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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

DAM weckt Lust am guten Beispiel: Architektur auf dem Land

Potentiale ländlicher Lebensräume

Von Uwe Kammann

Wer noch Latein in der Schule hatte, der lernte garantiert etwas über die Fabel mit der mus rusticus und der mus urbanus, der Land- und der Stadtmaus. Wer hatte es besser, wer konnte das leichtere, vielleicht auch schönere Lebensziel vorweisen? So eindeutig war die Sache nicht. Spätere Zeiten waren in der Beurteilung nicht zimperlich: Stadtluft macht frei, Landeier oder -pomeranzen haben nicht viel zu lachen, zählen zu den Zurückgebliebenen, müssen sich in sehr beengten und begrenzten Verhältnissen einrichten…

Rathaus, Maitenbeth, Deutschland, 2016 Architektur: meck architekten Foto: Michael Heinrich

Kurz: Der Wettlauf (wenn es denn je einer war) schien entschieden. Und die Megacitys waren das gebaute Versprechen auf die Zukunft der Menschheit. Immer höher, immer dichter, immer ausufernder – dazu Projektionsflächen für alle möglichen Verheißungen, vom höheren Lebensstandard bis zu sozialen Verflechtungen (inklusive gewollter Anonymität statt sozialer Kontrolle) und vielfältiger Unterhaltung, auch unter dem Etikett der Kultur. Das alles oft garniert mit aufsehenerregender Architektur: ein kollektives Fanal des ‚Hier sind wir’.

Bergkapelle Schnepfau-Wirmboden, Österreich, 2016 Architektur: Innauer Matt Architekten Foto: Adolf Bereuter

Gegenläufiges galt in der Regel als spießig, als rückwärtsgewandt bis reaktionär, zudem verunglimpft als verlogene Idylle. Dann jedenfalls, wenn Städter ihre Landflucht auch mit Landlust begründeten (publizistisch gehörig und erfolgreich angetörnt). Das ökonomische Grundgerüst wurde erst in dritter oder vierter Linie reflektiert oder erwähnt, Landwirtschaft war eher Feindbild als Erwerbsrealität, Verkehrs-Abgeschiedenheit und Verkehrs-Notwendigkeit wurden am liebsten als ökologische Frage behandelt.

Seit einiger Zeit scheint sich der Wind bei der Generalbetrachtung zu drehen; und dies nicht nur, weil Roman-Autoren die doch als hochattraktiv gepriesenen Berliner Gemarkung zugunsten der brandenburgischen Weiten verlassen und ihren Protagonisten die dazugehörigen Erfahrungen andichten.

Biergarten Erbach, Deutschland, 2020 Architektur: liquid architekten Foto: liquid architekten

Naheliegend deshalb, dass das Deutsche Architekturmuseum (DAM) dem scheinbar so antagonistisch zu verstehenden Thema eine große Ausstellung widmet (bis 27. November) und sie gleich dort ausrichtet, wo der Fokus liegt: auf dem Land, im Freilichtmuseum Hessenpark, in Neu Anspach. Und dies unter einem Aspekt, der bei dieser aktuellen Diskussion bislang eine völlig untergeordnete Rolle gespielt hat: der Qualität der auf dem Lande zu findenden Architektur. Programmatisch deshalb der Titel der Ausstellung, dazu uneingeschränkt positiv ausgerichtet, mit einem kräftigen Punktum-Zeichen der Bestätigung: „Schön hier. Architektur auf dem Land.

Ausgesucht wurden 70 „bemerkenswerte“ (DAM-Kriterium) Architekturbeispiele, wie es heißt, um zu demonstrieren, wie Bauten aussehen können, wenn es darum geht, ländliche Räume so anziehend zu gestalten, dass sie zum Wohnen, Leben und Arbeiten taugen, im Rahmen einer „zeitgemäßen, ökologischen, sozialen“ und eben auch baulichen Infrastruktur. Gezeigt werden soll dabei auch, wie Architektur ein Ausdruck von Wertschätzung sein und im „besten Fall Selbstbewusstsein“ hervorrufen kann.

Wohnsiedlung: Bludenz, Österreich, 2019 Architektur: feld72, Foto: Hertha Hurnaus

Das Spektrum der DAM-Ausstellung – die wie immer mit großen Schautafeln und Modellen arbeitet – ist vielfältig. Es reicht von Mehrfamilienhäusern über Büro- und Kulturbauten (so Bibliotheken), Hotels, Weingüter, Hofanlagen bis hin zu öffentlichen Bauten (wie Schulen, Rathäusern). In den Architekturjahrbüchern, welche den Großrahmen der jährlichen DAM-Architekturpreise nachzeichnen, sind ländliche Bauten schon seit jeher vorhanden. Aber da bilden sie eben nur einen kleineren Teil ab, sind – das jedenfalls drängt sich auf – gegenüber den städtischen Projekten die kleineren Geschwister.

Gestaltung des öffentlichen Raums: Aabenraa, Dänemark, 2021 Architektur: ADEPT
Foto: Haans Joosten

Hier, beim ‚Eingemachten’ des Nicht-Städtischen Raums, geht es – schon von der bescheidener anmutenden Sache her – nie um das Spektakuläre, sondern um das Beispielhafte; also das, was in ähnlichen Platz- und Sachsituationen schulprägend und stilbildend sein könnte, jeweils bezogen auf die sehr unterschiedlichen Orte und Gegebenheiten. Es lässt sich also unbegrenzt  weiterdenken, was hier mit den Schwerpunkt-Ländern Deutschland, Österreich, Schweiz und Frankreich vorgestellt wird; oder, noch spezieller, mit den Regionen Schwarzwald und Thüringen, welchen die Kuratoren auf Besuchsreisen ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben.

Biolandhof (Schweinestall) Schürdt, Deutschland, 2019, Architektur: Max & Jakob Giese Architektur Foto: Max & Jakob Giese

Das ganz Besondere des Ausstellungs-Vorhabens, welches – getreu dem Vorbild- und Modellhaften – durch viele weitere Orte wandern wird, ist die enorme Bandbreite der Experten und Gesprächspartner, und dies auf allen Ebenen (von beteiligten Architekten über kommunale Entscheidungsträger bis zu Antreibern aus Initiativen und natürlich bis zu den Nutzern und Bewohnern). Denn diese Stimmen zeigen, in überaus beeindruckender Weise, wie viele Aspekte mit der jetzigen Neuentdeckung (ja, das ist es wohl) des ländlichen Raumes verbunden sind; auch, was die architektonischer Entdeckungsreise an verbindenden Elementen offenbart.

Sanierung: Schwarzwaldhof „Altbirkle“Hinterzarten, Deutschland, 2020 Architektur: Willi Sutter
Foto: Kirsten Bucher

Und genau an diesem Punkt ist der beim Verlag Hatje Cantz erschienene Katalog hervorzuheben. Erst er erlaubt es, die Schätze der Ausstellung (und der vorherigen kuratorischen Arbeit) in Muße zu heben. So anschaulich Modelle und Bildtafeln auch sein mögen, hier noch in reizvoller Umgebung einer wiedererrichteten Scheune des Hessenparks: Niemand wird sich in Begleittexte über längere Zeit vertiefen können.

Diese Möglichkeit aber bietet der über 300 Seiten starke Katalog in hohem Maße. Es gibt eine Fülle von aufschlussreichen Interviews und Einzelüberlegungen, differenziert und sachorientiert. Was heißt: Hier wird nicht das schlichte Loblied auf das Landleben gesungen, hier wird nicht einfach der Kontrast zur Großstadt gefeiert. Sondern hier wird, von Einzelfall zu Einzelfall, über die Möglichkeiten gesprochen, über die Bedingungen und die Ausgangssituationen, über die Risiken und die Ergebnisse der oft in ihrer Realisierung unwägbaren Projekte.

Gartenwerkstatt: Bezau, Österreich, 2017, Architektur: Innauer Matt Architekten Foto: Adolf Bereuter

Zugleich bietet der Katalog auch einen konzentrierten Überblick über die Vielfalt der architektonischen Formensprachen auf dem Land: Außen- und Innenfotos lehren den detaillierten Vergleich, zeigen Schwerpunkte, individuelle Lösungen und, dies nicht zuletzt, auch Tendenzen. Natürlich herrscht ein starkes, mit Tradition verbundenes Motiv beim Bauen vor: das Satteldach. Ihm aber lassen sich durchaus unterschiedliche Charakteristika abgewinnen, beispielweise durch Neigungsvariationen oder sehr unterschiedliche Überhänge. Sicher, es gibt es auch Beispiele mit Flachdächern, so bei einer Wohnsiedlung in Vorarlberg.

Aber – und das lässt sich vielleicht doch verallgemeinernd sagen – diese Bauform wirkt nie so selbstverständlich, so landschaftsbezogen wie die Urform eines vor vielen Wetterunbilden schützenden Satteldaches. Das städtische Pendant wäre vielleicht – gerade auch wegen der prägenden Wirkung mit dem Schutz-Effekt – das Mansarddach mit seinem unteren Knick. Nicht umsonst ist die Pariser Dachlandschaft als Unesco-Kulturerbe geadelt.

Wohnsiedlung: Batilly, Frankreich, 2019 Architektur: Bagard Luro architectes Foto: Ludmilla Cerveny

Bäuerliche Traditionen lassen sich auch in moderner Interpretation leicht nachvollziehen (so bei einem Hofensemble nahe dem bayerischen Fürth), oder, staunenswert, in eine ganz neue Konstellation überführen (so bei einem Kuhstall in Bad Tölz, der den Tieren ein hohes Kathedralenschiff aus Holz beschert). Architekt dieses außergewöhnlichen Baus, bei dem Tier- und Menschenwohl in eine ganz besondere Balance geraten, ist Florian Nagler. Sein Name, seine Überlegungen haben, gut zu begründen, einen besonderen Stellenwert.

Kindertagesstätte: Wittstock/Dosse, Deutschland, 2013 Architektur: kleyer.koblitz.letzel.freivogel Foto: Christian Richters

Vieles ließe sich anführen, zitieren, in Beziehung settzen. Eine „neue Form von Sinnstiftung und Wertschöpfung“ wird gleich im Vorwort des Katalogs beschworen. Dass dies keine leere Sonntagsformel sein soll und auch nicht ist, das ist an vielen Stellen mit großem Gewinn nachzulesen. Wer es also ernst meint mit einer Neubewertung des Verhältnisses von Stadt und Land, wer Chancen ausloten will und auf Erfahrungen vertrauen mag, welche Praktiker bei der Projektrealisierung gewonnen haben (und die sie durchaus kritisch auf ihre Zukunftsfähigkeit befragen, der sollte sich sehr gründlich in diesen Katalog vertiefen und die vielfältigen Aspekte des Bauens in ländlichen Regionen studieren.

Wobei, vielleicht noch stärker als in der Stadt, sofort die Auswirkungen auf die sozialen Bezüge und die individuellen Lebensmöglichkeiten zu betrachten und zu bedenken sind. „Schön hier.“: Das heißt auch ganz konkret: An unendlichen vielen Stellen der urbanitätsgeplagten Ländern könnte es viel schöner werden. Was auch heißt: viel lebenwerter.

Der Katalog:

Schön hier. Architektur auf dem Land

Hrsg. Annette Becker, Stefanie Lampe, Lessano Negussie, Peter Cachola Schmal, Gestaltung von Torsten Köchlin und Joana Katte, Htje Cantz, 336 Seiten, 550 Abb., 40 Euro, ISBN 978-3-7757-5150-6

 

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