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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Ai Weiwei: „1000 Jahre Freud und Leid“

Ergreifende Lebensgeschichte des Kunst-Stars und großen Provokateurs

Von Hans-Bernd Heier

Im April 2011 wird Ai Weiwei wegen Bedrohung der nationalen Sicherheit auf Beijings Flughafen verhaftet und 81 Tage ohne Rechtsbeistand verhört. Anschließend wird er für vier Jahre unter Hausarrest gestellt. Sein Vater Ai Qing, einer der berühmtesten chinesischen Dichter, hat ein ähnliches Schicksal und zermürbende Willkür des chinesischen Regimes erleben müssen. Er wurde zu einem tief gedemütigten Opfer der von Mao initiierten Kampagne gegen Rechtsabweichler und in Verbannung geschickt. Während Ai Weiweis unfreiwilliger Isolation kam ihm die Idee für dieses Buch, sein Lab und das und seines Vaters zu erzählen und die Erinnerungen für seinen Sohn Ai Lao, der gerade zwei Jahre geworden war, festzuhalten. In „1000 Jahre Freud und Leid – Erinnerungen“ schildert Ai Weiwei fesselnd und sachlich die berührende Familiengeschichte in dem autoritären China sowie seinen außerordentlichen künstlerischen Werdegang.

Ai Weiwei in Frankfurt 2019, Foto: Petra Kammann

Der 1910 geborene Ai Qing war in der frühen Volksrepublik ein angesehener Schriftsteller und landesweit bekannt. Er galt als einflussreichster Dichter und Vertrauter Maos. Im Zuge der Kulturrevolution wurde er allerdings wegen „bourgeoiser Literatur“ als „Rechtsabweichler“ gebrandmarkt und fiel in Ungnade. Die Menschen, die ihm vor kurzem noch zugejubelt hatten, beschimpften ihn nun heftig. Er wurde verbannt und gezwungen, sich der „Besserung durch Arbeit“ zu unterziehen. Als er im Mai 1967 nach zehn Jahren Verbannung in eine noch weiter abgelegene Region am Rande der Wüste von Xinjiang („Klein-Sibirien“ genannt) verschickt wurde, zerbrach die Ehe des Vaters. Seine Frau kehrte mit dem jüngeren Bruder nach Peking zurück, während Weiwei mit dem Vater in die unwirtliche Region zog, wo sie in einer Art Erdloch lebten. Diese fundamentalen Erfahrungen haben maßgeblich Ai Weiweis Schaffen und seine politischen Überzeugungen geprägt.

Ai Weiwei, 1957 in Peking geboren, zählt zu den bekanntesten und vielseitigsten Künstlern der Gegenwart: Er ist Konzeptkünstler, Bildhauer und Kurator, auch als Filmemacher und Architekt erzielte er weltweite Erfolge. Er stand ganz am Anfang seiner Karriere, als er sich im Jahre 1981 um ein Kunststipendium in den USA bewarb. Um die besorgte Mutter zu beruhigen, versprach der selbstbewusste Weiwei, dass er in zehn Jahren ein zweiter Picasso werden würde. Doch daraus wurde nichts, weil er wegen seiner „extremen Sturheit“, wie er schreibt, die Dinge einfach laufen ließ und wiederholt die Kunstschulen verlassen musste. Auch das Stipendium verlor er. Da er bei Solo- und Gruppen-Ausstellungen in New York kein einziges Bild verkaufte, musste er sich mit Straßenmalerei über Wasser halten. Als er 1993 – nach zwölf Jahren – nach Beijing zurückkehrte, reiste er „mit leeren Händen, ohne Trophäen“ heim.

Zurück in China, tauchte er zunächst in die „Welt der Antiquitäten“ ein und hatte das Gefühl, “einen neuen Kontinent entdeckt zu haben“. Er schuf Werke, die sich mit älteren chinesischen Kunstgegenständen und mit der Kulturrevolution auseinandersetzten. Dabei flossen Bezüge zur Pop-Art und zur Konzeptkunst in seine Arbeiten ein. Inspiriert von Marcel Duchamps „Readymades“ malte er auf Tongefäße aus der Han-Dynastie, denen seines Erachtens nach das gewisse Etwas fehlte, Coco-Cola-Signets und verlieh diesen so mehr Pep.

Seinen internationalen Durchbruch erlebte Ai Weiwei 2007 mit der Teilnahme an der documenta 12 in Kassel. „Template“, so der Name des grandiosen acht Meter hohen Holzturms. Es war das wohl spektakulärste Kunstwerk der renommiertesten Kunst-Schau der Welt. Die Installation vor der Orangerie bestand aus mehr als tausend Holztüren und  -fenstern aus alten Häusern, die dem chinesischen Bauboom zum Opfer gefallen waren. Leider kippte der Holzturm zwei Tage nach Eröffnung der documenta während eines plötzlichen Gewitters um. Die Nachricht war für den Künstler ein gewaltiger Schock. Doch als er die eingestürzten Trümmer begutachtete, bestaunte er das neue Erscheinungsbild der riesigen Installation. Dieses hatte sich im Kreis gedreht, war aber nicht völlig platt. „Das Bauwerk hatte sich stur den Kräften widersetzt, die es hatten zerstören wollen, und jetzt strahlte es noch mehr Energie aus als zuvor, als es noch aufrecht stand. Seine Kraft entsprang den Trümmern. Die Kunst endet nie – Kunst ist immer nur der Anfang“, so sein Resümee aus dieser Lage.

Wie sich das Leben in der Gefängniszelle anfühlt, lässt sich anhand der großen Installation von Ai Weiwei im Düsseldorfer K 21 nacherleben. Aus dem Gedächtnis hat Ai Weiwei die Verhör-Situation während seiner Einzelhaft in einem chinesischen Gefängnis in der Arbeit S.A.C.R.E.D. , die zwischen 2011 und 2013 entstand, nachgebaut; Foto: Petra Kammann

Riesige Aufmerksamkeit erregte Ai Weiwei auch mit der Aktion „Fairytale“. Für dieses Mammut-Projekt ließ er 1001 Landsleute als normale Besucher zur documenta einfliegen. Als gelebte Globalisierung sollten die Asiaten Aufsehen erregen – und taten dies auch. Der gewaltige organisatorische Aufwand trieb ihn, wie Ai schreibt, „geradezu in den Wahnsinn, und ich vergaß beinahe, dass ich an einer Kunstausstellung arbeitete“. Zusätzlich zu den Menschen reisten quasi als Gegenstück zu den Menschen noch 1001 antike Stühle aus der Qing-Dynastie ein. Auf die Frage, was er mit dem Projekt zeigen wollte, antwortete er: „Das sei nicht der Sinn und Zweck“. Sein Ziel bestehe darin, nichts zu zeigen.

In späteren Jahren wandte sich der vielseitige Künstler und Regimekritiker verstärkt den Sozialen Medien zu. Da er hier „die Brüche und Verwerfungen in der Gesellschaft“ schonungslos und mutig kritisierte, wurde er von der Polizei eher als „Aktivist“ denn als Künstler eingestuft. Dafür reichte schon, seiner Besorgnis über die Zukunft der Nation Ausdruck zu verleihen, und es drohte möglicherweise Gefängnis. Dass er in seinen Blogs häufig regime-kritische und staatlich unerwünschte, besonders ökologische und soziale Themen aufgriff, wurde Ai Weiwei später auch bei seinem Verhör-Marathon in 2011 vorgehalten. Dieses protokolliert er sehr ausführlich und sachlich, wodurch die Vernehmungen sich umso bedrückender lesen.

Der unerschrockene Ai ließ sich von dem zermürbenden Polizei-Gewahrsam und der allgegenwärtigen Bedrohung durch staatliche Übergriffe allerdings nicht einschüchtern und war „jetzt mehr als bereit, seine Rolle als Provokateur wieder aufzunehmen“. Denn als „geborener Nonkonformist“ könne er nicht anders leben, als eine oppositionelle Haltung einzunehmen. Trotzdem erhielt er nach vier Jahren Hausarrest unerwartet seinen Pass zurück und konnte nach Deutschland ausreisen. Seine Partnerin Wang Fen und sein vierjähriger Sohn Ai Lao waren bereits 2014 nach Berlin geflogen, denn in der Bundeshauptstadt, die der Künstler als sicheren Ort ansah, hatte er schon drei Jahre zuvor ein Atelier erworben, in dem sie jetzt gemeinsam leben konnten.

Medienrummel bei der Ausstellungseröffnung „Everything is art. Everything is politics.“ in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, v.l.n.r.: Selfie mit Ai Weiwei mit Prof. Susanne Gaensheimer, Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes NRWOB Thomas Geisel  

Künstlerisch wurden die Themen Migration und  die schreckliche Flüchtlingskatastrophe, die Europa vor eine große Zerreißprobe stellte, zu zentralen Schwerpunkten des Dissidenten. Der Menschenrechtsaktivist drehte nicht nur einen Dokumentarfilm über die Krise, sondern besuchte u.a. Flüchtlingscamps in der Osttürkei, die riesigen syrischen Lager in Jordanien und dem Niemandsland an der nördlichen Grenze. In Berlin hüllte er 2016 die klassizistischen Säulen des Konzerthauses mit mehreren tausend Schwimmwesten ein und für eine Ausstellung in der Prager Nationalgalerie entwarf er ein siebzig Meter langes Schlauchboot mit Platz für 260 Personen.

Obgleich der Starkünstler vier Jahre in Berlin lebte und auch eine Gastprofessur an der Akademie der Künste hatte, erfährt der Leser nichts Weiteres über seinen Aufenthalt und die Lebensumstände in der Hauptstadt. Angesichts der harschen Kritik, die Ai Weiwei an Berlin – „hässlichste, langweilige Stadt“ – sowie an Deutschland –„33. Provinz Chinas“ – in Zeitungsinterviews übte, wäre es sicher aufschlussreich, dazu Näheres von ihm zu erfahren. 2019 zog er mit seiner Familie nach Cambridge in England und 2021 nach Portugal.

Dies ändert nichts daran: Die von Ai Weiwei reich illustrierten Erinnerungen „1000 Jahre Freud und Leid“ geben einen fesselnden, berührenden Einblick in sein Leben und Werk. Daniel Kehlmanns Fazit in „radioeins“ lautet:  „Es ist absolut erschütternd, aufregend und faszinierend, das zu lesen“.

 

 

 

 

 

Ai Weiwei: „1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen“;
aus dem Englischen übertragen von Norbert Juraschitz und Elke Link;
Penguin Verlag,  416 Seiten mit vielen Abbildungen;
Preis: 38 Euro; ISBN 978-3-328-60231-6

Zeitgleich zu Ai Weiweis Erinnerungen ist eine deutsche Ausgabe von Gedichten seines Vaters Ai Qing im Penguin Verlag erschienen: „Schnee fällt auf Chinas Erde“; ISBN 978-3-328-60242-2

→ Remember – 30 Jahre himmlischer Frieden? Alles ist Kunst- Alles ist Politik?

 

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