit ihren Auftritten als Schauspielerin, als Leserin ihrer Texte oder als Sprachspielerin, wird unmittelbar fassbar, als Poladjan in ihrer Dankesrede spielerisch und leicht mit der Zahl 111  jongliert, so wie sie auch das Bild des Teppichs variiert, auf dem man nicht immer bleiben wolle.

Und dabei holt die ausgebildete Kulturwissenschaftlerin weit aus. Mal mache sie die Wimmelfiguren des berühmten Teppichs von Bayeux lebendig, der symbolisch für die kunstvoll gewebte Textur der Geschichte und des mit ihr verwobenen Textes selbst steht. Mal hat man unmittelbar vor Augen, wie eine riesige Teppichrolle förmlich über den Köpfen der Passagiere eines vollen Busses balanciert wird. Ein andermal nimmt man an der Überlegung teil, ob der löchrig verschlissene Teppich, der eine Menge Geschichten zu erzählen hat, unter die Decke geklebt oder von oben angenagelt werden soll, um die Löcher in der Decke zu stopfen. Passgenaue Überlegungen nicht nur zum wohlverdienten Preis, sondern auch zur aktuellen Lage ausgerecht in dem Jahr, das uns nach dem Tod des einstigen Hoffnungsträgers Gorbatschow vor bange Hoffnungen und neue Herausforderungen stellt.

Gruppenbild mit Dame: v.l.n.r.: Claus Wisser, (Vorstandvorsitzender Rheingau Musik Festival), Ingrid Datt (Verband der Prädikatsweingüter),  Andreas Platthaus (Künstlerischer Leiter), Staatssekretärin Ayse Asar (Hessisches Ministerium Wissenschaft und Kunst), Michael Hermann (Intendant Rheingau Musik Festival) und Ernst Udo Grossmann (Geschäftsführender Gesellschafter Relais & Châteaux Hotel Burg Schwarzenstein) , Foto: Petra Kammann

Dass es sich um einen lesenswerten Roman handelt, unterstrich auch die Hessische Ministerin für Kultur und Wissenschaft Angela Dorn, die hier jedoch in der Burg Schwarzenstein durch die Staatssekretärin Ayshe Asar vertreten wurde. Sie ließ uns wissen: „Gerade in Zeiten der Unsicherheit, von Krieg und Krise hat Literatur eine wichtige Rolle, ob sie sich nun als Diskursraum versteht, Alternativen zur Realität aufzeigt oder auch Zufluchten bietet. Katerina Poladjan berichtet in ,Zukunftsmusik‘ aus einer Gemeinschaftswohnung in der Sowjetunion zu Beginn der Ära Gorbatschow, deren Figuren sie wie auf der Theaterbühne inszeniert, mit Ausflügen ins Fantastische. Das ist vergnüglich und heiter – der Blick auf die Aufbruchsstimmung von Glasnost und Perestroika muss angesichts des Rückfalls Russlands in die Diktatur aber auch bedrücken. Ich gratuliere Katerina Palodjan herzlich zu dieser Auszeichnung“.

Der Gratulation kann sich FeuilletonFrankfurt nur anschließen. Der ziselierten und anspielungsreichen Sprache Poladjans zuzuhören und ihren warmherzigen Beobachtungen der Verhaltensweisen einfacher Menschen zu folgen, war das reine Vergnügen!

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik, S.Fischer Verlag Februar 2022, 22 Euro

Die bisherigen Preisträger

Stefanie Menzinger, „Schlangenbaden“ (1994), Ulla Berkéwicz, „Mordad“(1995), Herbert Maurer, „Ein Rabenflug“ (1996), Thomas Meinecke, „Tomboy“ (1997), Hella Eckert, „Hanomag“ (1998), Thomas Lehr, „Nabokovs Katze“ (1999), Peter Stamm, „Agnes“ und „Blitzeis“ (2000), Bodo Kirchhoff, „Parlando“ (2001), Robert Gernhardt, „Im Glück und anderswo“ (2002), Reinhard Jirgl, „Die Unvollendeten“ (2003), Ralf Rothmann, „Junges Licht“ (2004), Gert Loschütz, „Dunkle Gesellschaft“ (2005), Clemens Meyer, „Als wir träumten“ (2006), Antje Rávic Strubel, „Kältere Schichten der Luft“ (2007), Ursula Krechel, „Shanghai fern von wo“ (2008), Christoph Peters, „Mitsukos Restaurant“ (2009), Jochen Schimmang, „Das Beste, was wir hatten“ (2010), Josef Haslinger, „Jáchymov” (2011), Sten Nadolny, „Weitlings Sommerfrische“ (2012), Ralph Dutli, „Soutines letzte Fahrt“ (2013), Stephanie Bart, „Deutscher Meister“ (2014), Klaus Modick, „Konzert ohne Dichter“ (2015), Saša Stanisic, „Fallensteller“ (2016), Ingo Schulze, „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ (2017), Robert Seethaler, „Das Feld“ (2018),  Dörte Hansen, „Mittagsstunde“ (2019), Annette Pehnt, „Alles was Sie sehen ist neu“ (2019), Judith Hermann, „Daheim“ (2021)

 

 

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