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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Vernichten“ Der neue Roman von Michel Houellebecq

Was bleibt ist die Familie

von Simone Hamm

Michel Houellebecqs neuer Roman „Vernichten“ beginnt in typisch Houllebeqsher Weise. Terroranschläge, frömmelnde Frauen, Cyberattaken, dämliche Linke, dicke Feministinnen, korrupte, machtgeile Politiker, nach Publicity heischende Journalisten, Verschwörungstheoretiker, ein torpediertes Flüchtlingsboot, erschossene, ertrinkende Flüchtlinge, deren Tod auf den sozialen Medien zu sehen ist: die westliche Welt mit ihren „Werten“ steht kurz davor, unterzugehen. Frankreich sowieso. Es ist 2027, die Wahl des französischen Präsidenten steht bevor.

Spätestens seit seinem fulminanten Roman „Unterwerfung“, in der Houellebecq den Islam und die Liberalen aufs Schärfste kritisierte – und zwar vor den Anschlägen auf einen koscheren Supermarkt und die Redakteure und Zeichner der Satirezeitschrift Charlie Hebdo – sagt man ihm prophetische Gaben nach.

Doch „Vernichten“ ist weniger sarkastisch, nicht so bitterböse wie die anderen Bücher Houellebeqs. Liest man seinen neuen Roman, steht es um die Zukunft gar nicht so schlecht: die französische Automobilindustrie boomt und überhaupt: der Wirtschaftsminister Bruno Juge (ein Verweis auf den Wirtschaftsminister Bruno Le Maire) ist sympathisch und gebildet.

Gewiss: die Gesellschaft hat an Stil und Eleganz verloren, statt elitärer Kunst ist Massenkultur angesagt, darüber können auch die ZEN-Bereiche in den Hochgeschwindigkeitszügen nicht hinwegtäuschen.

Aber es gibt es etwas, das bleibt und Wert hat – und das ist die Familie. Liebevoll kümmern sich die Kinder um ihre alten dementen Eltern. Paul Raison hilft seinem Vater, einem ehemaligen Geheimdienstagenten, aus einem entsetzlichen Altersheim zu fliehen, in dem nur die Euthanasie auf ihn wartet, um ihn zu Hause pflegen zu lassen.

Über den stillen Vater, der verstehen, aber nicht sprechen kann, nähert Paul sich wieder seinen Geschwistern an. Nähe stellt er auch wieder zu der Frau her, mit der er seit vielen Jahren nur noch die Wohnung, den Kühlschrank, nicht aber Tisch und  Bett teilt. Plötzlich sind Liebe, Zuneigung, Sex wieder möglich. Und das mit einer gleichaltrigen Frau um die fünfzig, der eigenen noch dazu, die Paul Raison begehrenswert findet. Das gab es so auch noch in nicht in Houellebecqs Romanen.

Aber natürlich ist dieses Glück zerbrechlich. Paul Raison erkrankt an Krebs. Und Houellebecq lässt seinen Protagonisten sich mit dem Tod und dem Ende beschäftigen.

Literatur tröstet ihn. Von Voltaires „Candide“ bis hin zu Conan Doyle „Sherlock Holmes“.

Das ist ein neuer Houellebecq, empfindsam, zart und mitfühlend. „Vernichten“, in der hervorragenden Übersetzung von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, ist ein ist ein grandios geschriebener Gesellschaftsroman. Er ist spannend, leicht zu lesen, ist Thriller, Spionageroman, Liebesgeschichte, Politsatire, philosophische Betrachtung.

Der letzte Satz von Houllebecqs Danksagung lässt aufhorchen. Da heißt es. „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt: Für mich ist es an der Zeit aufzuhören.“ Bitte nicht.

Michel Houellebecq: „Vernichten“ Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. 621 S. DuMont. 28 €

Von und über Michel Houllebecq

Wer mehr über den bei Auftritten so wortkargen, in seinen Romanen so bissigen Autor erfahren will, dem sei das von Agathe Novak – Lechevalier herausgegeben fast 600 Seiten lange Buch: „Michel Houellebecq“ empfohlen. Es ist ein Cahier d’Herne. Mit diesen Cahiers ist der l’Herne Verlag berühmt geworden. Sie sind jeweils einem Autor, einer Autorin gewidmet, etwa Marcel Proust, Jaques Derrida, Simone de Beauvoir, Francois Sagan. Die Persönlichkeiten und ihre Werke werden aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet, bislang Unveröffentlichtes wird publiziert.

In diesem Cahier d’Herne sind Essays von und über Michel Houllebecq zu lesen, wird wieder an die Debatten erinnert, in denen man Houellebqc Islam – und vor allem Frauenfeindlichkeit vorgeworfen hat. Es sind apokalyptische Gedichte zu lesen, die er schon als junger Mann schrieb, dazu Jugendfotos. In den abgedruckten Interviews, betont er seine Unabhängigkeit, provoziert, setzt alles daran, um nicht zum verhassten Mainstream zu gehören. Kommilitonen erzählen, wie er zu dem geworden ist, der er ist, immer schon einsilbig, immer schon andere brüskierend. Freunde wie Frédéric Beigebeder und Schriftsteller wie Yasmina Reza und auch Iggy Pop nähern sich dem Phänomen Michel Houellebecq.

Eindrucksvoll ist der Briefwechsel mit seiner Verlegerin Teresa Cremisi, in denen er unumwunden zugibt, dass Provokation nicht nur Haltung, nicht nur Stilmittel ist, sondern auch Strategie ist: man redet eben über Houellebecq, ob man über ihn schimpft oder ihn in den Olymp der Schriftsteller hebt.

(Hrsg.) Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Esther Hansen, Stephan Kleiner, Christian Kolb, Silke Pfeiffer, Jörg Pinnow, Julia Schoch und Bernd Wilczek. 591 Seiten. DUMONT. 44 €.

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