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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„DREI – jüdische Künstlerinnen aus Frankfurt“: Eine Ausstellung unter Mitwirkung des Zonta Clubs Frankfurt II Rhein-Main

Julia Ovrutschski und Anna Nero in der Vernissage, Foto: Erhard Metz

Von Erhard Metz

Es war ein froh gestimmter Eröffnungsabend der Ausstellung „DREI – jüdische Künstlerinnen aus Frankfurt“ in der Frankfurter Ausstellungshalle 1A, zu dem sich bei G2-Regel und Atemschutzmasken ein sich nach Kunst sehnendes Publikum eingefunden hatte, begleitet von den mal aufreizenden, mal melancholischen Klängen des Sopransaxophons von Klezmer-Musiker Roman Kuperschmidt. Obschon sich in den Herzen derer, die es wussten, auch eine Anmutung von Trauer ausgebreitet hatte: Tatjana Ovrutschski, Großmutter und Mutter im Künstlerinnentrio Tatjana und Julia Ovrutschski und Anna Nero (ihr vollständiger Name lautet Anna Alexandra Neroslavsky), war wenige Tage zuvor im Alter von 86 Jahren entschlafen.

Drei Familien – das jüdische Trio, in Russland geboren, war 1995 zusammen mit Julias Mann Alexander Neroslavsky, einem künstlerischen Fotografen, im Rahmen der Aufnahme von russischen Kontingentflüchtlingen nach Frankfurt am Main gekommen – drei aufeinander folgende Künstlerinnengenerationen, allesamt hochbegabt und an renommierten Kunstakademien und -hochschulen ausgebildet, eine Künstlerinnendynastie also, wie wir sie in der Kunstgeschichte durchaus kennen: nur zu denken etwa an die Dynastien Cranach oder Brueghel, an die Familien Giacometti oder Begas, oder in der Musik an die Generationen Bach. Und gerade Frankfurt am Main ist mit den Künstlergenerationen Morgenstern (als da sind Johann Christoph Vater und Sohn, Johann Ludwig Ernst und Friedrich Wilhelm Christoph, schließlich Johann Friedrich und Carl) verbunden. Letzteren verdankt die Stadt das berühmte „Morgenstern’sche Miniaturcabinet“, eines der Glanzstücke im Historischen Museum Frankfurt. Aber zurück zur aktuellen Ausstellung:

(v.l.) Julia Ovrutschski und Anna Nero; Renate von Köller, Präsidentin Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main, führt in die Ausstellung ein; Foto: © Alexander Neroslavsky

(v.l.) Renate von Köller, Präsidentin Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main, Vizepräsidentin Ursula Brüggemann, Zonta Frankfurt II-Mitglieder Monika Becker-Heymann und Perla Faktor, Foto Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main

Wieder einmal war es der kunstaffine Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main, der mit seinem Team „Zonta Art Contemporary“ und einer kleinen Gruppe von Mitgliedern unter Federführung der Frankfurter Galeristin Brigitte Maurer – in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Anna Nero, also der Enkelin Tatjanas und der Tochter Julias, sowie dem Verein „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ – für ein besonderes künstlerisches Ereignis sorgte.

Vielleicht begann alles mit der Wanderausstellung „Jetzt! Junge Malerei in Deutschland“ im Herbst und Winter 2019/2020 im Museum Wiesbaden, an der auch Anna Nero beteiligt war. Jedenfalls wurden die Kunstexpertinnen von Zonta Frankfurt II auf die junge Malerin aufmerksam – mit der Folge, dass dessen Team „Zonta Art Contemporary“ – es organisiert und veranstaltet alle zwei Jahre die Vergabe des gleichnamigen Kunst-Förderpreises – im Februar 2020 die Club-Mitglieder nebst deren Freunden und Bekannten zu einem Artist Talk mit Anna in das Atelier der Künstlerin einlud. Dort lernten die Besucherinnen auch das Werk von Mutter Julia und Großmutter Tatjana kennen.

Anschließend reifte in der Folge unter den Beteiligten die Idee, im Rahmen des deutsch-jüdischen Festjahrs „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ (das am 21. Februar 2021 feierlich in Köln unter Teilnahme des Bundespräsidenten als Schirmherrn eröffnet wurde) eine Ausstellung mit Arbeiten der drei Künstlerinnen zu veranstalten. Der Verein „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ stellte die dafür erforderlichen finanziellen Mittel einschließlich der Herausgabe eines Katalogs zur Verfügung, und das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main sowie das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst sagten ergänzend ihre Unterstützung zu.

Nun galt es noch, für die Ausstellung eine geeignete gemeinnützige Trägerschaft zu finden. Der – kunstaffine – Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main sagte dies in Gestalt seines angeschlossenen „Vereins der Freunde des Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main e.V.“ zu, der mit seiner Vorstandsvorsitzenden Kathrin Dassel alsbald die erforderlichen weiteren organisatorischen Maßnahmen ehrenamtlich wahrnahm. Dem Team gehörten neben der bereits erwähnten Federführenden Brigitte Maurer die Zonta-Damen Nina Horbach und Gisela von Krosigk an.

im Vordergrund: Damen des Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main Ursula Brüggemann (Vizepräsidentin), Monika Becker-Heymann, Nina Horbach, Brigitte Maurer und Perla Faktor; Foto: © Alexander Neroslavsky

Das Ausstellungsprojekt in einem von der Verleihung des Kunstpreises freien Jahr passt sehr gut zu den Zielen besagten Zonta-Clubs: Es unterstützt, wie der Vorstand feststellte, konkret das Engagement der aufstrebenden jungen Frankfurter Künstlerin Anna Nero, und es stellt faktisch wie inhaltlich ein Projekt dar, bei dem es um „Female Empowerment“ geht: drei Generationen jüdischer Frauen, die ihr Leben der Kunst gewidmet haben; drei künstlerische Positionen, die sehr unterschiedlich sind und doch Gemeinsamkeiten aufweisen; drei Generationen geprägt von Migration, Antisemitismus, Erfolgen und Rückschlägen, Anpassung, Veränderung, Assimilation und Ausgrenzung, Sexismus und Resilienz, wie Club-Präsidentin Renate von Köller in ihrer Eröffnungsansprache betonte.

Alle drei Künstlerinnen, so Frau von Köller weiter, sind Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und darüber hinaus in der Frankfurter Kunstszene verankert; diese besondere Position ermöglicht es ihnen, jüdische Kunst in der Kulturlandschaft der Stadt sichtbar zu machen. Das Projekt bricht zudem mit zahlreichen Klischees über Jüdinnen, Künstlerinnen und Frauen im allgemeinen.

Im Rahmen der Ausstellung in der Halle 1A fand ferner eine gut besuchte Lesung der jüdischen Autorin Mirna Funk aus ihrem Roman „Zwischen Du und Ich“ statt.

Eine derartige Drei-Generationen-Ausstellung mit den vielfältigen reizvollen Vergleichsmöglichkeiten, die sie ermöglicht, weckt zweifellos das besondere Interesse eines Kunstwissenschaftlers. In dem Erfurter Kunsthistoriker und Kurator Philipp Schreiner fand Anna Nero einen trefflich beobachtenden, empathischen Autor zur Einführung in den Ausstellungskatalog, der im KANN Verlag erscheinen wird.

Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Künstlerin dürfen wir seinen Text an dieser Stelle veröffentlichen.

Blut und Ölfarbe sind dicker als Wasser: Tatjana Ovrutschski, Julia Ovrutschski und Anna Nero – Drei Generationen einer Malerinnenfamilie

Von Philipp Schreiner, Kunsthistoriker und Kurator der Kunstmuseen Erfurt

Die Geschichte der Familie Ovrutschski/Neroslavsky erzählt von drei Malerinnen aus drei Generationen. Sie führt von Russland nach Deutschland, von der Moskwa an den Main, von der Millionenmetropole Moskau in ein Häuschen mit Hof und Gartenatelier in Frankfurt. Großmutter, Mutter und Enkeltochter: Drei Generationen von jüdischen Frauen, die ihr Leben der Kunst gewidmet haben. Es ist die Lebensgeschichte der Malerin Tatjana Ovrutschski, die gemeinsam mit ihrer Tochter Julia Ovrutschski, deren Mann, Alexander Neroslavsky, und der damals siebenjährigen Anna 1995 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kam.

Herbst 2021 in Frankfurt am Main, Stadtteil Bockenheim. Ein unscheinbarer Weg führt entlang einer grauen Rauputzfassade in einen Hinterhof. Entlang des Weges erstreckt sich zur rechten ein kleines Häuschen mit bodentiefen Fenstern. Es ist das Wohnhaus der Familie Ovrutschski/Neroslavsky. Am Ende des Hauses öffnet sich der schmale Fußweg zu einem, mit mediterranen Pflanzen übersäten Hof. Aus terracottafarbenen Töpfen sprießen Kakteen, Lavendel und Kräuter. Quer zum Wohnhaus ranken Efeupflanzen an einem weiteren Gebäude empor. Alte Holztüren durchzogen von quadratischen Glaseinsätzen laden zum Betreten des zweigeschossigen Gartenhäuschens ein. Dahinter eröffnet sich eine neue Welt. Das idyllische Grün des Hinterhofes weicht einem bunten Zauberwald aus bemalten Leinwänden, Farben und Pinseln. Die beiden kleinen Räume sind durch einen großen offenen Durchgang miteinander verbunden. Es ist das Atelier von Julia Ovrutschski. Die Wände sind voll mit ihren Bildern, abstrakten Landschaften, Portraits und Skizzen; Regale voll mit Malutensilien, Keramikobjekten und Büsten auf Tischen und Sockeln. Gleich am Eingang sind drei Bilder jeweils auf einer Staffelei präsentiert. Sie gehören Julias Mutter, Tatjana Ovrutschski, Malerin – natürlich.

Le’chájim – auf das Leben!

Ein Mensch mit Pferdemaske sitzt in einer vielbevölkerten Fußgängerzone und spielt Schlagzeug. So geschehen im Frühjahr 2018 auf der „Frankfurter Zeil“, der wohl bekanntesten Einkaufsstraße der Metropole am Main. So gesehen und später im heimischen Atelier in Öl auf Leinwand gebannt von der Malerin Tatjana Ovrutschski. 1935 in Sankt Petersburg geboren und aufgewachsen, sind Tatjana Ovrutschski die kurzweiligen, amüsanten, aber beiläufigen Beobachtungen aus dem hektischen Gewirr der Großstädte durchaus vertraut. Als Kind hat sie viel Zeit am Moskauer Bolschoi-Theater für Oper und Ballett verbracht, an dem ihre Mutter als Fotografin arbeitete und sie oft mitgenommen hatte. Es überrascht daher nicht, dass die Protagonisten ihrer Bilder meist Menschen sind. Wie Puppen oder Marionetten kommen sie daher: die Glieder und Finger zu lang, die Augen und Nasen zu groß, in der Haltung ganz steif und die Mimik ganz starr. Eine Körperlichkeit zwischen kubistischer Abstraktion und Karikaturen des sozialistischen Realismus.

Prost (2016), Bar (2017), Das Festmahl (2016), der eingangs beschriebene Drummer auf der Zeil (2018) und einige weitere Straßenszenen bestimmen Tatjanas Sujets der Jahre 2015 bis 2020, in denen sie sich dem widmet, was sie am innigsten umtreibt: die Menschen, das Miteinander und die Ausgelassenheit. Alles, nur nicht langweilig – ein Motto, wie gemacht, für die Bilder und die Person Tatjana Ovrutschski. Malerin, Mutter, Großmutter und Lebefrau, die sich vom Spektakel, der Bühne und dem Vergnügen angezogen fühlt und mit ihren Werken der fragilen Vergänglichkeit des geselligen Seins etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen vermag. Folglich scheint es nur konsequent, im Alter von 80 Jahren eben diese Genre- und Alltagsdarstellungen zum Hauptthema zu erküren, als würde sie sagen wollen „Le’chájim – auf das Leben!“.

Tatjana Ovrutschski: ↑ Bar, Öl auf LW, 80 x 100 cm; ↓ Alte Frauen, 2018, Öl auf LW, 100 x 80 cm

Bei allem Überschwang ist ihr die Tragik des Weltlichen gleichsam nicht unbekannt. Wie es sich für das Lebenstheater gehört – ein Begriff, mit dem sie selbst ihr Schaffen betitelt – zählen eben auch die Schattenseiten dazu. Und so changieren ihre Bildthemen zwischen christlicher Ikonografie, Gesellschaftskritik sowie Ironie und Satire. Voller Sarkasmus zeigt sie in Die Großmutter (2006) ein Kleinkind, auf dessen Kopf eine Suppenschüssel prangt, die nur allzu sehr gleichzeitig an einen Heiligenschein erinnert. Dieser tragisch-lustige Humor ist tief in der jüdischen Kultur verankert. Man findet ihn auch in der Arbeit von Ovrutschskis Enkeltochter Anna Nero, die gerne in ähnlich doppeldeutiger Manier ihre Sujets arrangiert, letztlich aber der klassischen Figuration und Gegenständlichkeit eine Absage erteilt hat und eigene Wege geht. Dazu aber später mehr.

Tatjana Ovrutschski hingegen lässt immer wieder formal und inhaltlich ihre fundierte Kenntnis um christliche Ikonografie und Kunstgeschichte erkennen und diese Bildtraditionen subtil in ihre vielschichtigen Erzählungen aus der Gegenwartskultur einfließen. Themen wie die Rolle der Frau in der Gesellschaft begegnet sie mit Kritik, Dekonstruktion von Geschlechterklischees und Sarkasmus. Während sich auf einer Frau ein riesiger Berg Geschirr türmt, zu sehen in Hausfrau 2, Jahreszahl, jongliert eine andere mit dem vermeintlichen Ballast aus Mann, Hund und Küchengerät, dargestellt in Hausfrau 1, 2011. Ob es der eigene Mann ist, den die Protagonistin des Bildes Werktitel, Jahreszahl, in einem riesigen Suppentopf kocht, bleibt dem Betrachter überlassen. All diese Frauendarstellungen sind bissige Kommentare auf eigene Lebenserfahrungen, aber auch Beobachtungen aus dem persönlichen Umfeld. Dabei fällt Tatjana Ovrutschski selten ein Urteil oder erhebt den moralischen Zeigefinger. Vielmehr vermittelt sie durch ihre Kunst die Welt, wie ebendiese von ihr als Frau erlebt wird.

Ein kleiner Impuls aus der Natur genügt

30 Jahre lebt Familie Ovrutschski/Neroslavsky nun in der Wahlheimat Frankfurt/Bockenheim. Etwa 150 Meter liegen zwischen der Wohnung Tatjanas und dem Grundstück auf dem Julia Ovrutschski zusammen mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter Anna lebt. Seit der Immigration nach Deutschland hatte die Familie nie ein anderes Zuhause. Lediglich vier Monate verbrachten sie in einer Zwischenunterkunft, so wie es für alle jüdischen Kontingentflüchtlinge damals üblich gewesen war. Dass sie nie den Wunsch hatten, irgendwo anders hinzuziehen, begründet zumindest Julia mit dem idyllischen Kleinod aus Haus, Hof und Gartenatelier, dass sie sich hier schaffen konnten. Sie liebt ihr Nest, sagt Julia und zündet sich eine Zigarette an, während sie an der langen Tafel aus zwei zusammengestellten Tischen in ihrem Atelier sitzt. Darauf sind Farbkleckse soweit das Auge reicht. Seit mehr als 20 Jahren gibt sie hier Malkurse für Jung und Alt, Mappenkurse als Vorbereitung für das Kunst- und Designstudium ebenso wie Keramik- und Skulpturworkshops. Wenn das Wetter stimmt, dann verlässt sie mit ihren Schülerinnen und Schülern gerne das heimelige Atelier- und Gartenhaus, um draußen zu malen, im wildbewachsenen, mediterranen Hof zwischen den zwei Häuschen.

Julia Ovrutschski: ↑ Verdeckte Landschaft, 2017, Öl auf LW, 120 x 100 cm; ↓ Gemini, 2020, gebrannte Keramik, 60 x 30 x 40 cm

An der Wand hinter den Tischen hängen zwei von Julias Bildern. Es sind die für sie typischen abstrakten Stadtlandschaften. Geometrische Kompositionen zwischen Architektur- und Naturdarstellungen. Fassaden und kleine Hügelketten sind in farbige Flächen zerlegt, werden von Diagonalen durchkreuzt. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch ein eigenwilliges Verständnis für Raum und Landschaft aus. Um ihre Inspiration zu entfachen, genügt oft ein kleiner Impuls aus der Natur; ein Lichtreflex, eine Spiegelung reichen bereits aus, um in satten, oft künstlich anmutenden Farben Bildräume entstehen zu lassen, die gleichzeitig vertraut und phantastisch wirken. Kaum hat man einen Pfad, einen Weg oder eine Öffnung gefunden, wird dem Betrachter ein Streich gespielt, wird der Blick versperrt, gebrochen oder gebogen. Bunte Blöcke und Wände schieben sich in offene Landschaften, Häuser bleiben fensterlose Kuben und malerische Gesten brauen sich zu einem bedrohlichen Himmel zusammen. Die anfänglich fröhlich und hoffnungsvoll anmutenden Farben erweisen sich rasch als Täuschung: Sie bilden konfliktreiche Kontraste und tauchen die hier dargestellte Welt in ein artifizielles, übersättigtes Licht.

Selten tauchen Figuren in ihren Arbeiten auf, wenn dann sind sie isoliert und auf sich allein gestellt. Kunstwerke sind Spiegel des Charakters, lässt sich sagen. Von ruhiger, unaufgeregter Natur ist das Wesen Julia Ovrutschskis. Von komplexer, konstruierter Natur und poetischer Qualität ihre Malereien und Skulpturen. Dass sie sich dem Bildthema Mensch und figurativen Darstellungen entsagt, ist, unabhängig vom Charakter, eine emanzipatorische Entscheidung gewesen. Es hat sie viel Mühe gekostet, nicht so zu malen wie ihre Mutter. Dieser Schritt war Teil eines wichtigen Prozesses, der sehr spezifisch ist für Künstlerfamilien, in denen diese transgenerationalen und innerfamiliären, aber rein künstlerischen Problemstellungen, immanenter Bestandteil sind. Welchen Einfluss eine Künstlerin und Mutter auf die Entwicklung des ebenfalls künstlerisch arbeitenden Nachwuchses außerdem haben kann, zeigt sich am Beispiel Keramik. Seit einigen Jahren widmet sich Julia intensiv diesem Medium. Für sie bietet es eine sehr direkte und haptische Arbeitsweise, mit der sie schnell bildnerische Ideen umsetzen kann. Sie modelliert Büsten und Portraits wundersamer Wesen. Immer wieder hat sie vergeblich versucht ihrer Tochter Anna das plastische Gestalten näher zu bringen und sie dafür zu begeistern. Was irgendwann tatsächlich funktioniert hat. Mittlerweile zählen die glasierten Keramikobjekte zu einem nicht mehr weg zu denkenden Teil in Annas Oeuvre.

Frau sein, Migration, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit

Während Julia den Kaffee auf den buntbeklecksten Tisch stellt, ist Anna ein Stockwerk weiter oben, um die Milch zu holen. Im Laufe der Jahre hat Anna das Zimmer im Vorderhaus gegen eine eigene Wohnung im Häuschen gegenüber bezogen und lebt nun eine Etage über dem Atelier ihrer Mutter. Anna war es, die sich der Drei-Generationen-Ausstellung angenommen hat und die Feierlichkeiten um „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zum Anlass nahm, um der Künstlerinnenfamilie mit Ausstellung und Publikation ein Denkmal zu setzen. Die Werkauswahl beschränkt sich bei allen drei Künstlerinnen auf die letzten 10 bis 15 Jahre ihres Schaffens. Einerseits natürlich eine kuratorische Setzung. Andererseits ließe sich eine Retrospektive mit Werken aus den letzten 30 Jahren im Falle von Tatjana und Julia historisch bedingt nicht bewerkstelligen. Auf ihrer Reise von der Moskwa an den Main konnten die beiden jeweils nur eine Hand voll Bilder mitnehmen und haben den Rest hinter sich lassen müssen. Nichtsdestotrotz dauerte es nicht lange, bis Tatjana und Julia auch in Deutschland erste Ausstellungen hatten und so ihre Karrieren als Malerinnen hier fortzusetzen und sich als Künstlerinnen in ihrer neuen Heimatstadt Frankfurt etablieren konnten.

Anna Nero, ↑ Soft Pressure, 2021, Öl und Acryl auf Leinwand, 40 x 30 cm; ↓ Death Wears Velvet, 2020, Öl und Acryl auf Leinwand, 180 x 130 cm; courtesy Galerie Schierke Seinecke, Frankfurt a. M.

Anna Nero, Kurzform von Neroslavsky, dem Namen ihres Vaters, durchbricht als Künstlerin nicht nur die Namenstradition. Sie bricht auch ein wenig mit der Ortsgebundenheit. Ihre bisherige Laufbahn führte sie nach Mainz, Leipzig und Detroit, um sich nun wieder auf die „komplizierte Liebesbeziehung“ zu Frankfurt/Bockenheim einzulassen. Als sie sechs Jahre alt war, wurde Anna von Julia in der Kunstschule angemeldet – vermutlich der Beginn der dritten Malerinnenkarriere in der Familie. Nur um Annas Abiturzeit herum wackelte dieser Gedanke kurz, weil ob um überlegte Journalistin zu werden. Ob das Talent zur Malerin Dank Mutter und Großmutter in die Wiege gelegt wurde oder nicht, die Berufswahl und das Selbstverständnis, Künstlerin zu werden, verdankt sie vor allem dem Umstand, sich ihrer Familie gegenüber nie rechtfertigen zu müssen, was die Profession angeht. Heute zählt sie zu den aufstrebenden Künstlerinnen auf dem nationalen und internationalen Kunstmarkt.

Ihre Bilder kratzen sprichwörtlich an den Oberflächen der Dinge. Ihre malerischen Gesten werden zu Gegenständen und Räumen, deren optische Raffinessen zwischen Plastizität und Zweidimensionalität wechseln. In ihren Mischtechniken variiert sie zwischen pastosem Farbauftrag, glatt-glänzenden Flächen und pointiert gesetzten Pinselstrichen. Zum Einsatz bringt sie dabei Öl, Acryl, Sprühfarbe und Marker und schafft Gebilde von poppiger Banalität. Für ihre hoch-stilisierten Entitäten hat Anna – dank der Beharrlichkeit ihrer Mutter – neben den Malereien die Keramik als Ausdrucksform entdeckt. Sie sind mit Glasur überzogene, dreidimensionale bildnerische „Lustobjekte“, wie entsprungen und losgelöst von den typischen Gitterstrukturen, Mustern und architekturnahen Konstrukten, die sie ihren Bildern visuell unterlegt. Spätestens hier zeigt sich der Bezug zur Malerei von Julia Ovrutschski. In punkto (De-)Konstruktion von Räumlichkeit oder strukturartiger Kompositionshilfen zeigen sich deutliche Parallelen. Bewusst oder unbewusst, das Durchlaufen der „Malschulen“ ihrer Mutter oder gar Großmutter, hat Annas Leben und Wirken entscheidend geprägt.

Wird Anna nach den Gemeinsamkeiten zur Kunst ihrer Großmutter sowie ihrer Mutter gefragt, stellt sie pragmatisch deren Malweisen gegenüber: Tatjana malt figurativ, Anna malt abstrakt, Julia bewegt sich irgendwo dazwischen. Anna erscheint die Kategorisierung der Arbeiten als sehr müßig, Begriffe wie figurativ oder abstrakt sind für sie nicht relevant. Was alle drei Malerinnen verbindet, ist, dass sie die Welt um sich herum durch die Linse der Malerei wahrnehmen und reflektieren. Und diese Wahrnehmung ist geprägt von gemeinsamen Erfahrungen: Frau sein, Migration, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit.

Ziemlich genau 30 Jahre ist es her, als die Künstlerfamilie Ovrutschski/Neroslawsky schon einmal wegen ihrer generationenübergreifenden Professionsausübung im öffentlichen Interesse stand. Damals war es ein junger Journalist, der im Auftrag der amerikanischen Botschaft ein Interview mit Tatjana vereinbarte. In der ehemaligen Sowjetunion war sie eine bekannte Künstlerin und hatte unter anderem von sich Reden gemacht, als sie Teile der Fenster im Moskauer Hauptbahnhof gestaltete, die man bis heute bestaunen kann. Bei deren Umsetzung wurde sie von ihrer Tochter Julia unterstützt, deren Mann Alexander ebenfalls Künstler war und ist. Der Schreiberling besuchte also die renommierte Malerin und ihre imposante Familie im geräumigen Atelier in Moskau. Mutter und Tochter teilten sich den Raum zu jener Zeit, malten Seite an Seite. Auf dem Foto, das der Amerikaner schoss, sind sie alle vereint: Tatjana Ovrutschski, ganz rechts, auf einem Stuhl, an einem ihrer Werke malend. Links, im Vordergrund, posiert Julia Ovrutschski mit Farbpallette und Pinsel in der Hand. Zwischen den beiden Frauen steht Julias Mann, Alexander Neroslavsky. Er hat ein kleines Mädchen auf dem Arm. Anna war damals vier Jahre alt. Auch sie durfte einen Pinsel in der Hand halten. Der Reporter hat bekommen was er wollte: Die Künstlerfamilie ist auf ewig festgehalten, die Geschichte von Mutter, Tochter, Schwiegersohn und Enkeltochter wird geschrieben. Zum Abschied, so wird erzählt, verließ er die Familie mit den Worten: „Irgendwann wird aus der Kleinen vielleicht auch eine Künstlerin.

Fotos: © Alexander Neroslavsky

„Drei – jüdische Malerinnen aus Frankfurt“, Ausstellungshalle 1A, Schulstraße 1a, bis 19. Dezember, geöffnet mittwochs und donnerstags von 14 bis 20 sowie freitags bis sonntags von 14 bis 18 Uhr. Finissage mit Vorstellung des Katalogs am 19. Dezember von 16 Uhr an.

→ s.a.: Von genervten Frauen, tumben Männern und zufriedenen Hunden: Malerei von Tatjana Ovrutschskaja
→ Julia Ovrutschskaja

 

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