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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach in der Wiesbadener Lutherkirche

Dramatik und Kontemplation

Mein Reich ist nicht von dieser Welt

Von Petra Kammann

Angesichts der Weltlage war in diesem Jahr die Karwoche mit der Besinnung auf Leid und Trauer alles andere als ein abstraktes Gedenken, da nach wie vor die Menschen in den umkämpften Regionen der Ukraine Gewalt und Gefahr ausgesetzt sind, während die Zahl der Geflüchteten, die weiter um ihre Liebsten trauern und bangen müssen, täglich zunimmt. Ein solch dramatisches Geschehen spiegelt sich auch in der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach wieder, die 1724 während der Karfreitags-Vesper in der Leipziger Nikolaikirche erstmalig aufgeführt wurde. Bachs Meisterwerk war am vergangenen Karfreitag in einer der großen evangelischen Innenstadtkirchen mit kirchenmusikalischem Schwerpunkt zu erleben. Der Bericht von der Gefangennahme und Kreuzigung Jesu Christi aus dem Johannesevangelium wird in diesem musikalischen Werk kunstvoll durch Choräle und Arien ergänzt und miteinander verwoben. Unter der Leitung von Niklas Sikner, dem Kantor der Wiesbadener Lutherkirche, überzeugten das Bachorchester, der Bachchor sowie herausragende Solisten.

Zu Beginn des Konzerts in der Lutherkirche trugen die Sänger:innen des Bachchors noch Maske; Foto: Petra Kammann

Insbesondere nach der langen Zeit der Pandemie und der jüngsten Konfrontation mit Leid und Krieg war das Bedürfnis der Menschen groß, Bachs Passion in einem festlichen Kirchenraum zu erleben. Da bot sich die Wiesbadener Lutherkirche mit ihrem besonderen Klangraum förmlich an. In dem 18 m weiten und 17 Meter hohen Raum spannt sich zwischen vier Pfeilern ein Kreuzrippengewölbe, das ein besonderes Klangerlebnis ermöglicht. Die Lutherkirche, eine der großen evangelischen Innenstadtkirchen, ein Juwel des Jugendstilarchitektur von Friedrich Pützer – mit ihren zwei berühmten, auf der vorderen und hinteren Empore gegenüberliegenden Orgeln, der Walcker- und der Klais-Orgel –, wurde  zu einem Ort mit einem herausragendem kirchenmusikalischem Schwerpunkt, nicht zuletzt auch wegen dieser ungewöhnlichen Architektur.

v.l.n.r.: die drei Solisten: die dänische Altistin Yara Hemmet, die Frankfurter Sopranistin Heike Hellmann und der Tenor Julian Haberland als Evangelist 

Schon das Betreten des Kirchenraums versetzt einen in eine andere Stimmung, wo eine schmale Empore über dem Eingang den Blick auf die große festliche Halle mit dem Kreuzrippengewölbe unmittelbar auf das Geschehen auf der Chorempore und auf den Altarraum mit der dahinterliegenden Orgel lenkt. Durch die harmonisch farbliche Gestaltung mit den pflanzlichen Jugendstilornamenten an den Wänden – stilisierte Weinranken wölben sich über dem Raum auf einem weiß strukturierten Ocker-Grundton, was in der Mehrschichtigkeit wohl als Andeutung von Transzendenz gedacht ist – fühlt man sich gleich aufgenommen und ins Geschehen einbezogen. Der Chor, die Sänger und die Instrumentalisten ziehen zum Konzert wie in einer Prozession entlang der Kirchenbänke ein.

Und mit dem Chor „Herr, unser Herrscher“ geht es dann mitten ins Geschehen der Passion. Die dreimaligen „Herr“-Rufe klingen anfangs zwar noch etwas verzagt und suchend, doch steigert sich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Singenden bis hin zum Höhepunkt der dramatischen Passionsgeschichte, die von Verrat, Verleugnung, Verurteilung gekennzeichnet ist. Das Rufen und Schreien der Menge, der Rächer und Knechte, Hohenpriester und Soldaten, die den Tod Jesus einfordern, wird im Verlauf der Erzählung immer dringlicher und ausdrucksstärker. Hochdramatisch klingen im Chorsatz „Kreuzige, kreuzige!“ die kurzen Wiederholungen wie Hammerschläge, bis dann nach der Kreuzigung eine Wende und schließlich die „Ruhe der Gebeine“ eintritt. Die musikalisch-dramatische Entwicklung wird bestens durch das hervorragende Orchester unterstützt und verstärkt.

Die Altistin Yara Kanzler Hemmet in der Arie „Es ist vollbracht!“ Warm und rund ; Foto: Petra Kammann 

Während die epische Berichterstattung des Evangelisten als Rezitativgesang, gesungen vom Tenor Julian Haberland, zunächst als stabilisierendes Element wirkte, entfalteten die dramatischen Wechselreden zwischen Jesus, den Solisten und dem Chor, der die Volksmenge repräsentiert, im Verlaufe der Aufführung eine hohe Spannung, Eigendynamik und Lebendigkeit, so dass das Leidensgeschehen Jesu Christi beim Publikum ganz präsent war.

Weich, emphatisch und und modulationsfähig klingen die Arien des Baritons Julian Orlishausen; Foto: Petra Kammann

Die Erde bebte förmlich, als in Julian Orlishausens Arioso der Vorhang zerreißt und der Bariton seine Stimme beim „Erkalten des Schöpfers“ zurücknimmt, so dass die Stimme fast tonlos wirkt. Und geradezu schwebend und herzzerreißend sang daraufhin die Frankfurter Sopranistin Heike Heilmann die erlösende Arie „Zerfließe, mein Herze,/in Fluten und Zähren/ Dem Höchsten zu Ehren!“

Man spürt die Vertrautheit mit dem Sujet. Der Bariton Orlishausen hatte die Johannes-Passion schon einmal mit dem Windsbacher Knabenchor im Herkulessaal in München gesungen und ist mit seinem Potenzial und seinen derzeitigen Engagements wohl gerade auf dem Weg zu einer internationalen Karriere. Die Nachwuchssängerin Heilmann wiederum sang bereits als Gast an der Oper Frankfurt, u.a. auch am Teatro Real in Madrid und wirkte als Solistin auf der CD „Bach, Lotti, Zelenka“ von Thomas Hengelbrock mit.

Sehr präsent auch die Stimme des griechisch-amerikanischen Bassbaritons Stephanos Tsirakoglou, Foto: Petra Kammann

Sehr kontemplativ, trostspendend in schwieriger Zeit und voller Würde stimmte der Chor zum Abschluss in „Ruht wohl, Ihr seligen Gebeine… Macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu“ ein, um die Passion nicht nur zum Ende zu bringen, sondern mit dem letzten Choral mit „Herr Jesu Christ, erhöre mich, Ich will Dich preisen ewiglich!“ hoffnungsfrohe Perspektiven zu eröffnen, wenn wir doch nur den wahren Schöpfer erkennen. Nach einer längeren Stille folgte dann der große Applaus auch entsprechend ausgiebig.

Begeistertes Publikum in der Wiesbadener Lutherkirche; Foto: Petra Kammann

Eine reife Leistung auch von Niklas Sikner, der seit Januar 2020 als Kantor an der Lutherkirche Wiesbaden tätig ist und zweifellos speziell komplizierte Corona-Zeiten hinter sich hat, welche vor allem Sängern das Leben schwer gemacht haben. Hier leitet er den Bachchor Wiesbaden mit rund 80 Sänger:innen sowie den Kammerchor Wiesbaden mit 30 Sänger:innen. Außerdem ist er Leiter der Evangelischen Singakademie Wiesbaden mit sechs Mitarbeiter:innen, die aus der Kinder- und Jugendchorarbeit des Bachchors hervorgingen und in deren 16 Gruppen gegenwärtig wöchentlich rund 250 Kinder und Jugendliche singen. Man kann ihm nur wünschen, dass es keine erneuten Corona-Einbrüche gibt. Für den Herbst, am 19. November, ist nämlich eine Aufführung des „Paulus“ von Felix Mendelssohn Bartholdy vorgesehen. Durchaus ein Anreiz wiederzukommen.

Niklas Sikner, Dirigent, Organist und Kantor der Lutherkirche, Foto: Petra Kammann

Weitere Infos über:

www.lutherkirche-wiesbaden.de

 

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