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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Heinrich Breloer, Meister der ,Offenen Form‘, feiert seinen Achtzigsten

Der erfolgreiche Fernsehmacher ist ein Herr der Fragmente

Von Uwe Kammann

Das wird keiner, der dabei war, jemals vergessen: Armin Müller-Stahl greift 2002 auf der Marler Fernseh-Bühne des Grimme-Preises zur Geige, ein bezaubernder Moment zur Feier einer grandiosen Fernseharbeit. Der Schauspieler hatte darin den großen Romancier Thomas Mann verkörpert. „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“, so der programmatische Titel des Dreiteilers, der das Publikum und die Profikritiker bei der Ausstrahlung im Ersten Programm gleichermaßen begeisterte. Marcel Reich-Ranicki, sonst eher kein Fernsehfan, lobte die über 300 Filmminuten in überschwenglicher Manier gar als „nationales Ereignis“. Und noch heute ist die DVD-Aufnahme ein Glanzpunkt in den Vertriebskatalogen.

Regisseur Heinrich Breloer 2001, Foto: Petra Kammann

Bewegende Momente 1997 – Armin Müller-Stahl, Hollywood-Star und einstiger DDR-Bürger kehrt nach Leipzig zurück; Foto: Petra Kammann 

Dieser Erfolg ist allerdings kein Wunder. Denn bei der Einkreisung der Lebenslinien (und der Lebensdramatik) der Familie Mann zog der Autor und Filmemacher Heinrich Breloer buchstäblich alle Register seiner so unglaublich vielfältigen (und dabei so genau in ihrem Kern kenntlichen) Methode. Nämlich: in einer auf genauester Recherche basierenden offenen Form aus Interviews, Dokumentarmaterial und Spielszenen eine Mischung zu erzeugen, die zu Annäherungen an Wahrheiten einlädt – in einem oft suggestiven Gestus, der diese Einladung unwiderstehlich macht. Die gebräuchliche Formel dafür: Doku-Drama.

↑↓ Die ARD hatte zum Auftakt des Films eine Art Making-off-Broschüre herausgegeben, Foto: Petra Kammann

Jetzt, zum 80. Geburtstag: Glückwünsche allüberall, inklusive einer Werkschau im WDR-Fernsehen, für diesen Heinrich Breloer, dessen Eltern – selbst eine ehrwürdige Kaufmannsfamilie, Buddenbrooksche Kernzüge schimmern durch – in Marl ein Landhotel mit ganz besonderem Charme betrieben, die Loemühle. Anschauungsort für den kleinen Heinrich, der dort Fernsehgrößen wie Georg Stefan Troller mit Windhunden und Gespielinnen bewunderte, wenn sie zum Grimme-Preis kamen. Das wären doch keine schlechte Zukunftsperspektiven …

Nein, wären sie nicht, wurden sie nicht. Denn die Vision erfüllte sich, wieder und wieder, mit Preisen zuhauf, darunter, für „Die Manns“, auch der „Emmy“, die TV-Schwester des amerikanischen Film-Oscars. Fernsehen. Mit acht Grimme-Auszeichnungen gehört Breloer neben Dominik Graf (neun Preise) zur Königsspitze in Marl, eine jedes Mal fulminante Orts- und Qualitätsverbindung, eine innige Beziehung, geschürzt über einen Knoten, der beim Herstellen eine ganze Reihe von Richtungen einschlägt. Mit allen Unter-Knoten: exzellente Fernsehqualität, Aufklärung durch journalistische Investigativ-Intelligenz und brillante Anschauung, politisch-gesellschaftliche Sondierungen über angenommene Grundströmungen.

Und derjenige, der das alles in Gang und in Szene setzte – oft in kongenialer Kooperation mit seinem Freund, dem NDR-Redakteur Horst Königstein –, der soll wirklich Mitte Februar (ganz genau: am 17.) seinen 80. Geburtstag feiern? Wir müssen es wohl glauben. Vor zehn Jahren, zum Siebzigsten, da gab es übrigens eine große Präsenz-Feier in der Kinemathek, dem Film- und Fernsehmuseum am Potsdamer Platz in Berlin. Der Anlass damals: Breloer hatte dem Medien-Tempel 130 Kisten seines Arbeitsarchivs überlassen, aus denen per Online-Filter mehr als 1000 Einzelobjekte gefiltert und aufbereitet wurden, an denen sich bestens Breloers Methodik studieren lässt, mit Drehbüchern, Storyboards, Standfotos, Aufzeichnungen undundund – die Puzzlewelt beginnt sich dank dieses Digitalfundus auf beste Weise zu erschließen.

Und nochmals: 80. Geburtstag, wirklich? Wer den Jungen aus dem Ruhrgebiet – der, beste Dialektik, über eine enge katholische Internatserziehung im sauerländischen Lüdenscheid entscheidende Schübe für intellektuellen Befreiungsdrang bekam – heute anruft, dem präsentiert sich ein absolut Junggebliebener, urlebendig und beflügelt und neugierig und tatenlustig wie eh und je.

Heinrich Breloer in der Marler Loemühle, seinem einstigen Elternhaus; Foto: Petra Kammann

Zuletzt, 2019, hatte er seinen „Brecht“-Film fertiggestellt, nach vielen, vielen Jahren der mühseligen Auseinandersetzung vornehmlich mit der Erbenszene. Brecht, der selbst immer ein stets bewegter, stetig treibender Motor war – und dem Breloer methodisch einiges verdankt – wurde also eingekreist, ausgeleuchtet, gedeutet, dargestellt in einer Mischform aus dokumentarischen Filmausschnitten und inszenierten Spielpassagen, die gewöhnlich als Genre in einer Formel zusammengefasst werden: Doku-Drama.

Breloer hat diese Methode in den 70er Jahren geradezu erfunden und dann immer weiter perfektioniert. Den Begriff Doku-Drama aber mag er gar nicht mehr. In den inzwischen allgegenwärtigen Dokumentationen mit eingebauten Spielszenen sei das Ganze verlottert, den Zuschauern werde nur noch etwas vorgegaukelt. Er spricht lieber von der „Offenen Form“.

Sein zweiter Brecht-Film war übrigens auch eine Art Rückgriff. Denn den jungen Shooting-Star der damaligen Literatur-In-Szene, der mit seinem favorisierten Theatermittel der Verfremdung auch dem Filmemacher ein Spitzeninstrument der verstandesklaren Aufklärung an die Hand gab (besser: in den hellwachen Kopf), den hat Heinrich Breloer schon in eigenen jungen Jahren eingekreist, über die Perspektive der damaligen Freundinnen, „Bi und Bidi in Augsburg“ (1978).

Das Buch-Cover zum Brecht-Film (Verlag Kiepenheuer & Witsch)

Was mit belegt: Nein, nichts geht hier verloren; kein Gedanke, kein Schnipsel, keine Erstüberlegung, kein Nachsinnen, kein Foto, keine Aufzeichung und kein Dokument. Heinrich Breloer ist ein Sammler, ein Leben-Botanisierer, ein Ordner, vor allem aber auch ein Biographien-Konstrukteur und -Strukturalist. Er ist ein begnadeter Finder jener Linien und Fäden, die eine Person, eine Konstellation, eine Situation, einen Umkreis, die Kraftfelder einer Epoche zusammenhalten – und verstehbar machen. Und da, wo die äußeren Belege, die Abzeichen, die Zeugnisse vielfältiger Art fehlen, hilft er mit Anschauung nach – eben über das fiktive Spiel der vorgestellten Wahrheiten, die nun auf der Folie aller Recherchen inszeniert werden.

Das alles aber, was in den vielschichtig gebauten Gehäusen mit der Systematik der Breloerschen Hebammen-Suggestion gesammelt und danach als Extrakt zur Schau gestellt wird, lässt in keinem Moment den Verdacht aufkeimen, wir hätten es hier mit einem zulangenden Monster zu tun, das auf Teufel komm raus ein vorgedachtes Ergebnis als Beute heimbringen und dann ausstellen will; oder mit einer besonders distanzierten, kalten, seelenlosen Spezies aus dem Genre der Sezierkunst oder aus der Kaste der Klassifikateure.

Nein, es ist eine aneignende, ein auch das Mittel der distanzierten Empathie einbeziehende analytisch-erzählende Operation, mit der hier Personen und Gegenstände vergegenwärtigt und unserer eigenen jeweils individuellen Reflexion übereignet werden. Um Ereignisse, Personen, Gegenstände, Verlaufslinien geht es dabei, die letztlich alle zu den harten und weichen Politik-, Gesellschafts- und Kultur-Kernen der Bundesrepublik gehören – auch in jenen Teilen, die einer anderen Zeit angehören, aber hinführenden, prägenden, deutenden Charakter haben, die signifikant für deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts stehen, gerade auch in changierenden, zwiespältigen, vieldeutigen und nicht eindimensional auszudeutenden Grundzügen.

Das zeigt sich sofort, wenn man die Schlüsselfiguren nimmt, die Breloer gewählt hat. Ob Herbert Wehner  („Wehner – Die unerzählte Geschichte“, 1993), Björn Engholm („Einmal Macht und zurück“, 1994), Uwe Barschel („Die Staatskanzlei“, 1989), Hans Martin Schleyer („Todesspiel“, 1997), Bernd Otto („Kollege Otto“, 1991): Sie alle stehen für Hintergründiges, das in den oft nach Oberflächenreizen sortierten Schubladen nicht sofort oder gar nicht zu finden ist. Bei allen offenbart sich in der Breloerschen Sicht ein komplexes Persönlichkeitsmuster, das zugleich exemplarisch mit gesellschaftlichen und politischen Zuständen zusammenhängt, in einem erhellend aufgedeckten und spannend erzählten Gesamtgeflecht.

Bei seiner Heimkehr nach Leipzig noch nicht spruchreif, aber die Rolle von Thomas Mann scheint Müller-Stahl auf den Leib geschneidert zu sein; Foto: Petra Kammann

Armin Müller-Stahl als Thomas Mann auf dem Cover von S. Fischer

Bei Thomas Mann weitet sich dies in einem beeindruckenden Zeit- und Personenbogen aus (nicht umsonst heißt das groß angelegte und in den medialen Formen vielschichtig ausgebaute Werk „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ (2001), während bei Albert Speer das Psychogramm einer fundamentalen, zeitübergreifenden Ambivalenz gezeichnet wird – auch dies ein fulminanter Verständnisspiegel einer spezifisch deutschen (Personen-)Geschichte.

S. Fischer-Verlegerin Monika Schoeller präsentiert im Frankfurter Verlagshaus „Die Manns. Ein Jahrhundertroman“ mit Heinrich Breloer 2001; Foto: Petra Kammann

In dieser Konstellation, mit diesem so weit ausholenden und in den Grundwerten doch so konzentrierten Werk zeigt Breloer eine Intensität der Arbeit und eine Meisterschaft in der Realisierung, die nicht nur in der spezifischen Qualität, sondern auch in der beeindruckenden Quantität zu den herausragenden Ergebnissen eines Fernsehens zählt, das in dieser Form nur vorstellbar ist, wenn die Grundeigenschaften gesellschaftsorientiert und gemeinwohlverpflichet den Wesenskern (und auch die formale Verfassung) bestimmen. Nicht umsonst nannte Ex-WDR-Intendant Fritz Pleitgen den Filmemacher einmal eine „Vorzeige-Figur der ARD und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens überhaupt“. Und setzte sich sehr dafür ein, dass der so Gelobte mit „Buddenbrooks“ (2008) seinen einzigen Spielfilm drehen konnte.

Kein Wunder deshalb auch, dass beim Grimme-Preis, der jährlichen Belobigung von Fernseh-Erzeugnissen, diese Filme, diese Leistungen einen so großen Stellenwert haben, weit über die konkreten Auszeichnungen hinaus. (Eine Hypothek bedeutet das übrigens nicht, auch wenn manchmal der Verdacht aufkam, eine Nicht-Auszeichnung wie beim „Todesspiel“ sei nur so zu verstehen.) Wesentlich ist: Die Grimme-Preisformel – laut Statut wird die Trophäe solchen Sendungen zugesprochen, welche die spezifischen Möglichkeiten des Fernsehens auf hervorragende Weise nutzen und nach Form und Inhalt Vorbild für die Fernsehpraxis sein können“ – erfüllt Breloer in vielerlei Hinsicht im allerbesten Sinne.

Das war schon bei der ersten Auszeichnung überdeutlich zu sehen. Sie galt der zehnteiligen Reihe „Mein Tagebuch“, auch sie als Pionierleistung wegweisend für ‚Geschichte von unten’, über private Tagebücher und Amateurfilme in der NS-Zeit („Geschichten von Überlebenden“, 1980). Auch sie ist, wie viele andere Arbeiten, in enger Kooperation mit Horst Königstein, damals Redakteur beim NDR und ein kongenialer Autor und Filmemacher (2013 sehr früh gestorben). Nicht von ungefähr wurden Breloer und Königstein 2005 gemeinsam, als Kreativ-Duo, mit dem Siebenpfeiffer-Preis geehrt, benannt nach einem mutigen Kämpfer für demokratische Teilhabe und Pressefreiheit aus dem deutschen Vormärz.

Nachdenklich im Gespräch; Foto: Petra Kammann

Im berühmten FAZ-Fragebogen zur Person benannte Breloer seinen Hauptcharakterzug einfach und richtig so: Neugier. Denn in der Tat, der Autor, Rechercheur, Arrangeur und Regisseur lässt sich entzünden von leisesten Signalen, lässt sich verlocken von verwaschensten Spuren, von zartesten Andeutungen. Je gefestigter nach außen eine Sache erscheint, je abgehangener eine Bewertung ist, umso stärker nimmt er Witterung auf. Ziemlich untrüglich in seiner Ahnung, unglaublich sicher in den Richtungen, wo sich das Vermutete auch konkretisieren könnte.

Überaus gefährlich und unwiderstehlich zudem ist diese Neugier, weil sie einen besonderen Nebenzug hat: Sie kommt überaus freundlich daher. Getragen von einem Naturell, das jedem Befragten – und wie viele, wie Unterschiedliche sind es! – etwas zubilligt: nämlich eine jeweils eigene Geschichte und Motivation, eine ganz persönliche Grundkonstellation zu haben – inklusive der Schwächen. Vorlaute Fragen, die zubeißen sollen, gierend auf die offene Flanke des Gegenübers, sie gehören nicht zur Methodik, bei aller Unnachgiebigkeit des Aufklärers.

Assoziativ, suggestiv gibt Breloer dabei oftmals Deutungen, Optionen, Weglinien vor – aber häufig, eigentlich stets so, dass der Befragte sich darin wie im eigenen Assoziationsraum wiederfindet, um dann weitere Punkte anzusteuern, die das Verfahren weitertreiben. Was nichts anderes bedeutet, als dass der Autor natürlich den Faden in der Hand behält.

Iris Berben als Bethsy Buddenbrook und Armin Müller-Stahl als Konsul Jean in der Buddenbrooks-Verfilmung, Warner Bros. Pictures 2008 / Bavaria, Film / Stefan Falke

Wenn Spielszenen inszeniert werden, wenn sich Zeugenaussagen und Dokumentarmaterial gegenseitig erhellen, wenn Widersprüche aufgedeckt oder Parallelen betont werden, wenn Sachverhalte verkleinert und parzelliert oder neue große Räume geöffnet werden: Stets ist Breloer der Herr der Fragmente, will es auch sein. Um abschließend zu sagen: So ist das mit Intuition ebenso wie mit akribischer Recherche in seinen Einzelteilen aufgelesene, inszenierte Bild, so sieht es aus in der Endmontage. Das alles nicht ohne die Suggestion, dies sei auch zwingend so, halt- und lesbar, und bezwingend in Machart und Rhythmus obendrein.

Und hier das Buch zur Entstehung des Films (S.Fischer)

Und jetzt, was werden wir demnächst sehen? Verraten will er noch nichts, deutet lediglich an, dass er, wieder in Richtung WDR, an einem großen Thema arbeitet. Achtzig Lebensjahre, das heißt eben auch: Genau zu wissen, was man tut und sagt. Und lässt.

Der WDR ehrt Heinrich Breloer zum 80. – Mit Online-Premieren in der ARD Mediathek und Werkschau im WDR Fernsehen

Am 17. Februar 2022 wird der Regisseur und Autor Heinrich Breloer 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass strahlt das WDR Fernsehen an seinem Geburtstag den Zweiteiler „Todesspiel“ aus (17. Februar, ab 23.30 Uhr, WDR Fernsehen) aus. Außerdem sind pünktlich zum 17. Februar 2022 die Online-Premieren von „Todesspiel“, „Die Manns – ein Jahrhundertroman“ und „Buddenbrooks“ in der ARD Mediathek geplant.

Am Samstag, 19. Februar 2022, widmet ihm das WDR Fernsehen einen ganzen Abend und die Nacht. Den Auftakt macht der Dreiteiler „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ (ab 20.15 Uhr). Im Anschluss wird ein Interview mit Heinrich Breloer aus der Reihe „WDR Geschichte(n)“, das WDR-Redakteur Klaus Michael Heinz im Jahr 2020 mit ihm führte, gezeigt und danach der Zweiteiler „Brecht“.

 

 

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