Kunst auf Papier: „Into The New. Menschsein“: Von Pollock bis Bourgeois im Frankfurter Städel
Das Menschsein als Fragment
von Petra Kammann
Als Reaktion auf die vielfältigen Krisen, Kriege und Umbrüche des 20. Jahrhunderts stellten Künstlerinnen und Künstler in ihren Werken immer wieder die Frage nach dem Allgemeinmenschlichen. Dem ging seit den späten 1940er-Jahren die US-amerikanische Kunst nach, vor allem in der Druckgrafik, die dafür ein großes experimentelles Potenzial bot. Nach dem Aderlass durch den Verlust wichtiger zeitgenössischer Werke in der Nazi-Zeit begann das Städel Museum zeitgenössische US-amerikanische Kunst auf Papier zu sammeln. Dieser Kunst auf Papier von 1945 bis heute ist eine Ausstellung gewidmet, in der rund 50 herausragende Blätter zu sehen sind, die das Thema des Menschseins auf neuartige Weise darstellen: in Druckgrafiken, Zeichnungen und Multiples von Louise Bourgeois, Chuck Close, Jim Dine, Jasper Johns, Bruce Nauman, Jackson Pollock, Larry Rivers, Kiki Smith und Kara Walker.
Kuratorin und Sammlungsleiterin Regina Freyberger vor Kiki Smith, Untitled (Hair); Foto: Petra Kammann
„Drucke ahmen unser Menschsein nach: Wir sind alle gleich, und doch ist jeder anders“, sagt die deutsch-amerikanische Künstlerin Kiki Smith, deren Lithographie in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung hervorsticht. Entstanden ist eine ihrer Arbeiten, die hier gezeigt wird, in zehn Druckvorgängen auf handgeschöpftem Japanpapier: Von Schwarz über Schwarzbraun, bietet sich auf einem Blatt ihr schwarzer Lockenkopf vielschichtig dar und verdeckt Spuren ihres Gesichts – eine Art Palimszest – aus kleinsten Teilchen ihres Körpers überschrieben. Über den Gipsabdruck ihres Kopfes entstand zunächst ein Hartgummimodell ihres eigenen Kopfes, dem sie Fotokopien ihres eigenen Haares hinzugefügt und auf die Platte gebannt hatte. „Der Mensch wird abgeformt und abgedruckt“ kommentiert die Ausstellungskuratorin und Sammlungsleiterin Regine Freyberger das experimentelle Vorgehen auch von George Segal, Jasper Johns oder wie eben das von Kiki Smith – etwa in ihrer gerade beschriebenen Lithografie „Untitled (Hair)“ aus dem Jahr 1990.
Sie wirkt geradezu exemplarisch in dieser Ausstellung, in der die unterschiedlichsten drucktechnischen entwicklungsgeschichtlichen Ansätze zum Tragen kommen, vom abstrakten Expressionismus, über die Pop Art, Konzeptkunst, Minimal Art bis hin zur Performance Art. Die teils gegensätzlichen ästhetischen Konzepte hatten sich von Paris, dem damaligen Zentrum zeitgenössischer Kunst, wegbewegt. Sie entwickelten sich nach 1945 in kurzen Abständen zunächst an der Ostküste in New York und später dann an der kalifornischen Westküste. Als Labor formaler wie inhaltlicher Experimente erschloss die Druckgrafik Künstlerinnen und Künstlern somit neue experimentelle Wege. In den Vereinigten Staaten wurden ab den 1960er-Jahren neue Druck- und Papierwerkstätten gegründet, die auch für großformatige Arbeiten geeignet waren. Das führte zu einem „Graphic Boom“.
Viele zeitgenössische Künstler stellen sich, bedingt durch politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Krisen und Kriege die Frage, was den Menschen ausmache, der sich von sich selbst entfremdet hatte. Sie reflektierten frei nach Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ in ihren Arbeiten eher das Fragmentarische. Das Abstrakte und Ausschnitthafte war an die Stelle der Darstellung eines ganzheitlichen Menschen getreten und ließ die Welt mit anderen Augen erscheinen.
Ausstellungsansicht „Into the New. Menschsein: Von Pollock bis Bourgeois“ Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz
Auch mit der Sprache, die sie auf ihren Sinn hin überprüften, experimentierten sie wie etwa Bruce Nauman mit seinen verwirrend-mehrdeutigen Arbeiten wie in den zweifarbigen Siebdrucken Making Faces („Gesichter machen“). Für ihn ist der eigene Körper Experimentiermasse wie in den Siebdrucken „Studies for Holograms“ (1970), für die er zuvor sein eigenes Gesicht mit den Fingern in einer Hologrammsequenz in ganz unterschiedliche Formen gezogen hatte. Sein Gesicht dient ihm dabei lediglich als bildhauerisches Material.
In seiner wortspielerischen Kaltnadelradierung-Serie „Violins/Violence“ mit den phonetisch ähnlichen, aber unterschiedlich geschriebenen Worten kommt seine Desillusionierung zum Ausdruck. Die Geigentöne verheißen keine Harmonie mehr, ganz im Gegenteil. Hinter den drei abgebildeten hinskizzierten Violinen wird die Gewalt angedeutet, eine Erfahrung, welche die Künstler nach den Kriegen und dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen beschäftigte, die sie reflektierten und somit zu unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen gelangten.
Ausstellungsansicht „Into the New. Menschsein: Von Pollock bis Bourgeois“ Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz
Die Pensées Plumes“ („Gedankenfedern“) von Louise Bourgeois etwa wirken wie Erinnerungsstränge für die Suche nach der eigenen Identität der französisch-amerikanischen Künstlerin. In ihrer Kaltnadelradierung „Sainte Sébastienne“ (1992) überschreibt und umkreist sie die weibliche auseinanderzufallen drohende üppige Körperform ohne Kopf und greift dabei auf das historische Bildmotiv des Schutzpatrons St. Sebastian zurück, dessen Brust von Pfeilen durchbohrt wurden. Sie feminisiert das Motiv sowohl sprachlich als auch zeichnerisch.
Kara Walker (*1969), Keine Welt. Aus der Folge „Ein unbevölkertes Land in unbekannten Gewässern“ 2010 Aquatinta, Zuckeraussprengverfahren, Spitbite und Kaltnadel auf Velinpapier Städel Museum, Frankfurt am Main; Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V., © Kara Walker
Strukturelle Gewalt oder ungleiche Machtverhältnisse, bedingt durch die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, führten dazu, dass wegen des Rassismus und Sexismus nicht alle Stimmen gehört wurden. Kara Walker, deren eindrucksvolles Werk kürzlich in der Schirn zu entdecken war, arbeitet an der Aufarbeitung solcher Leiderfahrungen und des eigenen kollektiven Gedächtnisses u.a. mit Scherenschnitten und druckgrafischen Folgen wie „An Unpeopled Land in Uncharted Waters“ (2010).
Kurt Schwarzeller, der 1937 noch als Leiter der Graphischen Sammlung des Städel durch den legendären Städeldirektor Swarzenski berufen worden war, hatte diese Entwicklungen und ästhetischen Strömungen der US-amerikanischen Kunst damals schon aufmerksam verfolgt. Er war auch nach dem Krieg dann bemüht, die durch die nationalsozialistische Kulturpolitik vernichtete Sammlung der Moderne wieder aufzubauen und hatte in den 1960er Jahren neben Arbeiten auf Papier des europäischen Informel zunächst auch Druckgrafiken von Mark Tobey und Sam Francis für das Frankfurter Museum erworben.
Gezielt kaufte er für die Graphische Sammlung bis zu seinem unerwarteten Tod 1973 Papierarbeiten bedeutender Künstler an wie die von Leonard Baskin, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Roy Lichtenstein, so dass das Städel Museum in seiner bedeutenden Graphischen Sammlung heute auf einen wunderbaren Stock der Nachkriegsmoderne zurückgreifen kann, zumal dieser Bestand bis heute vor allem dank des Engagements durch die Heinz und Gisela Friederichs Stiftung konsequent vertieft und um weitere Aspekte bereichert werden konnte. Deren 30-jähriges Jubiläum konnte im vergangenen Jahr wegen der Pandemie mit einer geplanten Ausstellung leider nicht entsprechend gewürdigt werden. Stattdessen wurde nun mit der exzellenten Schau der kürzlich verstorbenen Stiftungsgründerin Gisela Friederichs gedacht.
Into the New Menschsein:
Von Pollock bis Bourgeois.
Noch bis 17. Juli
Städel Museum Frankfurt
Zur Ausstellung erscheint im Sandstein Verlag ein Katalog – gefördert durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.