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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die 50. Römerberggespräche wollten wissen: Wie steht es um Sprache, Macht und Gerechtigkeit?

Sprache auf dem Prüfstand: Gewolltes, Gemeintes, Gesagtes, Gegendertes

Eine Nachbetrachtung von Uwe Kammann

Die überraschendste Pointe bei diesen Römerberggesprächen zum Großthema Sprache und Macht kam von der Buchautorin und Journalistin Nele Pollatschek. Im von ihr augenzwinkernd-frech geführten Zweier-Streitgespräch mit dem leicht verbiestert wirkenden Sprachwissenschaftler und Hundertzwanzig-Prozent-Genderisten Anatol Stefanowitsch (Freie Universität Berlin) verwies sie bei der Bewertung des generischen Maskulinums (ob nun das weibliche Geschlecht benannt oder lediglich „mitgemeint“ sein müsse), dass dies von den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhänge. In der DDR sei wegen der staatlich gewollten besseren Stellung der Frauen der Status „mitgemeint“ klar gewesen. Und sie selbst, so unterstrich sie, wolle sich auch nicht von sprachlichen Formen als Person dieser oder jener Eigen-Interpretation festlegen lassen. 

Die Journalistin und Autorin Nele Pollatschek; Foto: Uwe Kammann

Als Stefanowitsch vehement sein Modell der Gendersprache verteidigte (bis hin zu neuartigen Formen wie X-Endungen, welche alles Erdenkliche einbeziehen sollen), und als er dies als neues Norm-Vorbild pries, rief sie lachend: „Das glaubtst Du doch selbst nicht“. Wobei er zugab: Im privaten Kreis, da verwende er die extreme Gendersprache nicht (es lohnt sich übrigens sehr, wegen mancher Abstrusität nach Beispielen zu googeln). Aber das Anliegen des allseitigen Einbeziehens sei gut zu begründen, um es dann in der Sprache zu verankern. Und überhaupt: Sprachwissenschaftlich sei das alles ein alter Hut, bestens bewiesen seit vier Jahrzehnten. 

Anatol Stefanowitsch, Freie Universität Berlin, Foto: Uwe Kammann

Soll, muss das so sein, was spricht dafür, was dagegen? Wo verlaufen die Fronten eines Kampfgebietes, dessen Kombattanten an verschieden langen Hebeln sitzen, bei erkennbar unterschiedlich mit Durchsetzungsmacht ausgestatteten Positionen? Wie sieht es aus mit gesellschaftlicher Teilhabe, welche Rolle kommt dabei der Sprache zu? So lautete die übergeordnete Fragestellung dieser Römerberggespräche, in ihrer Jubiläumsausgabe (50.!) wieder ganz körperlich ausgetragen, im voll besetzten Chagall-Saal der Oper. Und zum Themenkreis gehörte natürlich auch: Gibt es – wie auch immer verordnet – Gebote fürs ‚richtige’ Sprechen, gibt es andererseits – unter den Vorzeichen der ‚politischen Korrektheit’  – Verbote, wie beispielsweise bei den Speerspitzen-Igitt-Wörtern namens N und Z (was für Neger und Zigeuner steht).

Aus vielen Medienbeiträgen, aus Leserbriefen und aus der geübten medialen Praxis (selbst Petra Gerster genderte auf einmal in den „heute“-Nachrichten mit dem Binnen-Schluckauf von Bürger//innen, die Moderatenriege in vielen Magazinen ist seit einem Dutzend Monaten voll auf Gender-Glucks-Linie) weiß man: Das ist tatsächlich ein umkämpftes Terrain. Leicht zu erkennen ist auch: Konservativere Positionen sprechen sich gegen den so genannten geschlechtergerechten Sprachgebrauch aus, bei linkeren und vor allem grünen Positionen ist die integrale Sprachverwendung mit der weiblichen Komponente nicht nur Wunsch, sondern auch oft Standard, bei verschiedenen Schreibweisen, vom Binnen-I bis zum Sternchen. Die grün-linke „taz“ war da seit Jahrzehnten Vorreiterin, mit nun sichtbarem Rundum-Erfolg. Und im Zuge von Gleichstellungsbeauftragten an vielen staatlichen Stellen hielt das Gendern auch Eingang in die behördliche Praxis, ob per Erlass, Verordnung, Leitlinie oder (so bezeichneter) Empfehlung.

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani, Migrationsforschung und interkulturelle Studien Universität Osnabrück; Foto: Uwe Kammann

Natürlich kreisten auch die Römerberggespräche das Thema ein, doch nicht mit dem Furor von Nahkampfrittern (*innen?) Ein Verdienst kam dabei gleich dem Auftaktreferenten zu, dem Soziologen Aladin El-Mafaalani (Universität Osnabrück, dort auch auf Migrationsforschung und interkulturelle Studien spezialisiert). Sein Ausgangspunkt: Natürlich sei Sprache ein Instrument der gesellschaftlichen Teilhabe. Die wiederum dadurch gekennzeichnet sei, dass – für ihn eine sehr erfreuliche Entwicklung – in den letzten Dekaden sich eine Menge verändert habe: „Heute sitzen viele Gruppen am Tisch“ (für ihn im übertragenen Sinne der gesamtgesellschaftliche Entscheidungsraum). Was natürlich ein zunehmendes Konfliktpotential beim Konkurrenzanspruch aus unterschiedlichen Interessensansprüchen nach sich ziehe. Klar auch: „Normalitäten gehen verloren; das geht an der Sprache nicht vorbei.“

El-Mafaalani (der nicht gendert) warnte dabei vor zu hohen Erwartungen an die von manchen erhoffte Kraft, über einen veränderten Sprachgebrauch zwangsläufig auch die gesellschaftlichen Verhältnisse schnell und radikal zu verändern. „Sprache ist historisch gewachsen“, sie habe sich in steter Veränderung „so etabliert“. Tiefgreifende Veränderung könne es „vielleicht in Jahrzehnten“ geben.

Paula-Irene Villa Braslavsky (Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilian-Universität München) mit der Moderatorin Hadija Haruna-Oelker; Foto: Uwe Kammann

Das ist eine Zeitlinie, welche Paula-Irene Villa Braslavsky und Gudrun Perko nicht nur nicht behagt, sondern die sie vehement verkürzen wollen, im Hier und Jetzt. Beide Referentinnen – Villa Braslavsky lehrt an der Ludwig-Maximilian-Universität in München Soziologie und Gender Studies, Perko lehrt Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Potsdam und ist dort auch Mitbegründerin des Instituts „Social Justice and Radical Diversity“ – sehen in einem neuen Sprachgebrauch ein notwendiges Vehikel für einen gesellschaftlichen Umbau. Es gehe um eine über Sprache determinierte, neue und gerechtere „soziale Positionierung“ (Villa), im Kern also darum, „anerkannt und als Teil der Allgemeinheit verstanden zu werden.“ Allerdings räumte sie auch ein, dass Sprache eine „eigenlogische Sphäre“ habe, dass sie in vielen Bereichen „unkontrollierbar, überschüssig, unüberschaubar und sehr komplex“ sei, sich dazu in den „Leitplanken von Konventionen“ bewege. 

Gudrun Perko; Sozialwissenschaften Fachhochschule Potsdam, Mitbegründerin des Instituts „Social Justice and Radical Diversity“; Foto: Uwe Kammann

Sie plädierte für eine „ethische Verantwortung des Hinhörens“, für ein aufmerksames Registrieren der Differenzen, ohne sie zu kultivieren. Sprache müsse im Prozess des gesellschaftlichen Aushandelns unter den unterschiedlichsten Konstellationen ein „atmendes Membran“ sein: „Alles ist sagbar“.

Diese theoretische Offenheit ist Gudrun Perko, dies lässt sich als Quersumme ihrer Äußerungen ziehen, sicher zu weit und auch zu weich. Zwar sagte auch sie, es solle nicht um einen „Kampf der Positionen“, sondern um „möglichst viele Perspektiven“ gehen. Doch müsse eine „anerkennende Sprache“ all das ausschließen, was sie – hier ganz in zeitgemäßer Bündelung von Missbilligungseigenschaften – mit vielen Ismen zusammenfasste: vom Antirassismus über den Antisemitismus, den Antikolonialismus bis zum Antiziganismus – nichts fehlt in der (Woke-)Kette, zu der natürlich auch die Islamphobie und Diskriminierungsfreit gehört. In diesen von ihr als verwerflich diagnostizierten sprachlichen Zusammenhängen gebe es „viel zu tun“. Was das ist und worauf das gerichtet ist, wurde in ihrem Referat – das mehrfach um das Ziel von „radical diversity“ kreiste – auch klar benannt. „Wer hier mitmacht, ist in keiner guten Gesellschaft“.

Ein Satz, in dem sich ein gut Teil des Zündstoffs verbirgt, der viel mit dem ausgesprochenen Pro und dem vehementen Wider des sprachlichen Genderns zu tun hat. Denn es ist nicht nur vordergründig eine Frage der Milieus und des dort vorherrschenden Sprachgebrauchs. Wer sich für progressiv hält, wer von der Zurechnung her zu den so genannten Funktionseliten gehört, wer sich zur gesellschaftlichen Avantgarde zählt (tatsächlich ja ein militärischer Begriff, der die Vorhut bezeichnet), wer also Vorhüter oder Vorhüterin sein will im selbstdefinierten und -formulierten gesellschaftlichem Fortschritt, der will die Sprache als wesentliches Instrument (schärfer noch: als Waffe) einsetzen.

Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim; Foto: Uwe Kammann

Dass solche Instrumentalisierungswünsche ganz und gar nichts Neues ist, dass mithin auch der Modebegriff ‚Framing’ (der für eine Deutungsvorgabe per gezielt eingesetzter begrifflicher Muster steht), das arbeitete Henning Lobin heraus. Lobin ist hierzulande in Sachen Sprache eine große Nummer: Seit  2018 ist er Wissenschaftlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim; außerdem ist er Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung sowie verschiedener einschlägiger Beiräte, so des Goethe-Instituts und der Stiftung Wissenschaft und Politik. 

Lobin, das zeigte sich, versteht sich eher als gelassener Beobachter der laufenden Sprachgeschehnisse, in dem die Kombattanten „Feldzeichen“ aufstellten (wie eben die Gendersternchen). Zu den Fragestellungen gehöre, wer „die Treiber des Sprachwandels“ seien, die versuchten, mit „sprachlichen Steuerungsimpulsen“ auf den gesellschaftlichen Prozess einzuwirken, ein Prozess, der nach seiner Auffassung „nicht gesteuert werden kann“. 

Bei der aktuellen „besonderen Sichtbarkeit des Sprachkampfes“ gehe es „um gesellschaftliche Fragen überhaupt“. Zu konstatieren sei allerdings: „Dieser Aushandlungsprozess hat derzeit viel Dynamik“. Ganz wichtig für Lobin: Die deutsche Sprache lässt sich nicht per staatlichem Dekret festlegen, ganz anders als in Frankreich, wo die Sprache „gebaut“ sei und sich via Académie-Diskussionen durch den Staat auf bestimmte Formen fixieren lasse. Zum aktuellen Stand gehört: Gendern an Schulen ist verboten.

Carolin Stix mit der Moderatorin Hadija Haruna-Oelker; Foto: Uwe Kammann

Am Rande übrigens zu notieren: Auf offener Bühne mag nicht jeder mit jedem sprechen. HR-Kulturredakteur Alf Mentzer, wie immer ein präziser und gut strukturierender Moderator – den Parallelpart übernahm Hadija Haruna-Oelker –, erwähnte jedenfalls einige Absagen aufgrund von Animositäten. Hintergründig war zu erfahren: Es handelte sich um vehemente Genderisten, die sich nicht mit der vermeintlich konservativen Seite streiten wollten.

Vermutlich galt dieser vorsorgliche Verdacht dem Redakteur Thomas Thiel (er verantwortet im FAZ-Feuilleton das Ressort Forschung und Lehre) sowie einem Doyen der Geisteswissenschaft, Peter Graf von Kielmansegg, versiert als Jurist, Politologe, Soziologe, dazu publizistisch immer noch vielfach vertreten mit engagierten Essays. Passten die beiden nun ins Feindschema, hätten Hartkern-Genderer ihnen ein ultra-konservativ-Etikett anheften können?

Sicher nicht. Kielmansegg betonte die Zusammenhänge zwischen Sprache und politischen Systemen. Im besten Fall sei Sprache „das Fundament eines demokratischen Gemeinwesens“. Dieses Grundprinzip sei positiv wahrzunemen, führe auch zum Desiderat, dass es „kein verbindliches ‚Framing’“ gebe“: „In einer Demokratie treffen viele ‚Framings’ aufeinander.“ Allein, dies ist für ihn das Ideal, unterlegt zudem durch die Tatsache, dass es in Deutschland keine Instanz gebe, welche Sprache politisch steuert. Allerdings habe er den Eindruck, bezogen auch auf die Heftigkeit der jetzigen Auseinandersetzungen, dass es über Gruppeninteressen den erkennbaren Willen zu „politischen Sprachveränderungen“ gebe.

Thomas Thiel, FAZ-Feuilleton das Ressort Forschung und Lehre im Gespräch mit Peter Graf von Kielmansegg; Foto: Uwe Kammann 

Thomas Thiel vertiefte diesen Gesichtspunkt. Eine „klar erkennbare Funktionselite“ versuche, über Sprache deutlich sichtbare Impulse zu setzen, um eigene Modelle und Interessen durchzusetzen. Was Kielmansegg an anderer Stelle aufnahm. „Wir sprechen partiell in Deutschland schon zwei Sprachen“, befand er, und fügte hinzu: „Viele Menschen haben nicht die Courage, den Veränderungen entgegenzutreten.“ 

Diesen Punkt (Fragetenor: ‚Was darf ich sagen, ohne sofort sanktioniert oder in eine Ecke gestellt zu werden) stellte Thiel mehrfach zur Diskussion: eben im Zusammenhang mit ‚Political Correctness’, mit scharfen Auseinandersetzungen gerade im Kulturbereich, wo es – falls Positionen als missliebig betrachtet werden – bis zu vehement verfochtenen Ausschließungen aus dem Diskurs geht (‚Cancel Culture’). Verwiesen wurde auf das vielzitierte Beispiel, dass ‚Weiße’ nicht die Literatur von  ‚schwarzen’ Autoren übersetzen dürften, weil es sich dann um kulturelle Aneignungen handele. ‚Cancel Culture’, dies wurde deutlich – auch wenn es vehemente Gegenstimmen gab, so von Anatol Stefanowitsch –, gehört zum heutigen Spannungsfeld unbedingt dazu. 

Deutlich wurde: Wo es den unbedingten Willen zu radikalen gesellschaftlichen Veränderungen gibt (wie bei Gudrun Perko, die alle Zielsetzungen unter das Postulat Gleichberechtigung=Gleichheit  stellte), da ist Rigidität nicht weit. Aus dem Publikum gab es Einwände: Was, wenn durch eine komplizierende Sprache nach Gender- und Gerechtigkeitsmustern gerade jene ausgeschlossen werden, die doch mit an den gemeinsamen Aushandlungstisch geholt werden sollen? Al-Malaafi hatte bereits anfangs Provozierendes konstatiert: „Wenn alle mitreden, sinkt zwangsläufig das Niveau.“ Anatol Stefanowitsch fechten solche Argumente nicht an. Er attestiert den Gegnern des Genderns eine solide Ignoranz sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse, weiter eine „moralische Panik“ und „verzerrende Übertreibungen“.

Ob auch die Schönheit der Sprache unter den gesellschaftspolitischen Vor-Zeichen leidet? Für Stefanowitsch wäre das im Zweifel zu verschmerzen und kein tragfähiges Negativargument: die soziale Wirkungskomponente sei wichtig(er), ihr habe sich – aus moralischen Gründen – die Schönheit unterzuordnen. 

Autorin und Theatermacherin Sasha Marianna Salzmann; Foto: Uwe Kammann

Was dabei zu Schaden kommen, was verloren gehen könnte, das zeigte sich von der ersten Minute an im Referat der Publizistin,Theatermacherin und Autorin Sasha Marianna Salzmann (Romane: „Außer sich“, „Im Menschen muss alles herrlich sein“). Sie, in Wolgograd geboren, reflektierte ihr Verhältnis zu Sprachen, natürlich gerade auch in den Bezügen zur eigenen Muttersprache Russisch und ihrer heutigen Alltagssprache Deutsch. 

Ach, welch’ eine bezaubernd-bewegende Sprache, wird die große Mehrheit im Publikum gedacht haben, welches Wunder an Schönheit, an rhythmischer Eleganz, an Wortreichtum und traumwandlerisch komponierten Sätzen. Dürften da Binnen-I, Gendersternchen oder Glottischlag, ob geschrieben oder gesprochen, diese Schönheit stören, gar zerstören? Wahrscheinlich eine rhetorische Frage. Denn schon vorher gab es spontan großen Beifall, als eine Frau aus dem Publikum entschieden forderte: „Ich will sprachliche Ästhetik, sonst führt das zu einer Verarmung“. Sasha Salzmann sagte später: „Bei der komplexen Darstellung von menschlichem Leben geht es um das Empfinden: „Dann stellt sich die Frage nach dem Gendern gar nicht.“

Dass auch abseits der literarischen Sprache sich die Gender-Frage nur mit einigen Relationen stellt, hatte zuvor eine Doktorandin der Rechtswissenschaft an der Universität Frankfurt verdeutlicht, Carolin Stix. Die Rechtssprache habe ihren eigenen Duktus, angestrebt sei Neutralität. Natürlich, auch das Recht transportiere politische Positionen, arbeite zugleich mit vielen unbestimmten Begriffen. Grundsätzlich gelte derzeit: „Das Recht ist ein mächtiges Medium, die Rechtssprache selbst ist im Wandel“. Wichtig sei eine gleichberechtigte Beteiligung an der Debatte, ausgehend von der Feststellung. „Das Recht ist eine vorgelagerte Voraussetzung für Aushandlungsprozesse.“

Der Frankfurter Philosoph Martin Seel; Foto: Uwe Kammann

Auch da wieder: das Passepartout-Wort des Aushandelns. Das dann auch im Schlussreferat des Frankfurter Philosophen Martin Seel auftauchte – ein Referat, das auch gut am Anfang hätte stehen können, um den Diskursraum aufzubauen. Denn Seel schlug den großen Bogen, charakterisierte die Grundelemente jeder philosophischen Betrachtung von Sprache, ausgehend von den intensiv im 18. Jahrhundert aufgenommenen systematischen Reflexionen, gerade auch im deutschsprachigen Raum. Es fielen die großen Namen der so befassten Denker, wie Herder, Hegel, Humboldt. 

Gemeinsames lässt sich, das zählte zu den Quintessenzen, umkreisen. So beispielsweise: Sprache bedeutet Spielräume, bietet eine „Freiheit der Arena“ (Herder). Zugleich, so betont Seel, greift sie in Lebensformen ein, besteht auch aus Paradoxien, indem sie nicht nur Füllhorn sei, sondern auch Büchse der Pandora. Immer auch gehe es um Machtverhältnisse (in der heutigen Sprachdebatte besonders sichtbar), wobei – dies hatte ja schon Kielmansegg betont – „das Reich einer lebendigen Sprache die Demokratie ist“, in großer Offenheit und einer lebendigen Entsprechung: „Sprache lässt sich nicht   bändigen“.

Seel plädierte angesichts eines Grundbefunds – „innerer Widerstreit gehört zum Naturell der Sprache“ für eine Balance, sprach sich aber auch klar gegen eine Reglementierung der Dynamik in der sprachlichen Entwicklung aus; allerdings, im gleichen Atemzug warnte er vor Rigorismen und Übertreibungen auf den verschiedenen Seiten der Streitenden, die es ohnehin mit einer Fülle von Unterscheidungen zu tun hätten, in einem Spannungsfeld von affirmativ und kritisch, vom Bewahrungs- und Änderungswillen. Seinen summierten Rat fasste Seel in einem sprachlich raren und schillernden Begriff zusammen: „Okkasionalismus“ – fußend eben auf dem Aushandeln.

Ein persönliches Fazit

Ob das Publikum mit Seels abschließender (Zauber?-)Formel etwas anfangen kann? Ob es diesen Fingerzeig – der ja wohl bedeutet: sich je nach Gelegenheit den Situationen anzupassen – beherzt als Königsweg  versteht, im zugespitzten Streit um das richtige, das angemessene, das probate Sprechen und Schreiben? Ob es die darin angelegte Freiheit goutiert, eine Freiheit, die eben das Gegenteil aller geregelten Sprachwelten ist, mit denen vorzugsweise Diktatoren ihre Gesellschaftsbilder und –modelle etablieren und befestigen wollen? Sind wir ausreichend gefeit gegen die lügenimprägnierten Neusprechs dieser Welt, wie sie Orwell in unübertrefflicher Klarheit als Menetel in „1984“ beschrieben hat?

Aber es gibt natürlich noch eine Fülle weiterer Fragestellungen – wie jene nach der ‚Tonalität’ der Sprechakte (von beherrschend-dröhnend über schneidig-kalt bis einfühlsam-zärtlich); wie jene nach der Veränderung der Jugendsprachen und Milieujargons; wie jene nach den mit politischen Vorzeichen operierenden Sprachkampagnen des Unworts oder des Wortes des Jahres; wie jene nach den Motivationszielen und den Blasenbildungen beim Gebrauch des Englischen (welche Kunst- und Kulturinstitutionen verzichten überhaupt noch auf englische Titel und Markierungen?); wie jene nach dem institutionellen Wandel, wenn eine Einrichtung wie die Deutsche Bahn einen offen (Werbe-)Brief von den Vorständen mit „herzlichst“ unterschreiben lässt, während noch vor zwanzig Jahren ein „hochachtungsvoll“ die Regel war; wie jene nach der oft inhärenten Militanz gerade bei Sprach-Aktivistinnen; wie jene nach ähnlichen oder vergleichbaren Sprachkämpfen im Ausland (was machen beispielsweise die französischen Frauen, wenn dort ‚homme’ mit ‚Mensch’ und ‚Mann’ gleichbedeutend ist?). Undund …

Insofern, leicht zu erkennen: Die Römerberggespräche waren stark auf Gendern und Sprachgerechtigkeit konzentriert, streiften aber polarisierende Fragestellungen nur am Rande. Beispielsweise jene nach den Konsequenzen, wenn für das gegenseitige Verständnis notwendige Gemeinsamkeiten verlorengehen, wenn viele Sprechende/Schreibende auf ihrer höchst individuellen Identität bestehen und dies auch ausgedrückt sehen/hören wollen. Beim ohnehin vorhandenen Paradox, dass einerseits Fragen nach der Herkunft und Eigenart als diskriminierend angesehen werden, andererseits aber gerade solche Eigenheiten und Eigenschaften – wie Herkunft, Geschlecht, Hauptfarbe, Orientierung – als konstituierend für die eigene Person und die umgebende Gruppe angesehen und verteidigt werden (bei Nele Pollatscheck klang das an, wurde aber nicht weiter aufgegriffen). 

Kulturdezernentin Ina Hartwig; Foto: Uwe Kammann

Wie steht es um das Argument, hier wollten zahlenmäßig ziemlich begrenzte Funktionseliten (die sich selbst so verstehen, mit viel Eigen-Zuwendung und Weisungsarroganz) ihre Modelle und Vorstellungen (politische, kulturelle, gesellschaftliche) einer weit größeren Mehrheit aufdrücken und für verbindlich erklären, nicht zuletzt durch fortdauernde Musterbildung, im Vertrauen auf einen Gewöhnungsprozess? Es war im weiteren Sinne eben bezeichnend, dass Kulturdezernentin Ina Hartwig in ihrem einführenden Grußwort die Philosophin Simone Weil mit einer Aussage zitierte, über die lange nachzudenken sich lohnt. Sinngemäß: Das Unglück der Arbeiter bestehe vor allem darin, dass sie keine Sprache für ihr Unglück hätten.

Schon in einem solchen (wahrscheinlich bestens gemeinten) Ansatz steckt eine Verengung, auch eine gehörige Überheblichkeit. Denn angenommen und konstituiert wird darin eine Gruppenzugehörigkeit, deren Status vermeintlich nicht die richtige, die angemessene Sprache erlaubt: Behauptet wird sprachliche Unfähigkeit. Vollkommen ignoriert wird dabei, dass auch Menschen mit gleichem Lebens-, Arbeits- und Gruppenstatus nicht alleine über solche Zugehörigkeiten oder Zuordnungen definiert werden können; dass auch sie höchst unterschiedliche Individuen sind, dass sie für ihre vielen persönlichen und gesellschaftlichen Lebenserfahrungen durchaus auch jeweils angemessene Sprechformen finden, dass auch dort Glücksmomente nicht rarer sein müssen als an anderer Stelle: Das alles blendet in Verdikt wie jenes von Weil aus. Und führt damit schlicht zu dem, was vorgeblich vermieden werden soll: einem Akt der Bevormundung (darin steckt ja: ich spreche für dich, ich leihe dir meinen Mund, richtiger: ich spreche dir das eigene Sprechen schon als Grundfähigkeit ab). 

Diese heftige Neigung zur Bevormundung ist womöglich die größte Gefahr, gerade bei Medienvertretern, die natürlich weit entfernt sind von der Gleichberechtigung, wie sie auf der Tagung idealiter und exemplarisch Paula-Irene Villa Braslavsky und Gudrun Perko gefordert haben. Weit entfernt? Ja, denn sie haben die Vor-Macht der Mikrophone, der Podien, der Portale, der Print-Medien. Natürlich, die früheren medialen Einbahnstraßen und Flaschenhälse sind inzwischen ergänzt durch die vielfältigste Individual-Kommunikation im Jederzeit und Überall von Allen. Doch die kommunikative Potenz ist auch im Mega-Medium des Netzes immer noch sehr unterschiedlich.

Mithin: Stoff für die nächsten Römerberggespräche gibt es unter solchen Fragezeichen mehr als genug. Und zwischendurch empfiehlt sich ein Dokumentarfilm, in dem Torsten Körner in meisterhafter Komposition belegt, wie die Bonner Republik sich von einer reinen Männergesellschaft der „Schwarzröcke“ in den 50er Jahren beträchtlich weiterentwickelt hat in Richtung einer offenen, pluralen Gemeinschaft –  als Folge einer zunehmenden politischen Präsenz sehr starker Frauen (welche dieses Ziel und die notwendigen Wege in eindrucksvollen Interviews belegen). Am Schluss stellt Rita Süssmuth, langjährige Präsidentin des Bundestages, ganz nüchtern fest: 

„Es muss geschmeidig wirken, aber hart umkämpft werden. Ich  weiß, dass das Wort ‚kämpfen’ unter Frauen und schon gar nicht in der Mann-Frau Relation das richtige Wort ist. Aber es ist die richtige Tat.“

 

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