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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

WAS GEHT IM KOPF EINES VERBRECHERS VOR ?

Umgang mit Gewalt

Der langjährige Gefängnisarzt, Schauspieler und Autor Joe Bausch geht in seinem Buch „Maxima Culpa“ (Ullstein) der Frage nach, wie Gewalttaten entstehen und was im Kopf eines Schwerverbrechers vor sich geht. Der erfahrene Bausch arbeitete über dreißig Jahre lang in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist vielen als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth aus dem Kölner „Tatort“ bekannt. Der Anstaltpsychologe Tom Kamper sprach mit dem Autor.

Joe Bausch; Foto: Thea Weites / Ullstein

Tom Kamper: Schön, dass Sie sich Zeit für ein Interview mit mir nehmen.

Joe Bausch: Herr Kamper, ich freue mich besonders auf das Gespräch mit Ihnen, da Sie ja ein Kollege aus dem Strafvollzug sind.

Als Anstaltsarzt befinden Sie sich mittlerweile im Ruhestand. Gleichwohl sind Sie sehr produktiv und befassen sich nach wie vor mit dem Thema Kriminalität.

Für meine Tätigkeit brauche ich mittlerweile keine Anstalt mehr. Die Pension gibt mir eine gewisse Freiheit, mich selbstbestimmt mit der Thematik zu befassen. Heute würde ich jedoch niemandem mehr die Beamtentätigkeit empfehlen. Zunächst war ich noch Vertragsarzt und angestellter Arzt. Verbeamten ließ ich mich erst nach einigen Jahren, als ich feststellte, dass ich nur auf diesem Wege in dem System positive Veränderungen voranbringen kann und nach einer Geiselnahme die Vorteile der Rückversicherung erkannt habe, die damit einhergehen.
Jetzt mit gewissem Abstand ist mir erst so richtig bewusstgeworden, wie belastend der Knast als Arbeitsumfeld wirklich ist und wie groß der Kontrast zu einem gesunden, positiven Umfeld ist. Als ich noch im Knast gearbeitet habe – das kennen Sie sicher auch von Ihrer Tätigkeit – war ein Tag ohne Schreierei und Beleidigungen ein guter Tag. Die Amplitude im Knast zwischen extremer Erregung und „Leck mich am Arsch“ ist hochspannend, zugleich aber auch kräftezehrend.

Fast wie eine kollektive emotional-instabile Persönlichkeitsstörung?

Joe Bausch (lacht): Herrlich. Das trifft es genau. Den Begriff übernehme ich gerne bei Gelegenheit. Das klingt gut.

Anhand welcher Kriterien haben Sie die Fälle in Ihrem Buch ausgewählt?

Das Buch heißt „Maxima Culpa“, also höchste Schuld. Also musste ich, lapidar ausgedrückt, in die Vollen gehen. Da ist ja niemand dabei, der nicht eine lebenslange Haftstrafe bekommen hat, wenn nicht sogar besondere Schwere der Schuld oder Sicherungsverwahrung.

Mit ein paar Ausflügen in den Maßregelvollzug…

Ja genau, mit einigen Ausflügen in den Maßregelvollzug, wobei das immer für normale Leser ganz schwer ist, zwischen forensischer Psychiatrie, Maßregel, Sicherungsverwahrung und so weiter zu unterscheiden. Da muss man simplifizieren. Das waren die Fälle. Wobei ich auch Fälle ausgewählt habe, bei denen es mehr gab, weil mich beispielsweise die Mittäterschaft interessiert. Die Dynamik der Täter untereinander und die teilweise erotische oder homoerotische Komponente, die da mit hineinspielt und dem Begriff sexualisierte Gewalt eine ganz neue Bedeutungsnote verleiht, machen für mich den Aspekt der Mittäterschaft besonders spannend.
Neben dem toten Geschädigten und dem bagatellisierenden Täter kommt eine neue Perspektive mit ins Spiel. Weiterhin habe ich meine persönliche Erfahrung und Expertise in die Darstellung von Fällen hineingebracht, mit denen sich schon andere vor mir öffentlichkeitswirksam beschäftigt haben. Reizvoll fand ich es weiterhin, auf Vorurteile einzugehen und aufzuzeigen, dass es auch Männer gibt, die mit Gift töten, oder Lehrer, die Amok laufen.

In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass für Gefangene häufig die Bedrohung, die von Mitgefangenen im Allgemeinen und von Zellengenossen im Besonderen ausgeht, schlimmer ist als die Freiheitsstrafe an sich. Was halten Sie in diesem Zusammenhang davon, Gefangene regulär in Einzelzellen unterzubringen?

Wenn ich überlege, wie oft im Laufe der über dreißig Jahre die Bitte, in einer Einzelzelle untergebracht zu werden, an mich herangetragen wurde, bin ich der Meinung, dass jeder eine Einzelzelle bekommen sollte. Das Modell Einzelzelle finde ich relativ wichtig, weil es nämlich viele Gefahren birgt, wenn der Gefangene rund um die Uhr anderen Kriminellen ausgesetzt ist. Durch die Einzelunterbringung entspannt sich allgemein die Lage und es kommt nicht so schnell zu Denunzierungen, wenn Drogen, Waffen, Handys oder Pornos bei den Kontrollen gefunden werden. Die Unterbringung in Mehrbettzimmern finde ich auch in den stationären Therapieeinrichtungen problematisch. Da verstärken sich die Junkies oft gegenseitig in ihrem Suchtdruck.

Denken Sie, dass der Paragraph 64, der die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vorsieht, zu häufig zur Anwendung kommt?

Ich glaube nur, dass die Zeit in Haft viel intensiver genutzt werden sollte. Die Nummer, zuerst in den Knast zu gehen und dann in Therapie zu machen, halte ich für maximal gescheitert. Da gehen teilweise Leute mit Doppel- und Dreifachdiagnosen in Therapieeinrichtungen, die den Namen nicht verdienen. Und das nur, weil es nichts Anderes gibt. Für diese Einrichtungen ist das ein einträgliches Geschäft.
So wie das jetzt läuft, vergleiche ich das mal mit einem anschaulichen Beispiel. Das ist so, als käme jemand mit einem entzündeten Blinddarm ins Krankenhaus und man legt ihn ein paar Wochen auf den Flur mit der Auskunft, ihn danach sofort auf die Intensivstation zu verlegen.

In Ihrem Buch haben Sie verhältnismäßig viele Fälle mit weiblichen Straftäterinnen aufgegriffen, während Frauen insgesamt nur einen kleinen Anteil aller Straftaten begehen. Wie kam es dazu?

Grundsätzlich interessiert mich die Frage, ob das Böse eher männlich ist oder Frauen lediglich seltener im Knast landen, z.B. weil sie cleverer sind und milder bestraft werden. Die absolute Zahl aller Inhaftierten zeigt jedenfalls deutlich auf, dass Frauen deutlich weniger Straftaten begehen. Ich stelle mir in diesem Zusammenhang folgende Frage: Wenn Frauen tatsächlich die besseren Menschen sein sollten, dann sollten wir ja alle Anstrengungen unternehmen, Grundlagenforschung machen und schauen, warum das so ist. Sind sie in ihren Affekten stabiler? Sind sie kontrollierter in ihren Impulsen? Und wenn ja, warum ist das so? Wenn es so ist, könnte man ja von einem positiven Modell lernen.
Dieses Wissen könnten wir dann z.B. in der Psychologie und den Erziehungswissenschaften nutzen. Oder vielleicht ist das auch ganz anders. Ich kann das nicht abschließend beantworten. Ich finde nur, es gibt mittlerweile auch Kolleginnen und Kollegen von Ihnen, die nach genauerem Hingucken zu dem Schluss kommen, dass Frauen auch verdammt böse sein können. Die Fälle habe ich u.a. deswegen aufgegriffen, um zu diesen Fragen z.B. in meinen Lesungen eine Diskussion anzuzetteln. Wir haben bei den Frauen mehr emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen und mehr histrionische Persönlichkeitsstörungen. Das aktuelle Beispiel Ukraine-Krieg, bei dem Frauen und Kinder zuhause bleiben oder zu uns kommen, ist ein Beispiel für fast grenzenlosen Altruismus.

Sind Sie der Meinung, dass unter bestimmten Voraussetzungen, unter bestimmten situativen Faktoren, die meisten Menschen dazu imstande wären, schwere Straftaten zu begehen? 

Ich glaube, dass man fast jeden Menschen dazu bringen kann, unter bestimmten Umständen jemanden zu töten. Hingegen glaube ich nicht, dass man die meisten Menschen dazu bringen kann, grausam und heimtückisch zu morden. Denn dazu gehört immer noch eine spezielle Persönlichkeit. So ist auch nicht jeder im KZ zum Lagerkommandanten geworden.  Aber interessanterweise steht in der Literatur oft hinter einem sadistischen Mann eine noch sadistischere Frau. Wiederum  können wir auch nach wie vor nicht erklären, warum Leute mit einem schwierigen Schicksal, geprägt durch Missbrauch und Vernachlässigung, in irgendeiner Scheißecke der Welt mit schlechten Perspektiven und beschissenen Jobs überwiegend keine schweren Straftaten begehen. Die Überzeugung, dass in den meisten Menschen kein Mörder steckt, hatte ich schon vor meiner Tätigkeit als Gefängnisarzt. Diese Überzeugung habe ich immer wieder einer Prüfung unterzogen.

Hat Ihnen das dabei geholfen, Ihr positives Menschenbild zu wahren?

Absolut. Ich habe ein positives Menschenbild und ich habe das auch bewahrt. Es war nicht immer leicht, da ich es natürlich auch immer wieder mit menschlichen Exemplaren zu tun hatte, die einen verzweifeln lassen können. Und da braucht es manchmal schon besondere Anstrengungen. Es gibt einfach Menschen, die tun Furchtbares. Die kommen Dir im Knast entgegen und bleiben weiterhin ganz schrecklich. Du spürst in ganz wenigen Sätzen, dass Du es mit einem ausgemachten, schwer gestörten narzisstischen Arschloch zu tun hast, der weder etwas bereut noch vorhat, sich zu bessern.
Aber ok. Deshalb auch habe ich mein Buch „Maxima Culpa“ genannt. In Sachen Schuld muss man sich immer wieder die Frage stellen, ob man jemandem verzeihen kann, der seine schwere Straftat nicht bereut. Es gibt ja auch Menschen, die tun Schlimmes und bekommen keine lebenslange Haftstrafe, sondern eine Zeitstrafe. Und werden nach 12 oder 13 Jahren entlassen. Dann sehen wir, dass derjenige sich nicht positiv entwickelt hat und lassen ihn trotzdem laufen. Die Diskussion, ob das richtig so ist, kann man dann zum Beispiel bei Lesungen in die Runde stellen.

Sie gehen ja auch auf die Sicherungsverwahrung ein, die noch aus der NS-Zeit kommt. Bei der werden Menschen präventiv eingesperrt, um die Allgemeinheit vor Straftaten zu schützen, die noch nicht begangen wurden. Das wird kontrovers diskutiert. Hat Ihrer Meinung nach die Sicherungsverwahrung eine Berechtigung in unserem Rechtsstaat und halten Sie diese Maßnahme für moralisch vertretbar?

Als ich angefangen habe, in der JVA Werl zu arbeiten, galt die Sicherungsverwahrung als Auslaufmodell. Nach der Devise „die gibt es bald nicht mehr, da brauchen wir nichts zu machen“. Als ich gegangen war, wurde sie modernisiert und ein zukunftsträchtiges Modell. Es gibt Leute, die sitzen teilweise nach 30 Jahren noch da, weil die bekifft vom Urlaub zurückgekommen sind oder im homoerotischen Bereich auffällig geworden sind und nicht wegen Mord. Da meine ich, sollte engmaschiger überprüft werden, ob die Verhältnismäßigkeit noch gegeben ist, was jetzt ja auch passiert. Insofern ist die Messlatte zurecht höher gestellt geworden.
Andere Menschen sind entlassen worden und haben wenige Stunden später wieder ein Kind oder eine Frau vergewaltigt oder umgebracht. Es gibt einen therapeutischen Nihilismus, so hat das mal ein Bekannter von mir bezeichnet. Solche Menschen gehören zu diesen 7 bis 8 Prozent von Insassen, die für über 75% der schwersten Verbrechen verantwortlich sind und auf Therapie gleich welcher Art einfach nicht ansprechen. Ich glaube, dass wir Instrumente brauchen, dass wir Täter, die schwerste Straftaten begangen haben, einfach auf dem Schirm haben müssen. Und wir müssen auch nachweisen können, was wir alles versucht haben. Ich halte ich die Maßnahme der Sicherungsverwahrung in bestimmten Fällen für notwendig und wenn sie vernünftig umgesetzt wird, auch für moralisch vertretbar. Es gibt Leute, die, als sie aus meiner Sprechstunde rausgingen, ich nur froh war, dass sie im Anschluss weder in eine Fußgängerzone gehen noch an einem Kinderspielplatz vorbeikommen, sondern zurück in ihren Haftraum oder in die Freistunde zum Hofgang.

Denken Sie, dass der Regelvollzug seine Berechtigung hat, um die Gesellschaft zu schützen?

Machen wir uns nichts vor. Die Gesellschaft setzt weiterhin auf Verbüßung und auf Strafe. Der Resozialisierungsgedanke ist immer noch etwas, das man regelmäßig verteidigen muss. Mit „gutem Strafvollzug“ gewinnt kein Politiker eine Wahl. Aber mit einem Skandal verliert jemand sein Ministeramt. Das ist das Einzige, was die Politik am Strafvollzug interessiert. Wenn es in den 60er und 70er Jahren nicht Politiker gegeben hätte, die selber noch in Nazigefängnissen gesessen hätten, hätte es auch keine großen Strafrechtsreformen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gegeben. Mit dem System, wie wir es aktuell haben, bin ich d’accord.
Ich hätte zum Beispiel niemals in Amerika arbeiten können, wo Gefangene jahrelang in Todestrakten sitzen oder von der Kamera überwacht werden. Das halte ich für nicht menschenwürdig. Ob das System in Frankreich vertretbar ist, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht noch in Norwegen, Schweden, Österreich oder der Schweiz kann man von einem zivilisierten Strafvollzug sprechen. Das wär‘s aber auch schon. In allen anderen Justizvollzugseinrichtungen, die ich sonst noch kenne, hätte ich mich als Arzt ganz sicher nicht so lange aufgehalten. Im Moment kenne ich kein entscheidend besseres System als das, welches wir hierzulande haben.

Haben Sie das Gefühl, dass der Anteil von Inhaftierten, die im Zusammenhang mit schizophrenen Psychosen Gewalttaten begehen, zunimmt? 

Der Anteil nimmt zu. Das ist relativ einfach nachvollziehbar. Wenn wir sehen, dass die manifesten psychiatrischen Erkrankungen bei Jugendlichen in Bremen, Hamburg, Berlin bei 14, 15 Prozent liegen, dann ist der Niederschlag im Knast selbst natürlich auch erkennbar. 1988 hatte ich in Werl von 780 Insassen 36 Patienten mit einer manifesten psychiatrischen Erkrankung, also Schizophrene, chronisch Psychotische oder Patienten mit schwersten Angststörungen.
Am Ende meiner Berufstätigkeit habe ich nochmal eine Erhebung gemacht, da hatte ich an einem Tag alleine 150 Dispenser mit manifester psychiatrischer Medikation. Die Zahl steigt und der Vollzug beißt sich daran die Zähne aus. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2006 hat gezeigt, dass 15,6% der Insassen in Gefängnissen der westlichen, zivilisierten Welt manifest psychiatrisch sind. Es gibt in der westlichen Welt mehr psychiatrisch kranke Menschen, die in Gefängnissen sitzen als in der Psychiatrie. 

Denken Sie, dass die im Gefängnis gut aufgehoben sind?

Nein, ich habe in NRW dafür gekämpft, dass wir das therapeutische Setting für die psychiatrisch Kranken verbessern müssen. Beispielsweise haben wir mittlerweile drei Stationen mit insgesamt 60 Betten für die Akutversorgung. Das ist immer noch nicht genug, aber immerhin schon eine dramatische Verbesserung im Vergleich zum Vorzeitraum. Ich bin auch dafür, dass wir poststationäre Einrichtungen haben, wo wir Abteilungen haben, in denen die Gefangenen mit besonderem Betreuungsbedarf oder Aufmerksamkeitsbedarf untergebracht werden.
Wenn psychiatrisch Erkrankte sich überall im Haus verstreut aufhalten, ist das sicher nicht gut. Ich habe erlebt, dass die von den Mitgefangenen ausgeschlossen werden. Und wenn dann der Beamte, der die Medikation ausgibt, noch sagt: „Ich wusste gar nicht, dass du ein Bekloppter bist“, dann führt das dazu, dass viele nach vierzehn Tagen die Medikation absetzen, und das ist echt scheiße. Deshalb brauchen die Abteilungen erfahrene und qualifizierte Fachkräfte. Das ist mein Credo. Außerdem bräuchten wir eine bessere Vernetzung zwischen der forensischen Psychiatrie, dem Maßregelvollzug und dem Regelvollzug. Ich finde, das läuft in Österreich und in der Schweiz besser. 

Hat Ihre langjährige Tätigkeit als Anstaltsarzt Ihre Persönlichkeit im Allgemeinen sowie Ihr Erleben und Verhalten auch in anderen Lebensbereichen beeinflusst?

Die Tätigkeit hat meine Haltung zu Vorurteilen nochmal maßgeblich verändert. Vorurteile sind was Tolles, weil man seine Überzeugungen leichter behalten kann (lacht). Ich habe überraschende Begegnungen gehabt. Ich habe beispielsweise mit einem Drogendealer gesprochen, der Kindersoldat in Sierra Leone war. Der hat anfangs zu mir gesagt: „Hey Doc, ich bin ein Drogendealer, der Kindern Drogen verkauft. Jetzt wissen Sie es, ich bin ein Monster.“
Heute bin ich viel vorsichtiger, was Vorurteile angeht. Ich hab‘ ja auch gesehen, wie flott das im Knast passiert. Das Vorurteil ist noch viel schlimmer als das juristische Urteil. Ich stelle mich jetzt selber noch mehr in Frage. Dann ist mir durch den Knast nochmal intensiv vor Augen geführt worden, wieviel sinnlose Zeit Insassen dort verbracht haben und verbringen, und wie töricht es ist, so viel Lebenszeit für den Moment des Zorns, des Hasses oder der Gier zu riskieren.
Es ist mir noch bewusster geworden, dass sich Kriminalität nicht auszahlt. Ich bin auf keinen Insassen getroffen, für den sich unterm Strich die Tat und die Strafe gelohnt haben. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich meine Zeit so intensiv wie möglich und vor allem mit angenehmen Leuten verbringen möchte.

Konnten Sie als Schauspieler von Ihrer Erfahrung im Knast profitieren?

Absolut. Bevor ich in die Medizin und auch in den Knast gegangen bin, habe ich schon Theater gespielt. Aufgrund meines Aussehens habe ich vorwiegend Verbrecher, z.B. Totschläger oder Vergewaltiger gespielt. Wenn man die spielt, dann muss man sich damit beschäftigen, wie die so ticken. Wenn Sie Menschen gerne unter dem Blickwinkel des Schauspielers beobachten, dann haben Sie Freude daran und können das auch vermitteln. Nur wenn Sie Menschen gerne beobachten, ihnen zuhören und mit ihnen reden, können Sie als Psychologe mit ihnen arbeiten oder sie als Arzt heilen. Ansonsten können sie alles tun. Dann können Sie sie zwar behandeln, aber nicht heilen.
Insofern haben diese beiden Berufe ganz viel miteinander zu tun. Außerdem wurde ich ja immer wieder mal angegangen und beschimpft. Da ist es mir gelungen, als Schauspieler aus dieser Situation herauszutreten. Dann habe ich mir vorgestellt, wie ich diese Situation interpretieren würde, wenn es sich um eine Szene auf der Bühne handeln würde. Das hilft in dem Moment, eine gewisse innere Distanz herzustellen, obwohl man ja selber gerade beschimpft wird. Zudem hat es mir tiefere Einblicke in die menschliche Seele verschafft. Ich habe es auch niemals versucht, solche Situationen zu vermeiden. Wenn wir als Ärzte, Psychologen oder Psychiater den Momenten, die Konfliktpotential bieten, aus dem Wege gehen, erfahren wir nichts. Um dauerhaft im Knast arbeiten zu können, finde ich Klarheit und Authentizität ganz wichtig. 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Klappenbroschur
288 Seiten
ISBN: 9783548066615

Ullstein Taschenbuch

 

 

 

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