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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Otl Aicher. Weit mehr als ein Designer

Ein großformatiges Buch rekonstruiert Werk, Leben und Schaffen der Welt-Legende

Von Uwe Kammann

Beim Buch, das unbedingt auf die berühmte Insel mitgenommen werden muss, werden gemeinhin Romantitel genannt, manchmal auch Gedichtsammlungen. Sachbücher dagegen eher nicht, wenn überhaupt. Hier nun soll ein Buch als Inselbegleiter empfohlen werden, an dem sich vor allem jene nicht sattsehen und sattlesen werden können, denen nicht nur die Gestaltung der Dinge, sondern der Umwelt überhaupt am Herzen liegt. Worunter vieles zu verstehen ist, nicht zuletzt die Kommunikation. Die Rede ist von einem Titel, der knapper nicht sein könnte: „Otl Aicher“. Und der Name ist hier sogleich Programm, das schon im Untertitel anklingt: „Designer. Typograf. Denker.“

Otl Aicher in seinem Ulmer Atelier, 1953. HfG-Archiv / Museum Ulm

Es geht um einen ganzheitlichen Ansatz der Gestaltung, den niemand so konsequent gedacht, gelebt und in seiner Arbeit realisiert hat wie dieser weltberühmte Gestalter, weit über die üblichen Gestaltungsräume hinaus. Es ist keine Koketterie oder Übertreibung, wenn der große britische Architekt Sir Norman Foster über seinen 1991 bei einem Verkehrsunfall um Leben gekommenen Freund schlicht sagt: „Der beste Designer der Welt.“

Das Urteil findet sich in einer Erinnerungs-Hommage an Aicher, welche den großformatigen Band beschließt. Nach einer Reihe von Beiträgen, welche vielfältige Aspekte des Werkes und der Person ausmessen, beleuchten, lebendig werden lassen. Es ist ein klug ausgewählte Reihe von Autoren, welche in diesem von Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl sehr sorgfältig herausgegebenem Buch (Prestel-Verlag) das umkreisen, was das Denken und Schaffen Aichers ausmacht.

Einen zentralen Bereich dieses Schaffens kennen wahrscheinlich nahezu alle Menschen in vielen Ländern der Welt: nämlich die Piktogramme, die er für die Olympischen Spiele in München entworfen hat. Es sind Bildzeichen, welche sich leicht erfassen und verstehen lassen und zur schnellen Orientierung dienen. Die Besonderheit: ihre geometrische Strenge, ihre Klarheit, ihre Leichtigkeit, ihr modularer Aufbau mit wenigen Elementen.

Farbenbündel an den Masten der Zeltdachkonstruktion im Münchner Olympiapark, 2021, Fotografie: Hannes Gumpp

Diese eingängige Zeichensprache ist noch heute, fünf Jahrzehnte nach den Münchner Spielen, an vielen Orten zu sehen, von Flughäfen bis zu öffentlichen Räumen jeglicher Art. Aicher war die zentrale Figur bei der Gestaltung des Außenbildes dieses großen Sportfestes, für das er in fünfjähriger Arbeit ein Gesamtbild entwarf und durchsetzte. Dessen unzählige Einzelelemente – vom Fahnenschmuck über die Uniformen der Helfer bis zu den Eintrittskarten und Trinkbechern – unterwarf er seinen strikten Vorgaben. Und trug genau damit wesentlich dazu bei, dass bis zum grauenhaften Attentat des Terror-Kommandos Schwarzer tatsächlich jeder Besucher einstimmte: Ja, das Motto stimmt, es sind die „heiteren Spiele“.

Die Gesamtkomposition als Voraussetzung dieser visuellen Vorgabe ließ sich in der Verbindung sofort erkennen, nicht zuletzt wegen des hellgrundierten Farbspektrums mit Abtönungen von blau, grün, silber, weiß, grau, orange („Regenbogenspiele“). Das war das genaue Gegenteil dessen, was sonst an pompösen Elementen bei solchen Ereignissen angeboten wird. Und damit ergänzte die visuelle Erscheinung perfekt die noch immer atemberaubend kühne Architektur des transparenten Zeltdaches über der weit ausschwingenden Landschaft des Olympiaparks.

Dieser so besondere Aufgabe – es ging auch um die Vermittlung eines neuen Deutschland-Bildes – widmet das Buch ein ganzes Kapitel, mit sehr viel erhellenden Hintergrundinformationen, auch darüber, wie offen der Beginn der konzeptionellen Arbeit war, und ebenso darüber, welche Widerstände der Designer überwinden musste. Die Entstehung dieses in der Welt des Sports einmaligen visuellen Erscheinungsbildes schildert der überaus kundige Autor Kilian Staus, der dabei Einsicht in viele Arbeitsprotokolle nehmen konnte.

Eine Ausstellungstafel, die Otl Aicher für die Ausstellung Wilhelm von Ockham gestaltete (Reihe Erkundungen der Bayerischen Rückversicherung), 1986. Die Schlacht bei Mühldorf 1322. Ludwig der Bayer besiegt den Habsburger Friedrich den Schönen. HfG-Archiv / Museum Ulm, © Florian Aicher

Simone Egger wiederum untersucht in diesem Kapitel, wie diese „gebaute Welt“ mit dem Bild der Stadt München korrespondierte. Denn Aichers Team entwarf viele Elemente – immer mit der Farbbasis des Regenbogens –, welche auch die Stadt an vielen Orten prägten. Olympia ‚72, das wurde zum einheitlichen Kunstwerk, symbolisiert bereits im Logo eines weißen Strahlenkranzes, der durch eine gebrochene Spiralbewegung dynamisiert wurde.

Andere Kapitel sind dem Lehrer Aicher gewidmet. So gehörte er zu den Mitbegründern der noch heute gerühmten Ulmer Hochschule für Gestaltung. Und in seinem späteren Atelier und Studienort wurde er von allen Mitarbeitern und Besuchern immer auch als eindrucksvoller denkerischer Wegweiser und Dozent empfunden. Nicht umsonst ist ein Text überschrieben „Die Doktrin des moralischen Designs“ – was klar benennt, dass Otl Aicher sich nie als bloßer Verschönerer der Oberflächen des Lebens verstanden hat.

Seine Ziele waren umfassender: Es ging ihm um eine Ordnung aller Lebenszusammenhänge; auch darum, Sinn erfahrbar zu machen, eine Orientierung im Miteinander zu ermöglichen. Nachhaltigkeit war für ihn ein Muss, als kaum jemand diesen Begriff kannte. Wie weit er sie verinnerlicht und veräußerlicht hatte, zeigt sich daran, dass noch heute, über drei Jahrzehnte nach seinem Tod, viele Generallinien im Grundzug erhalten sind.

So zeigt sich seine Meisterschaft in der einheitlichen Gestaltung von Unternehmens-‚Bildern’ in all’ ihren Ausprägungen, von der Schrift bis zu den Grundfarben – später wurde das schick ‚corporate design’ und ‚corporate identity’ genannt. Er arbeitete für die Großen der Branche wie Lufthansa, Bulthaup, Erco, Flughafen Frankfurt, Sparkasse. Auch für das Medienunternehmen ZDF hatte er in den 1970er Jahren ein einheitliches Erscheinungsbild bis hin zu den Studioeinrichtungen entworfen – ein Bild, das in seiner Klarheit und durchgehenden Einfachheit rein gar nichts mit dem späteren medialen K(r)ampf um Aufmerksamkeit in schriller Konkurrenzlage zu tun hatte.

Ab 1974 entwickelte Otl Aicher das visuelle Erscheinungsbild des Leuchtenherstellers ERCO. In Zusammenarbeit mit ERCO entstanden auch zahlreiche Piktogramme für die verschiedensten Anwendungsgebiete.Plakat mit Piktogrammen für Verkehr, Autodienste und Transportzeichen. HfG-Archiv / Museum Ulm, © 1976 by ERCO, www.otl-aicher-piktogramme.de

Noch heute sind beeindruckende Alltagsdinge von der visionären Gestaltungskraft Aichers geprägt. Einem Medium widmete er mit großer Ausdauer und Energie eine ganz besondere Sorgfalt: der Schrift. Er schuf einen Typus, der noch heute weltweit in vielen Publikationen verwendet wird. Die Bezeichnung Rotis ist dabei nichts anderes als der Name eben jenes Ortes im Allgäu, den Aicher als Lebensmittelpunkt gewählt hatte: mit einem Hof, den er um einen selbstentworfenen Atelierbau ergänzte, als Denk- und Arbeitsstätte seines Instituts für analoge Studien. Ein ländlicher Ort für ein ganz eigenständiges Leben, das er ganzheitlich verstand und verwirklichte, mit eigener Wasser- und Energieversorgung, mit einer eigenständigen Gärtnerei.

Ganzheitlich, das stand ohnehin für alle seine Aktivitäten, die sehr vielfältig waren, weil der Mensch Aicher eben auch über eine schier unerschöpfliche Energie verfügte. So war er auch Architekt (die Rotis-Umgebung war seine Schöpfung), so war er Fotograf (mit einem besonderen Blick für Strukturen, für grafische Grundmuster), und so war er auch (ein streng schreibender) Autor von Büchern, die thematisch mit Gestaltung zu tun hatten (Küchen, Autos), dabei aber immer allgemeine Lebensprinzipien einschlossen. Oder die ganz weit ausgriffen, um geradezu archaische Grundansichten des Lebens zur Anschauung zu bringen, wie in einem großzügigen Bildband über die Wüste.

Messestand des Elektrogeräteproduzenten Braun auf der Rundfunkausstellung Düsseldorf 1955. Das von Otl Aicher und Hans G. Conrad entwickelte und hier erstmals eingesetzte Ausstellungssystem d55 wurde von der Firma Braun zwei Jahrzehnte lang verwendet. HfG-Archiv / Museum Ulm, © Florian Aicher

Kein Zufall ist es, dass Otl Aicher mit einer anderen deutschen Design-Legende zusammengearbeitet hat, mit Dieter Rams. Es ging um  Konzeption und Gestaltung eines Ausstellungspavillons der Firma Braun genau Mitte der 50er Jahre, bei der Funkausstellung in Düsseldorf. Die Architektur dieses Messestandes wies genau all jene Merkmal auf, welche in den folgenden Jahrzehnten die Produkte des in Kronberg ansässigen Unernehmens prägte und unverwechselbar machte: Reduktion der Linien, Klarheit, Einfachheit, konstruktive Transparenz, Besinnung auf Bauhaus-Prinzipien.

Dieter Rams; Foto: Dieter und Ingeborg Rams Stiftung

Gleichwohl, trotz dieser Gemeinsamkeit gab es einen grundlegenden Unterschied. Denn Dieter Rams – der in diesen Tagen seinen 90. Geburtstag feiern durfte – konzentrierte sich Zeit seines Lebens auf die Gestaltung von Industrieprodukten (wie Audiogeräte, Rasierer, Feuerzeuge, Küchengeräte, Haartrockner, Taschenrechner, Ventilatoren, Foto- und Filmkameras, Sitzmöbel, Regalsysteme), während Aicher als Universalist wirkte. In der Theoriebildung (Rams: „Weniger, aber besser“) waren sie sich ähnlich, wobei klar ist: Auch hier holte Aicher wesentlich weiter aus.

Um diese Unterschiede zu erkennen, lohnt es sich sehr, neben das jetzige Aicher-Buch einen ebenfalls großformatigen Band zu legen, welcher auf orangefarbenem Cover den Titel trägt: „Dieter Rams: Werkverzeichnis eines Industriedesigners“ (Phaidon-Verlag). Dort ist natürlich sein berühmtes Credo nachzulesen: „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich“. Die knappste Formel der zehn Gestaltungsgebote des ebenfalls weltweit gerühmten Dieter Rams lautet: „Weniger, aber besser“. Zu seinem Urkatalog gehören (es lohnt sich immer wieder, dies aufzurufen): ‚echte’ Innovationen, Brauchbarkeit, Ästhetik, Verständlichkeit, Ehrlichkeit, Unaufdringlichkeit, Konsequenz, Langlebigkeit und Umweltfreundlichkeit.

Am 24. April 1946 eröffnete die von Inge Scholl und Otl Aicher begründete Ulmer Volkshochschule. In den folgenden Jahren gestaltete Aicher zahlreiche Plakate in standardisiertem Hochformat für die „Donnerstagsvorträge“, die ein breites Spektrum von wissenschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Themen behandelten. Plakat für die Ulmer Volkdshochschule, 1951, HfG-Archiv / Museum Ulm, © Florian Aicher

Diese Basiswerte findet man, ganz ähnlich oder nur leicht variiert, auch beim Designer Aicher. Nimmt man beispielsweise die von ihm gestalteten Leuchten der Firma Erco (Motto damals: „Licht statt Lampen“) oder aber die Türgriffe, die er für die Firma FSB entwarf, der erkennt sofort die eng verwandten Grundprinzipien der Gestaltung. Aber Aichers Werk – und das ist eben auch, im ganz unmittelbaren Sinne: sein Leben – hat erkennbar noch viele andere Facetten, besser: jeweils vollständige Bereiche, welche ihn tatsächlich zum weltweit einzigartigen Ausnahme-Designer machen (in einem weiten Verständnis des Begriffes). Eben so, wie es Sir Norman Forster in seiner ungemein warmherzigen Erinnerung an seinen Freund beschrieben hat.

Und genau dies entspricht auch der Zielsetzung, welche die Herausgeber Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl  mit einem schlichten Wort kennzeichnen: die Entwicklung und alle Aspekte der Arbeit und der Tätigkeiten Aichers zu „rekonstruieren“. Eben als Designer, aber eben auch als Lehrer, als Architekt, als Fotograf und als Typograf. Dass Nerdinger eine Professor für Architekturgeschichte innehatte und in vielfältigen Funktionen sich dem Design gewidmet hat, dass Vossenkuhl wiederum sich als Professor für Philosophie einen Namen gemacht hat, erweist sich hier als ideale Verbindung: weil so die Tiefendimension der allseits gebildeten Persönlichkeit Otl Aichers vielfältig und tiefgründig ausgeleuchtet werden kann.

Ein großer Vorzug des 250seitigen Bandes ist übrigens, dass die Herausgeber auf eine verständliche Sprache ihrer Autoren geachtet haben. Spezialisten in dieser Hinsicht zu disziplinieren, ist ja keine leichte Aufgabe. Dass wiederum gründliche Kenner gewonnen werden konnte, ist an den vielen Fußnoten zu erkennen. Aber dieser so genannte Apparat drängt sich nicht auf, ist gut eingebunden. Wer will, kann diese Anmerkungen lesen; wer darauf verzichtet, dem entgeht nichts Wesentliches.

Gestaltet ist das Buch so, dass hier die Handschrift Aichers selbst gut zu erkennen ist. Er hätte es, das zeigen die Beispiele seiner eigenen Bücher, nicht anders gemacht. Und die Vorzüge der klaren Anordnung von Bildern und Texten zeigen sich sofort. Nur das sehr helle Grün der Vorsatzblätter, das lässt stutzen: Gibt es das in dieser Form in den von ihm genutzten Farbpaletten?

Doch das tut der Begeisterung für diesen reich bebilderten, also auch sehr anschaulichen Band keinen Abbruch. Schon die Titelgestaltung mit dem großformatigen, zweifarbigen Piktogramm für die olympischen Schwimmwettbewerbe zieht unmittelbar an und fordert auf, die Aicher-Welt dahinter zu entdecken. Wie gesagt: ein Buch für die Insel. Schon allein, um sie und die umliegende Welt besser zu verstehen.

Winfried Nerdinger (Hrsg.),
Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.)

Otl Aicher, Designer. Typograf. Denker.

Prachtband mit 250 Abbildungen
Buch (Gebundene Ausgabe), Prestel
49,00 EUR

 

 

 

 

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