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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Alexander Kluge: Der „Teilchenbeschleuniger“ des Kulturuniversums wird 90

Ein einzigartiger Sinn-Arbeiter

Von Uwe Kammann

Ein Tausendsassa? Nein, völlig falsch. Ein Zehntausendsassa, wenn nicht noch mehr. Alexander Kluge ist ein Intellektueller mit einer unglaublichen Anzahl von Facetten, egal in welcher seiner vielen Rollen: zu denen die des Autors, Filmemachers, Fernsehproduzenten, Medienpolitikers und Universaltheoretikers gehören. Immer zusammengefasst unter einem Obertitel: dem des Erzählers. Mit Frankfurt war und ist dieser in München lebende Großmeister aller Sinn-Arbeit in vielem verbunden, man denke nur an den frühen Film „Die Patriotin“ (1979), der das Westend als Spekulationssopfer zeigt, oder seine große Poetik-Vorlesung (2012) an der Goethe-Universität. Und man muss unbedingt die grundkritische Frankfurter Schule nennen, ein A und O seiner Denkwelt. Jetzt, am 14. Februar, wird Alexander Kluge 90 Jahre alt. Und wirkt jung wie eh und je. Ein einmaliges Phänomen in der Kulturgeschichte der Bundesrepublik.

Alexander Kluge, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor, Philosoph und Rechtsanwalt; Foto: Petra Kammann

Vieles von dem, was er in jeglicher Medienform erzählt hat und noch erzählt, verwirrt auf den ersten, zweiten und auch dritten Blick. Es wirkt verwunderlich, erstaunlich, befremdlich, dann wieder poetisch, träumerisch, verführerisch – das alles in immer neuen Mischungen und Spannungsverhältnissen. Entziehen kann sich diesen Texturen kaum jemand, vor allem dann nicht, wenn Kluge selbst spricht, in einem unnachahmlichen ‚Sound’: schnell, fast ein wenig hastig, so, als ob er niemandem die Chance geben will, auch nur für eine viertel Sekunde Raum für gedankliche Fragen oder gar Einwürfe zu erhaschen. Zumal er sich in kurzer Folge immer selbst bestätigt, mit einem stets den Sätzen angefügten „Ja“, das nur ein winziges rhetorisches Fragezeichen erkennen lässt. Es ist ein „Ja?!“, das kein einziges Aber im Raum duldet.

Überhaupt, er prägt Denk- und Vorstellungsräume in jeglicher Art, auf jeglichem Gebiet. Und das nicht selten in der Form von Großsätzen, die als Titel noch nach Jahrzehnten zu Merksätzen geworden sind, aller Rätselhaftigkeit zum Trotz, wahrscheinlich eher gerade deswegen. Nehmen wir Filme wie „Abschied von gestern“ (1966), „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ (1968). „In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod“ (1974), das ist auch so eine Sentenz aus der Wortschatzkammer des Alexander Kluge. Und eine seiner liebsten dazu, immer wieder verwendet, um den oft diagnostizierten falschen Lauf der Welt zu kennzeichnen und zugleich ein Hilfsmittel anzubieten.

Hätte man sich das alles als Makro- und Mikrokosmos vorstellen können, als der junge Kluge – ein wenig schmächtig, wirklich noch jungenhaft, im Anzug und mit damals modisch schmaler Krawatte – im berühmten Oberhausener Manifest eine mediale Revolution anzettelte? Als er nämlich 1962 bei den schon berühmten Kurzfilmtagen zusammen mit anderen jungen Filmemachern (natürlich, sie verstanden sich als junge Wilde) die radikale Parole ausrief: „Opas Kino ist tot“? Um damit dann tatsächlich die Grundlage zu bilden für den jungen deutschen Film, unter dem Etikett „Autorenfilm“, mit einer Phalanx von Regisseuren im Spektrum von Edgar Reitz bis Volker Schlöndorff? Vor allem: Hätte das irgendjemand erwartet von einem, der in den 50er Jahren für seine Studien die Kombination von Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik gewählt hatte, an Orten wie Freiburg, Marburg und Frankfurt?

Alexander Kluge, immer hellwach;  Foto: Petra Kammann

Ach, das Resultat dieses Kulturmenschenlebens war und ist ebenso ungewöhnlich wie seine politische und ökonomische Begabung. Denn er schaffte es, als in den 80er Jahren das Privatfernsehen aufkam, diesem renditeorientierten Unternehmen (mit den Großsendern RTL und Sat.1) sogenannte Kulturfenster abzutrotzen. Und dies gelang auf der Grundlage eines Bündnisses mit der in Sachen Privatfernsehen mehr als zögerlichen SPD. Sie versprach schließlich, den Sendern per Länder-Staatsvertrag die nötigen Lizenzen einzuräumen, aber eben nur, wenn unabhängigen „Dritten“ Sendeplätze eingeräumt würden. In einem weiteren Schritt gründete Kluge mit einer japanischen Werbeagentur als potentem Geldgeber eine eigene Gesellschaft, die DCTP. Ausgeschrieben: Development Company for Television Programs. In der Folge erblickte das Publikum, wenn es denn wollte, per Knopfdruck Magazine wie „10 vor 11“ oder „News & Stories“. Auch für „Spiegel TV“ war er Geburtshelfer.

Diese Mitternachtskinder waren nun tatsächlich höchst eigensinnig, eigenständig und in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Damit bildeten sie sowohl inhaltlich als auch formal den größtmöglichen Kontrast zum herkömmlichen Fernsehen. Zu den Kennzeichen gehörten mitlaufende Untertitel, Texttafeln, Fotos, Überblendungen, das alles grafisch angelehnt an Mittel der 20er Jahre, an russische Revolutionstypologie, groß und klar, in rot, schwarz und weiß. Eine Montagetechnik, die auf den ersten Blick signalisierte: Hier kommt Kluge.

Seine Stimme tat das übrige, natürlich auch die spezifische Anordnung der Einzelelemente wie aus einem filmischen Zettelkasten, gefüllt mit  Dokumentarmaterial, das aus entlegensten Feldern stammt. Auch seine Interviews kommen ohne das übliche Brimborium der professionellen TV-Imperien aus: Die Kamera in der eigenen Wohnküche reicht, um Wissenschaftler und Künstler zu befragen. Vielleicht besser: um ihnen mit der eigenen Stimme (plus vielen „Ja“s?!) etwas als Antwort zu suggerieren, was längst in der Frage formuliert ist.

Es gibt Lieblingsmotive bei seiner Themenwahl, von der Oper, die er unübertrefflich „Kraftwerk der Gefühle“ nennt – Carmen spielt dann natürlich eine Hauptrolle – über die rettenden Feuerwehrleute von Halberstadt (seiner Geburtsstadt) und die Fluchtdisposition von Pferden bis zu Stalingrad, zu Krieg überhaupt. Aber es tauchen immer wieder neue Kombinationen auf, querschießende Gedanken, Aufsplitterungen, unerwartete Kehrwendungen. Neugier, Offenheit, das ist eine Kerncharakteristik.

Grimme-Preisträger unter sich: Alexander Kluge im Grimme-Institut im Gespräch mit dem Filmregisseur Dominik Graf; Foto: Petra Kammann 

Bei einem Gespräch mit der früheren Präsidentin der Volkshochschulverbandes, Rita Süssmuth malte Kluge – es ging dabei natürlich um Bildungswege – lustvoll aus, wie frei von jeglichen Regeln sich letztlich die Menschen ihren jeweils ganz eigenen Weg bei der Weltaneignung suchten. Und wie in seinen Filmen, seinen Fernsehbeiträgen, seinen Filmen knüpfte Kluge ein immer wieder überraschendes Netz von Bezügen, von Anspielungen, von historischen Erinnerungen und wissenschaftlichen Systemen – in der Geschwindigkeit und Kombination oft so überraschend, dass den Zuhörern sichtbar schwindlig wurde.

Dabei gehört zu Kluge natürlich auch die systematische Einkreisung von Gedanken, die philosophische Grundlegung. Am bekanntesten sind dabei drei Titel aus der Zusammenarbeit mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt, auch sie längst verankert wie Markennamen: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), Geschichte und Eigensinn (1981) und Maßverhältnisse des Politischen (1992). Ohnehin, er behauptet von sich: „Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine.“

Nun, in manchen Feldern lässt sich das gar nicht trennscharf auseinanderhalten. Das wurde auch deutlich, als er sich vor zehn Jahren in den Poetikvorlesungen der Frankfurter Universität mit Theorie und Praxis der Narration auseinandersetzte. Klar wurde dabei allerdings, dass er mit dem Modewort des „Narrativs“ – das heutzugage angeblich allem und jedem zugrundeliegen sollte – nichts anzufangen wüsste. Sein Erzählen ist ganz anders, schließt völlig andere Räume auf, individuelle und kollektive. Wenn das unter einem Lieblingswort auftaucht wie „Lebensläufe“ – zunächst als ganz frühes Buch, in einem schmalen Suhrkamp-Bändchen, später dann in Verbindung mit einer umfangreichen Textsammlung, die zugleich als „Chronik der Gefühle“ firmiert –, dann sollen sich ganz andere Assoziationen einstellen.

Als Kluge 2014 der Heine-Preis zugesprochen wurde, hielt der Künstler (!) Anselm Kiefer eine bemerkenswerte Laudatio, bei der ein Begriff sich sofort einbrannte: Bei dem Geehrten handele es sich – Anspielung auf ein besichtigtes wissenschaftliches Labor – um einen „Teilchenbeschleuniger“. Sicher kein schlechter Vergleich, wenn man dieses menschliche Denk-, Sprech-, Schreib- und Zeigeuniversum einmal versucht auszumessen und Dimensionen und Einzelpartikel in ein Verhältnis zu setzen. Auch „Magier“, von Kiefer ebenso als Begriff einbezogen, trifft natürlich gut Kluges Beschwörungskünste – und seine seismographischen Fähigkeiten.

Die er übrigens auch bei seiner Düsseldorfer Dankesrede bewies, als er mit Blick auf Heine dessen Modernität beschrieb am Beispiel des Krimkrieges (!) 1853-1856, welcher mit Telegrafie und Fotografie sowie globalisierten Kosten der erste moderne Krieg gewesen sei. Als Schlussfolgerung warnte er vor allgegenwärtigen Minenfeldern auf unserem Planeten, wobei die stillen Felder die unheimlichsten seien, weil „das Unbeachtete getrennt marschiert und vereint zuschlägt.“ Heine habe es so formuliert: „Nichts ist stiller als eine geladene Kanone“.

Verleihung des Heinrich-Heine-Preises der Stadt Düsseldorf 2014: Verbundenheit des Laudators Anselm Kiefer mit Alexander Kluge; Foto: Petra Kammann

Preise, Auszeichnungen: Alexander Kluge ist damit geradezu überhäuft worden, vom Büchner-Preis für sein umfangreiches literarisches Werk – vor allem eben in der Form der gesammelten Geschichten – bis zum Goldenen Löwen in Venedig für seinen „Zirkuskuppel“-Film. Zwei seiner Fernseharbeiten wurden mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, dazu sprach ihm der Ausrichter 2010 die Besondere Ehrung für das Lebenswerk zu.

Die damalige Begründung erfasste und umriss Kluges „unverwechselbare, vielseitige und einzigartige“ Stellung in der Medienlandschaft sehr genau, stellte gleich anfangs fest: „Kaum eine Facette der Welt und der Wirklichkeiten, des schönen und des bösen Scheins, der Künste, der Konstrukte und der gesellschaftlichen Geschäftigkeiten, die er nicht bearbeitet hätte. Kaum eine mediale Form, die er nicht für sich genutzt, umgearbeitet und strategisch eingesetzt hätte.“

Und weiter hieß es, er sei „Generator eines umfassenden Welt- und Selbstverständnisses durch Sammeln und Darstellen aller Arten von Begebenheiten und Geschehnissen, durch nachsinnendes Einordnen, durch eine imaginationsstarke Montage auch entlegener oder kurioser Dinge und Einsichten“, und dies „mit einem schier unerschöpflichen Reichtum an Kenntnissen, Erinnerungsstücken und Nachdenklichkeiten“, verbunden durch ein „schwebendes Netzwerk von Beobachtungen, Einsichten und Assoziationen.“

Und noch eine weitere, sehr treffende Kennzeichnung findet sich in dieser Begründung. Nämlich: Alexander Kluge sei ein „unermüdlicher Sinn-Arbeiter, der mit einer immer wieder neuen Collage von Geschichten, Gesprächen, Bildern, Reflexionen, Anspielungen und Verknüpfungen einen ebenso eigensinnigen wie faszinierenden medialen Kosmos schafft, der als fortwährender Essay zu verstehen ist.“

Ein fortwährender Essay: Darin steckt sicher ein wesentlicher Kern, wenn man Kluges Werk beschreibt. Der Publizist Michael Rutschky sah dessen besonderes Verdienst auch darin, geradezu einen „Kindertraum vom ganz eigenen Autorenfernsehen“ verwirklicht zu haben, geprägt auch von einer einzigartigen Begeisterung: „Unweigerlich ist der Enthusiasmus sein Medium“. Mit diesem „enthusiastischen Grundgestus“ habe er ein „ganz eigenständiges Kulturgenre“ geschaffen“: „Er hat eine autonome Fernseh-Essayistik erfunden.“

Autonom, einzigartig, enthusiastisch: Ja, das alles und noch unendlich viel mehr ist das Universum, das in und mit der Person Alexander Kluge verbunden ist. Neunzig Jahre, was für eine Spanne – wer sich nicht verneigt, ist ein Banause der ersten Klasse. Und sollte den kostbaren Namen des Jubilars nie in den Mund nehmen. Alle anderen dürfen feiern. Ihn, natürlich. Und uns, die wir durch ihn bereichert werden.

Alexander Kluge und seine Frau Dagmar Steurer im Grimme-Institut; Foto: Petra Kammann

https://www.kluge-alexander.de

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Einen Tag vor seinem Geburtstag präsentiert der Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor, Philosoph und Rechtsanwalt in den Münchner Kammerspiele seine neue Publikation „Das Buch der Kommentare / Unruhiger Garten der Seele“ (Suhrkamp). Dazu schreibt er selbst: „»Kommentare sind kein lineares Narrativ. Sie sind Bergwerke, Katakomben, Brunnen, die stollenartig in die Tiefe graben. Es reizt mich, diese besondere Form der Narration neu zu erproben.« 

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Der Autor Uwe Kammann war von 2005 bis 2014 Direktor des Grimme-Instituts in Marl. 

 

 

 

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