home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Emil Mangelsdorff: ein großer Musiker, ein vorbildlicher Mensch – Ein Nachruf

Pionier des deutschen Jazz und ein Frankfurter Urgestein

Von Uwe Kammann

Der lichte Saal im Holzhausen-Schlösschen, auf der Bühne vier Musiker. Aber im Mittelpunkt nicht, wie sonst an jedem ersten Montag des Monats, der weiße wehende Haarschopf von Emil Mangelsdorff. Vielmehr greift der Pianist Thilo Wagner zum Mikrophon, erläutert: Emil habe am Telefon kurzfristig absagen müssen: „Ihm war die ganze Woche nicht so besonders“. Da, an diesem Abend des 6. Dezember, angekündigt als 214. Konzert in der Reihe „Emil und seine Freunde“, fürchteten viele Freunde des Frankfurter Musikers bereits mit Sorge und Beklommenheit: Vielleicht würde er nie mehr auf diese Bühne der Frankfurter Bürgerstiftung zurückkehren, eine Bühne, die ihm so viel bedeutete wie sonst nichts in den letzten drei Jahrzehnten seines professionellen Lebens. Die Lebenskraft und die Spielenergie des 96-Jährigen schienen sich erschöpft zu haben. Jetzt, am 21. Januar, wurde die Ahnung bestätigt, mit der traurigen Nachricht: Emil Mangelsdorff ist tot.

Der Saxofonist Emil Mangelsdorff im Holzhausenschlösschen; Foto: Uwe Kammann

Mit ihm, so war in vielen ersten Reaktionen zu hören und zu lesen, ist eine Legende gestorben. Doch richtiger noch ließe sich sagen: Mit ihm lebt eine Legende, und sie wird lange fortleben. Denn Emil Mangelsdorff, das empfinden alle, die ihn gekannt haben, gehört zu den ganz wenigen Persönlichkeiten, die vieles in sich vereinen und ausstrahlen. Vor allem dies: in jedem Moment etwas Außergewöhnliches zu verkörpern und glaubhaft zu leben, als Künstler und als Mensch, und dies untrennbar miteinander verbunden. Diese Verbindung hatte etwas, das – zu altmodisch, zu pathetisch? – als beflügelnd, als beseeligend zu nennen ist. Ihm zu begegnen, ihm zuzuhören – bei seiner Musik, beim Ausbreiten seiner Erfahrungen –: Das verwandelte unmittelbar.

Emil Mangelsdorff, auch im hohen Alter noch vital; Foto: Uwe Kammann

Eine Legende, ja, so abgegriffen das Wort auch ist. Eine Frankfurter Legende dazu. Denn Emil Mangelsdorff gehörte zu den – nochmal abgegriffen, aber eben wahr – ja, zu den Pionieren des Jazz in dieser Stadt, machte sie nach dem Krieg zu einer frühen Hochburg, zu einem Anziehungspunkt der Besten, auch weltweit. Und dies, nachdem ihm hier in der Nazizeit die Freude an dieser Musik – für die braunen Ideologen „Niggermusik“, „Judenmusik“ – ausgetrieben werden sollte.

Da steckte er bereits voller Widerspruchsgeist, traf sich mit Gleichgesinnten, trug die Haare nicht in der hochrasierten Faconschnitt-Norm, provozierte fürs Foto in ironisierender Hitlergrußgeste vor dem Eisernen Steg, kurz: Er war alles andere als Volksgemeinschaft-konform. Wurde mithin konsequent als Mitglied der „Swing-Jugend“ von der Gestapo in deren Hauptquartier, einer Gründerzeitvilla in der Lindenstraße, eingebuchtet, dann an die Ostfront abkommandiert, was mit elenden Gefangenenjahren in Russland endete.

Hört man diese bitteren Erfahrungen seiner Musik an? Nein, eher hat er sich den Aufbruchsgeist seiner Jugendjahre bewahrt, zählte weiter auf seine unverbrüchliche Haltung, die von sozialdemokratischem Geist geprägt war. Und atmete auf. Doch bewahrt hat er die Erinnerungen an die Zeit des Terrors und der Staatsverbrechen in unverbrüchlicher Form: um sie weiterzugeben als Mahnung, als Warnung – in immer wieder aufgenommenen Gesprächskonzerten, um gerade auch Jugendlichen einen Appell eindringlich mitzugeben: Nie wieder!

Dieses Engagement hat Emil Mangelsdorff tief geprägt, gehörte zu seiner ersten, zweiten und dritten Natur. Ein gelebter Humanismus, so dass ihm die musikalische Begleitung zur natürlichsten aller Gesten und Gaben wurde, als Trude Simonsohn 2016 in der Paulskirche mit der Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet wurde. Zwei große Persönlichkeiten der Stadt, lange in Freundschaft verbunden, die in eindrücklicher Form bewiesen haben, was es bedeutet, Zeitzeuge zu sein und diese Zeugenschaft weiterzugeben – beide sind nun im selben Jahr gestorben.

Emil Mangelsdorff in der Paulskirche bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Trude Simonsohn, Foto: Petra Kammann

Woher sie beide die Kraft genommen haben, jeder auf seine Weise, um bis ans Ende ihres langen Lebens auch das auszustrahlen, was wir staunend als Grundoptimismus wahrgenommen haben, natürlich auch in staunender Bewunderung? Das muss nicht unbedingt begründet werden; es darf beim Staunen, bei der Bewunderung bleiben; wozu auch – das sei ohne Scheu so gesagt – viel Verehrung, auch Liebe gehören. Und es fiele schwer, um beim Vordergründigen zu bleiben, bei Emil Mangelsdorffs Musik nicht an Liebe zu denken. Einfach, weil sie im Innersten voller Liebe steckt. Nicht sentimental, nicht gefühlig. Sondern als innere Bewegung, als natürliches Leuchten.

Das vielleicht schönste Beispiel? Die musikalische Interpretation und Begleitung einiger der schönsten Verse Heinrich Heines. Lyrik und Jazz, so hießt einmal eine Plattenreihe der 60er Jahre. Wer je gehört hat, zu welchen Melodien hier Emil Mangelsdorffs Querflöte (die er oft neben dem Saxophon spielte) die Dichterworte umschmeichelte, vorantrieb, in ihrer Bedeutung noch auflud, und wie an manchen der aufrührerischen Heine-Verse das Saxophon deren Revolte noch anstachelte und in ihrer Subverstität intensivierte, der wird das nie vergessen. Und dieses Meisterwerk – zu dem auch der Gitarrist Attila Zoller, der Bassist Peter Trunk, der Schlagzeuger Klaus Weiss und die Sängerin Stella Banks beitrugen – zum immerwährenden Schatz zählen.

Und wer heute noch einmal hört, wie 1966 bei einer NDR-Studioaufnahme einige der Großen des deutschen Jazz zusammenspielen – neben Emil Mangelsdorff (Saxophon und Flöte) ist auch sein Bruder Albert dabei (dessen Avantgarde-Posaune so viel Furore machte), ebenso der Saxophonist Klaus Doldinger und der Gitarrist Volker Kriegel –, der kann nur staunen über die unglaubliche Homogenität in der Interpretation, obwohl doch alle auch jeweils ganz eigene Wege verfolgt haben.

v.l.n.r.: Bob Degen, Emil Mangelsdorff, Jean-Philippe Wadle, Corinna Danzer, Axel Pape; Foto: Petra Kammann

Damals übrigens, das zeigt der Youtube-Ausschnitt, traten die noch Mitteljungen in Anzug und Krawatte auf. Leicht gelockert, aber doch. Doch zweifelsfrei gilt auch, dass Emil damals durchaus auch als jung und wild gesehen, gehört und erlebt wurde, oder soll man besser sagen: als unglaublich bewegter und bewegender Musiker, voller Elan, aber nie im anarchischen Sinne ungestüm. Sein Formbewusstsein war immer enorm, bei all den vielen Stationen, die zu seinem beruflichen Leben gehören. Und das sind viele, von der HR-Bigband bis zu den eigenen Formationen, von den Auftritten im Frankfurter Jazzkeller (den er lange mit seinem Bruder geführt und geprägt hat) bis zu den vielen Reisen im Namen Goethes. Einen besseren Botschafter für ein neues, ein freieres Deutschland hätte das Institut nicht finden können.

Zahlreiche hohe Ehrungen und Auszeichnungen belegen, dass dies auch Politik/Institutionen verstanden haben – ohne dass es je in die Nähe einer Vereinnahmung gekommen wäre. Nein, Staatskünstler hätte Emil Mangelsdorff nie sein wollen und können. Dass dann schließlich Clemens Greve, Geschäftsführer der Frankfurter Bürgerstiftung, ab Mitte der 90er mit einer weltweit einmaligen Konzertreihe eine konstante Plattform bot und sie mit hohem Herzens-Engagement und in enger  freundschaftlicher Verbundenheit höchst lebendig hielt, war ein besonderer Glücksfall. Und ist Bestbeispiel für eine freie bürgerliche Kulturinitiative.

Seit langem eingespielte Formation – Das Emil Mangelsdorff-Quartett mit Pianist Thilo Wagner und Bassist Jean-Philippe Wadle und Drummer Axel Pape, Foto: Petra Kammann

Es braucht nicht wiederholt zu werden, darf aber schon: Freiheit, Freiheitsbewusstsein, das gehört zum Grundelement, wann immer wir künftig an Emil Mangelsdorff denken, wann und wo immer wir von ihm sprechen werden. Und genau diese Freiheit hat auch, über unglaubliche sieben Jahrzehnte hinweg, seine Musik gekennzeichnet. Indem er sich eben die Freiheit nahm, alles aufzunehmen, was der Jazz in seinen immerwährend sich ändernden Phasen auch an Neuem entwickelte.

Natürlich, er hatte auch Lieblinge, die er gerne und voller Zuneigung zitierte. So entstanden immer wieder Klangbilder aus den Welten eines Chet Baker, eines Charlie Parker, eines JJ Johnson, eines Duke Ellington, eines Shelley Carrol, jeweils in einer ganz eigenen Interpretation. Aber er hat sich niemals eingeengt gefühlt, sich niemals verpflichtet gesehen, nun nur einer Mode zu folgen oder einen Stil als ‚Muss’ zu begreifen oder zu akzeptieren. Traditionen waren für ihn ebenso wenig eine Verpflichtung wie sie auch ebenso wenig ein Korsett darstellten. Er verschmolz traditionelle und neuartige Elemente zu einem ganz eigenen Stil. Der, sofort hörbar, immer seiner war.

Darf man, etwas salopp, vom Sound sprechen? Eher nicht, natürlich, das klingt schließlich auch nach Routine, nach Muster. Und genau das ist es nicht, was ihn auszeichnet. Aber doch zieht sich eine gemeinsame akustische Linie durch dieses Spiel, das Emil Mangelsdorff über Jahrzehnte geprägt hat. Was diese Linie kenntlich macht? Vielleicht lässt es sich einfach so zusammenfassen: eine innige Intensität, eine lyrisch gebundene Dynamik, imprägniert mit schwingender Energie und stets basierend auf einer präzise ausschweifenden Improvisationskunst.

Darüber hinaus gehört aber auch eine Eigenschaft zum Wunderkind Emil Mangelsdorff: dass jemand seine frühe Begeisterung für die Musik der Befreiung so unbeschadet, so jugendlich rein bewahrt hat, in einer Art, die selbst bei den letzten Konzerten nahezu vergessen ließ, dass dieses Jazz-Urgestein auf die 100 zuging.

„One, two, onetwothreefour…“; Foto: Uwe Kammann

Natürlich, es gab äußere Anzeichen und Spuren, welche dies ahnen ließen. Aber wer bei den Konzerten im Holzhausen-Schlösschen die Züge des bei besonders gelungenen Passagen verschmitzt wirkenden, ungemein agilen Pianisten Thilo Wagner sah, die nicht selten leise lächelnde Lust des jungen  Schlagzeugers Axel Pape, die nach Innen gerichtete Fokussierung des Bassisten Jean-Philipp Wadler, wer all das wahrnahm, und natürlich vieles mehr, der konnte immer wieder nur staunend denken: formidabel, diese konzentrierte Frische, diese hohe Präsenz, die Emil Mangelsdorff über die eigene musikalische Vitalität seiner Grundformation eingepflanzt hatte, stets neu bekräftigt mit seinem one two, one two three … Eine Vitalität, die sich auch der imposanten Reihe seiner internationalen Gäste, seiner friends, spürbar mitteilte.

Sich mitgeteilt hat. Wir müssen nun im Perfekt sprechen. Schwer ist das, sehr schwer. Aber wir dürfen auch an den Trost von Balladen denken. Als Emil Mangelsdorff eine Verleihungsfeier des Grimme-Preises begleitete, bestand er darauf, diese melancholische, nachsinnende Spielart des Jazz ins Zentrum zu stellen, allen sonst üblichen Feierfröhlichkeiten zum Trotz. Das Publikum in Marl verstand es. Das Publikum der Frankfurter Konzerte wiederum wusste ohnehin aus vielen Begegnungen, wie sehr diesem herausragenden Jazz-Musiker Balladen am Herzen lagen. Jeder spürte sofort, vom ersten Ton an, die elegische Schönheit seiner Saxophon-Phrasierungen, lauschte atemlos, eintauchend in eigene intensive Empfindungen.

Emil Mangelsdorff bei seinem 205. Montagskonzert am 5. März 2020 im Holzhausenschlösschen, Foto: Petra Kammann

„Sophisticated Lady“, so hieß eines seiner Lieblingsstücke. „Emil, lieber Emil“: Diesen schlichten, einfachen Titel sollte die Schlussballade auf das Leben dieses so außergewöhnlichen, so außergewöhnlich vorbildlichen Menschen tragen. Eine Ballade, die beim ersten Ton traurig stimmt. Aber die dann, bei jeder weiteren Note, auch Trost spendet. Denn der liebe Name ist damit ganz bei uns.

https://www.frankfurter-buergerstiftung.de/

Emil Mangelsdorff und Corinna Danzer: eine Jazz-Beziehung

Roma-Sinti Gedenktag in Auschwitz am 2. August 2019

Emil Mangelsdorff gastierte zum 195. Mal im Holzhausenschlösschen

Emil Mangelsdorff zum 90. Geburtstag

Und ein Gespräch zum Nachhören mit Emil Mangelsdorff im HR

https://www.hr2.de/programm/jazz/jazzfacts–whats-going-on—features-interviews-und-was-die-szene-um-treibt,id-jazz-now-1576.html

Comments are closed.