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FeuilletonFrankfurt

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PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Viviane Goergen spielt aus dem Zyklus „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ von Marie Jaëll

Von Erhard Metz

Das Dante-Jahr 2021 – Europa gedachte des 700. Todestags von Dante Alighieri, des größten Sohns Italiens – klingt weiter nach: Viviane Goergen spielte unlängst im vollbesetzten Saal des Gästehauses Frauenlobstraße der Frankfurter Goethe-Universität Auszüge aus dem Klavierzyklus „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ von Marie Jaëll.

Viviane Goergen im Mai 2022 im Gästehaus Frauenlobstraße der Goethe-Universität, Foto: Erhard Metz

Dass der Poeta laureatus, „so etwas wie Luther, Goethe und Schiller in einem“ (Maike Albath), vor allem dessen Opus magnum und Jahrtausendwerk „Comedia“, später Commedia bzw. Divina Commedia, mit Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso (Paradies) eine außergewöhnlich breite Rezeptionsgeschichte in Literatur, Bildender Kunst und selbstverständlich auch in der Musik erfahren hat, nimmt nicht wunder. Letzterem Bereich ist vor allem der Dante-Verehrer Franz Liszt mit seiner Dante-Sinfonie und seiner Dante-Sonata für Klavier zuzurechnen. Von großem Einfluß auf die Musik war beispielsweise auch die tragische Figur der Francesca da Rimini aus dem 5. Gesang des „Inferno“, die Peter Tschaikowsky zu dessen gleichnamiger Sinfonischer Fantasie inspirierte wie ebenso die Opernkomponisten Saverio Mercadante, Charles Ambroise Thomas, Sergei Rachmaninow oder Riccardo Zandonai (das Mercadante-Werk hat übrigens in der Spielzeit 2022/2023 an der Oper Frankfurt Premiere). Auch Giacomo Puccinis „Gianni Schicchi“ bezieht sich auf einen Gesang des Inferno. Und schließlich trägt Max Regers Symphonische Phantasie und Fuge für Orgel den Beinamen „Inferno-Fantasie“.

Viviane Goergen fügt dieser illustren Reihe von Komponisten einen sehr wichtigen Namen hinzu: den der zu ihren Lebzeiten hochgeschätzten, später sehr zu Unrecht in Vergessenheit geratenen französischen Klaviervirtuosin, Komponistin, Klavierpädagogin und Wissenschaftlerin Marie Jaëll (1846-1925). Als deren letztes großes Werk und Opus magnum komponierte Jaëll, inspiriert von der Lektüre der Commedia, den dreiteiligen Klavierzyklus „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“.

Marie Jaëll

Die Französische Pianistin, Komponistin und Wissenschaftlerin Marie Jaëll, geborene Trautmann, erblickt am 17. August 1846 in Steinseltz im Elsass das Licht der Welt. Mit sechs Jahren nimmt sie ihre ersten Klavierstunden. Ihre Fortschritte sind so erheblich, dass ihre Mutter sie bald nach Stuttgart zum bekannten Professor Franz Hamma bringt und zum großen Virtuosen und Direktor des Leipziger Konservatoriums, Ignaz Moscheles. Dieser prophezeit: „Dieses Kind wird etwas ganz Großes auf dem Gebiet der Kunst machen.“ Marie Jaëll ist ein Wunderkind am Klavier. Mit neun Jahren gibt sie ihre ersten Konzerte. Im Dezember 1857 spielt sie bereits in London vor der Königin Victoria und gibt bis zu vierzig Konzerte innerhalb Europas im Jahr. 1862 kommt sie endlich an das Pariser Konservatorium zum berühmten Professor Henri Hertz. Bereits nach vier Monaten erhält sie einen ersten Preis. Ein Kritiker schreibt: „Viele Künstler möchten so enden, wie sie anfängt.“ Mit zwanzig Jahren heiratet Marie Jaëll den renommierten österreichischen Pianisten Alfred Jaëll (1832-1882). Er ist fünfzehn Jahre älter als sie, ein Schüler von Chopin und Freund von Brahms, Rubinstein und Liszt. Von Paris aus, wo sie sich niederlassen, konzertieren sie vierhändig durch ganz Europa bis nach Russland.

1868 hört Marie Jaëll zum erstenmal Franz Liszt in einem Konzert. Sein Spiel schlägt wie ein Blitz bei ihr ein und verändert ihr ganzes Musikverständnis. Sie schreibt: „Als ich 1868 in Rom zum ersten Male Liszt hörte, schienen alle meine Sinne sich zu wandeln, in dem Moment, als er anhob zu spielen: Diese so unerwartete Veränderung beeindruckte mich sogar noch mehr als sein Spiel selbst.“ Nach der Niederlage im Krieg von Sedan in 1870 und der Annexion von Elsass-Lothringen durch das Deutsche Reich verzichtet Marie Jaëll auf jegliche musikalische Karriere in Deutschland. Sie fühlt sich innerlich zerrissen, da sie musikalisch Deutschland viel zu verdanken hat. 1872 entscheidet sie sich für die französische Nationalität und zieht nach Paris. Mehr und mehr widmet sie sich der Komposition. 1870 nimmt sie Kompositionsunterricht bei César Franck, dann bei Camille Saint-Saens. Franz Liszt berät und unterstützt sie. 1876 bringt er ihre Walzer zu vier Händen heraus und spielt sie zusammen mit Saint-Saens in Bayreuth. Er schreibt ihr: Ein Männername über Ihrer Musik, und sie wäre auf allen Klavieren.“ Marie Jaëll leidet sehr unter den Vorurteilen Frauen gegenüber in ihrer Zeit. Sie schreibt: „Ein Mann, der eine Frau heiratet, fragt nicht, was sie denkt oder was sie fühlt. Er schaut nur, ob sie schön ist.“

1883 ändert Marie Jaëll ihre 1870 gefasste Meinung hinsichtlich Deutschlands und geht zu Franz Liszt nach Weimar. Sie korrigiert seine Kompositionen und erledigt seine Korrespondenz. Eine innige Freundschaft baut sich zwischen beiden auf. Er schreibt: „Sie hat den Geist eines Philosophen und die Hände eines Künstlers.“ 1884 und 1885 kehrt sie nach Weimar zu Liszt zurück. 1886 stirbt er. Franz Liszt hat Marie Jaëll seinen dritten Mephistowalzer gewidmet, Saint – Saens sein 1. Klavierkonzert und seine „Etude en forme de Valse“.

In 1887 wird sie als erste Frau in der „Société Nationale des Compositeurs de Musique“ in Paris aufgenommen. 1891 und 1892 spielt sie das gesamte Klavierwerk von Franz Liszt im Konzert in Paris und die 32 Sonaten von Beethoven. Ihr letztes großes Werk „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ komponiert sie 1894. Es ist wie ein monumentales Testament.

Anschließend widmet sich Marie Jaëll intensiv einer neuen Klaviermethode. Sie möchte das Klavierspiel von Liszt fachlich analysiert dokumentieren. In dem ersten Buch „Der Anschlag“ 1894/95 stellt sie ihre Methode dar, die auf dem Bewusstsein der Bewegungen und der Entwicklung der Sensibilisierung der Finger basiert. Sie zeigt die Wichtigkeit der mentalen Arbeit am Instrument, in einer Zeit, in der die Ausbildung noch sehr mechanistisch orientiert ist. 1896 erscheint ihr zweites Buch „Die Musik und die Psychophysiologie“. Sie widmet sich der Beziehung von Kopf und Hand in Zusammenarbeit mit dem Arzt Charles Ferré, Leiter des Hospitz von Bicêtre. Bis 1912 veröffentlicht sie neun weitere Bände mit theoretischen Schriften . Unersättlich in ihrem Wissensdrang belegt sie Kurse über Physik, Botanik und Biologie an der Sorbonne in Paris. 1902 spielt sie das gesamte Klavierwerk von Robert Schumann im Konzert. 1905 schließlich hört sie ganz mit Konzertieren auf. Sie ist Professorin am Konservatorium von Paris, zu ihren Schülern zählt u.a. Albert Schweitzer. Nach der Rückkehr von Elsass-Lothringen an Frankreich komponiert sie 1917 noch ein letztes Werk, die „Harmonien des Elsass“. 1925 stirbt Marie Jaëll an den Folgen einer Grippe.
Als Komponistin hinterlässt sie ein Œuvre von etwa 70 Werken für Klavier, Orchester, Chor, Kammermusik mit Cello, Geige und Gesang, zwei Klavierkonzerte, ein Cellokonzert, eine Symphonie, selbst eine nicht vollendete Oper. Etwa die Hälfte ihrer Werke bleibt unveröffentlicht. Marie Jaëll war eine außerordentlich begabte Frau. Sie war nicht nur eine große und leidenschaftliche Pianistin von Weltformat, sondern auch eine international herausragende Komponistin und, ergänzend dazu, eine hochkarätige Wissenschaftlerin, die ihrer Zeit um ein Jahrhundert voraus war.

Zusammenstellung: Viviane Goergen

Marie Jaëll (1846-1925), jeune femme, coiffée d’un élégant chapeau. Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg; Foto: Ganz, J.; Wikimedia Commons

Marie Jaëlls „18 Pièces“ sind lediglich in Anlehnung an Dantes Trilogie entstanden und wollen keine unmittelbare Vertonung einzelner Inhalte bzw. „Gesänge“, wie der Dichter sie nennt, darstellen, sondern sie bilden ein eigenständiges Werk. Eine kurze Übersicht über die jeweiligen Strukturen: Die Commedia umfaßt in ihren bereits erwähnten drei großen Abschnitten Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso (Paradies) neben einem Prolog jeweils 33 nicht näher bezeichnete Gesänge in über 14.200 Versen. Jaëll folgt bei aller Eigenständigkeit ihres Werkes dieser grundsätzlichen Dreiteilung mit den Abschnitten ihrer Komposition „Ce qu’on entend dans l’Enfer“ – Was man in der Hölle hört, „Ce qu’on entend dans le Purgatoire“ – Was man im Fegefeuer hört, und „Ce qu’on entend dans le Paradis“ – Was man im Paradies hört, die sie wiederum jeweils in sechs mit beziehungsreichen Titeln versehene Einzelkompositionen teilt: Poursuite, Raillerie, Appel, Dans les flammes, Blasphèmes und Sabbat; in der Mitte: Pressentiments, Alanguissement, Désirs impuissants, Remords, Maintenant et Jadis und Obsession; schließlich Apaisement, Voix celestes, Hymne, Quiétude, Souvenance und Contemplation.

Ein genußreiches Verständnis der „18 Pièces“ setzt sicherlich optimaler Weise die Lektüre der Commedia voraus oder zumindest eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt dieses großen, über die Zeiten hinweg singulären und vielleicht erst wieder von Goethes zweiteiligem Faust-Epos in etwa ebenbürtig in Worte gekleideten Welt- und Menschheitstheaters, ja Menschheitsdramas. Wenn wir zuvor von einer beachtlichen Rezeptionsgeschichte der Commedia auch in der Musik sprachen, so wird doch – bei aller Wertschätzung etwa auch eines Franz Liszt – angenommen werden dürfen, dass bislang nur Marie Jaëlls Klavierzyklus der Höhe des Dante’schen Meisterwerks gerecht werden kann. Umso mehr nimmt es wunder, dass dieses – weitere – Meisterwerk bislang noch weitgehend unentdeckt geblieben und deshalb, wenn wir recht sehen, erst in einer einzigen kompletten CD-Einspielung am Markt verfügbar ist. Mit ein Grund dafür mag in der außergewöhnlichen Komplexität der musikalischen Gedankenführung der hochintellektuellen Komponistin und deren adäquatem Niederschlag in einer nicht minder komplexen und nur schwierig zu erarbeitenden Notation zu finden sein. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ergreift den aufgeschlossenen Hörer dieses genialen wie zugleich zutiefst sinnlichen Werks, je öfter er sich diesem zuwendet, ein unwiderstehlicher Zauber.

Seit längerem widmet sich die Luxemburgisch-Schweizerische Pianistin Viviane Goergen der Wiederentdeckung bedeutender Komponistinnen der Wende zum 20. Jahrhundert, gerade auch des romanischen Raumes wie beispielsweise Mélanie Hélène Bonis, Germaine Tailleferre, Marguerite Roesgen-Champion oder eben Marie Jaëll. Nicht zuletzt der entsprechenden Aufmerksamkeit der internationalen Fachwelt sowie ihren Verbindungen in die französische Musikszene ist die wiederholte Anregung zu verdanken, sich, vielleicht in Zusammenhang mit dem Dante-Jahr 2021, den „18 Pièces“ anzunehmen und sich sogar zu einer neu interpretierenden Gesamteinspielung zu entschließen. Dabei kam Viviane Goergen die Zeit der coronabedingten Restriktionen in gewisser Weise entgegen, in der sie sich dem aufwändigen Studium dieser Komposition in der notwendigen Intensität und Disziplin zuwenden konnte, wie dies anders vielleicht kaum möglich gewesen wäre.

Es ist geplant, dass diese sorgsam erarbeitete Neueinspielung zum Jahresende 2022 erscheint. Einen Vorgeschmack auf dieses musikalische Ereignis erhielt ein gut achtzigköpfiges Auditorium jetzt in einem Gesprächskonzert, in welchem die Pianistin eine Auswahl von drei Einzelkompositionen aus der „Hölle“ sowie jeweils vier Episoden aus den Abschnitten „Fegefeuer“ und „Paradies“ zur Begeisterung des Publikums präsentierte. Gastgeber dieser Matinee war die Frankfurter Goethe-Universität und deren Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen, repräsentiert durch Universitäts-Vizepräsidentin Professorin Christiane Thompson und Professor Jürgen Bereiter-Hahn, dem Vorsitzenden des Stiftungsrats, die die geladenen Gäste begrüßten. Das Frankfurter Bechstein-Centrum stellte für das Konzert einen Flügel der Extraklasse zur Verfügung.

Domenico di Michelino, Dante mit seinem Epos, Fresco in Santa Maria del Fiore, Florenz, 1465; Dante Alighieri hält sein Werk Göttliche Komödie vorzeigend in der linken Hand, mit der rechten weist er auf eine Prozession von Sündern zur Hölle; hinter ihm die Terrassen des Purgatoriums und rechts eine historische Ansicht der Stadt Florenz. Foto: Jastrow, Wikimedia Commons

Viviane Goergen zu ihrem Spiel:

„Was man in der Hölle hört“: Poursuite, Appel, Dans les Flammes

In einem dunklen Wald verirrt sich der Ich-Erzähler Dante und gerät in die Hölle. Als er sich dessen bewusst wird, will er sie sofort verlassen. Aber drei wilde Tiere bewachen den Eingang und verfolgen ihn. Besonders die ausgehungerte Wölfin hat es auf ihn abgesehen. Eine Hetzjagd auf Dante beginnt. Beatrice schickt Virgil zu seiner Hilfe. Er wird Dante von nun an auf seinem Weg durch die Hölle und das Fegefeuer begleiten.

Marie Jaëlls Stil ist ganz eigen, das Notenbild ungewohnt. Sie ist eine brillante Pianistin und Komponistin mit ganz großen Gefühlen. In ihrer Hölle zieht sie mit Leichtigkeit sämtliche kompositorischen Register. Sie nimmt weder Rücksicht auf Schwierigkeiten der Technik, des Lesens noch der Unabhängigkeit der Hände. Sie lässt ihrer kompositorischen Vorstellung freien Lauf. Für den Interpreten bedeutet die Hölle eine große Herausforderung.

Marie Jaëlls Hölle beginnt mit der Verfolgungsjagd der ausgehungerten Wölfin auf Dante mit dem Werk „Poursuite“ (Verfolgung). Die Melodie beruht auf den vier ersten Tönen des Dies Irae, dem Tag des Zorns, eines mittelalterlichen Hymnus, der in Bezug zum jüngsten Gericht steht und etwa 1250 geschrieben wurde. Im übrigen bilden die vier Töne des Dies Irae die Thematik aller sechs Werke der Hölle. Poursuite ist sehr brillant komponiert. Beide Hände spielen versetzt, jagen sich quasi hinterher, was die Hetzjagd auf Dante sehr überzeugend vermittelt. Die Akzente kommen nie auf den starken Schlag, sondern immer auf den schwachen Schlag davor. Diese versetzte Schreibweise ist typisch für Marie Jaëlls eigenen Stil. Für den Interpreten ist sie nicht nur irritierend zu lesen, sondern auch schwer umzusetzen.

Im Appell (Ruf) zeigt die Komponistin, dass sie in der Lage ist, mit ganz wenigen, wiederholten Tönen eine tief beeindruckende höllische Atmosphäre herzustellen. Hier handelt es sich um den Ruf von Beatrice. Sie bittet Virgil, Dante zu Hilfe zu kommen, ihn zu schützen und durch die Hölle und das Fegefeuer zu führen.

In „Dans les Flammes“ (In den Flammen) führen anfänglich leicht zündelnde Flämmchen allmählich zu einem überwältigenden Flammenmeer. Unterlegt sind die Flammen melodisch vom Dies Irae in immer wieder veränderter Phrasierung und Lage. Wie Liszt nutzt Marie Jaëll auch hier die ganze Klaviatur. Sie ist eine Frau der großen Dimensionen.

Was man im Fegefeuer hört“: Pressentiments, Désirs impuissants, Maintenant et jadis, Obsession

Im Fegefeuer wird die Melodie auf die zwei ersten Noten des Dies Irae reduziert, die dann einen Ton höher wiederholt werden – ein Symbol dafür, einen Schritt höher gekommen zu sein als die Hölle. Nach dem Verlassen der Hölle führt ein sehr schmaler und steiler Weg die Seelen ins Fegefeuer oder anders formuliert auf den Erläuterungsberg. Ein überirdisch strahlendes Licht blendet sie. Es ist eine Vorahnung auf das Paradies.

In Marie Jaëls „Pressentiments“ (Vorahnungen) erkennen wir den schmalen Aufstieg in der rechten Hand. Die linke Hand greift mitten in die Tonfolgen der rechten Hand hinein und hält einige Töne stumm fest, die weiter klingen. Hier handelt es sich um eine ganz besondere Technik der Komponistin. Sie erzeugt „engelsähnliche“ Klänge.

Die Seelen haben alle den Wunsch, ins Paradies zu kommen, aber sie müssen erst ihre Strafen im Fegefeuer abbüßen. Sie müssen immer wieder dasselbe tun. Manche müssen sehr lange im Fegefeuer bleiben, sogar 500 Jahre sind erwähnt. Vielleicht kommen sie auch gar nicht mehr heraus. In Marie Jaëls „Désirs impuissants“ (kraftlose Wünsche) hören wir immer wieder den Wunsch in der linken Hand aufkommen, der anschließend abgebremst wird und schlussendlich in Resignation endet.

Im Fegefeuer gibt es noch aggressive Klänge, die an die Hölle erinnern, so auch am Anfang von „Maintenant et jadis“ (Jetzt und einst). In der Mitte dieser Episode scheint eine klanglich wunderschöne, hell erleuchtete Stelle auf – Beatrice erscheint Dante. Es kommt zu einem berührenden Dialog der beiden. Aber Dante ist noch nicht im Paradies. Er muss wieder zurück ins aggressive Fegefeuer.

Im letzten Werk der Hölle „Obsession“ (Obsession) kommt dasselbe Thema von Anfang an bis zum Schluss vor. Es beruht, wie in allen Werken des Fegefeuers, auf den vier bereits vorgestellten Tönen. Zuerst hört sich das Thema geflüstert und leise an, entwickelt sich immer mehr und endet im Fortissimo über die ganze Klaviatur verteilt.

Was man im Paradies hört“: Voix Célestes, Quiétude, Souvenance und Contemplation

Das Paradies bringt uns in eine wunderschöne klangliche Dimension: Marie Jaëll versucht, sich dem Paradies, aber auch dem Göttlichen zu nähern. Sie schreibt tonal, moduliert aber sehr viel. Vieles ist schwierig durch Doppelkreuze und Doppelbes zu lesen. Sie verwendet sehr viele Phrasierungen, die die Unabhängigkeit der Hände auf die Spitze treiben. Ein beeindruckendes klangliches Licht zieht sich durch das ganze Paradies – es sollte, nach ihren eigenen Worten, ganz durchscheinend und einfach gehalten sein.

Wie bei Dante kommen auch bei Marie Jaëll im Paradies viele Engel vor. „Voix Célestes“ (Himmlische Stimmen) klingen wie hell fließende, zarte Engelsstimmen. In diesem bezaubernden Werk gibt es viele Oktavsprünge. Beide Hände greifen öfters ineinander – beides typische Schreibweisen für den ganz eigenen Stil der Komponistin.

In „Quiétude“ (Ruhe) hören wir kreisende Bewegungen in der rechten Hand von unbeschreiblicher klanglicher Schönheit. Auch hier kann ein Bezug zu Dantes kreisenden Engeln gesehen werden. Im Mittelteil folgt ein hell beleuchteter, tief berührender Dialog zwischen Dante und Beatrice. Die Partie endet auf einer feinen sphärischen Klangebene.

„Souvenance“ (Erinnerung) ist ein gefühlvoll fließender Rückblick mit einer etwas menschlicheren, melancholischen und dunkleren Färbung – vielleicht auf das Treffen mit dem Verwandten von Dante zurückzuführen. Das Thema ist über drei Oktaven verteilt, auch dies eine typische Schreibweise von Marie Jaëll. Es ist eine sehr berührende und eingehende Passage.

Schließlich erinnert uns der letzte Teil des Paradieses „Contemplation“ (Kontemplation) an „Der Dichter spricht“ in Schumanns „Kinderszenen“. Der Blick eines Weisen über das Leben, in die Zukunft: Verklärung, Inbegriff von Harmonie, Liebe, Reinheit, Ruhe und Meditation in hellem Licht. Kurzum der Versuch einer klanglichen Annäherung an die göttliche Dimension.

Marie Jaëll coiffée d’un chapeau, donnant le bras à Alfred Jaëll qui tient un chapeau haute-forme à la main, 1866; Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg; Foto: P. Gaussen, Wikimedia Commons

Viviane Goergens Spiel begeisterte erneut wie vor der coronabedingten Auftrittspause. Ihre pianistischen Möglichkeiten füllen die gesamte Bandbreite vom empfindsamsten Pianissimo bis zum donnernden Grollen aller himmlischen wie höllischen Elementarkräfte, vom vorsichtig-zaghaften, befragenden Anklopfen bis zur fast brachialen Expression. Den an technischen Finessenen den schwierigsten Werken etwa eines Franz Liszt nicht nachstehenden Anforderungen der Komponistin begegnet sie mit Souveränität. In Marie Jaëll scheint sie sogar ihr kongeniales kompositorisches Gegenüber gefunden zu haben, geradezu in Seelenverwandschaft ihr verbunden zu sein. Wunderbar zu hören, wie sie ebenso mit dem scheinbar „leichteren“ Genre Jaëlls umgeht, etwa den Valses mignonnes, von denen sie die Walzer Nr. 4 in d-moll (Très décidé) und Nr. 3 in G-Dur (Mouvement très modéré) als Zugaben zum besten gibt. Fesselnd schließlich auch ihre Art und Weise, ihre Musik mit einigen Erläuterungen zu begleiten.

Nun warten wir gespannt auf die Veröffentlichung ihrer Einspielung der „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ zum Jahresende. Die Wartezeit ließe sich gut überbrücken mit einer Erst- oder auch Auffrischungslektüre der Commedia des italienischen Altmeisters Dante.

Viviane Goergen – Vita

Mit sieben Jahren begann die in Paris geborene Luxemburgisch-Schweizerische Pianistin ihre musikalischen Studien bei Suzanne Hoffmann-Knepper am Luxemburger Konservatorium. Anschließend studierte sie bei Gaston Bollen am Conservatoire Régional de Nancy, bei Lucette Descaves am Conservatoire National Supérieur de Paris und bei Thierry de Brunhoff an der Ecole Normale de Musique de Paris. Eine brillante Laufbahn im Solo wie in der Kammermusik führte sie auf Konzertreisen u.a. nach Prag, London, Madrid, Brüssel, Salzburg, Wien, Algier, Basel, Zürich, Berlin. In zahlreichen Fernseh-, Rundfunk- und CD-Produktionen ist ihr Repertoire dokumentiert, das von Beethoven über Schumann, Franck, Chopin, Brahms, Debussy, Feininger, Schulhoff, Toch, Jaëll, Bonis, Messiaen, Richter und weitere mehr bis in die Gegenwart reicht.

Viviane Goergen spielte u.a. in der Prager Philharmonie, der Royal Festival Hall, der Alten Oper Frankfurt, vor der Königin der Niederlande, dem Kaiser von Japan. Viele neue Werke, manche eigens für sie komponiert, so der große Klavierzyklus „Feininger Impulse“ von Kurt Dietmar Richter, hat sie zur Uraufführung gebracht. Sie hat viele Kompositionen von zu Unrecht vergessener Komponisten und Komponistinnen wiederbelebt, so Werke von Ernst Toch, Pavel Jérabek, Marie Jaëll, Melanie Bonis, Germaine Tailleferre, Vitzeslava Kapralova. 1994 gründete sie das „Zentrum für Musik und Konstruktives Denken“ in Rödermark auf der Basis von Autogenem und Mentalem Training, Kognitiver Verhaltenstherapie, Gehirnforschung, Entspannungstechniken etc. Ab 2007 unterstützt sie zusätzlich außergewöhnlich begabte junge Pianisten und Pianistinnen mit einem Rundumprogramm aus Coaching und Management.

→ Viviane Goergen spielt Werke noch wenig bekannter Komponistinnen
→ Viviane Goergen spielt Werke früher Komponistinnen: Marguerite Roesgen-Champion, Mélanie Bonis, Germaine Tailleferre, Marie Jaëll, Vítezslava Kaprálová, Otilie Suková-Dvořákova

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