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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Herta Müllers „Atemschaukel“ auf der Bühne des Schauspiel Köln

Spürbare Kälte

von Simone Hamm

Die nach Novo Gorlawka deportierten Lagerinsassen, allesamt Rumäniendeutsche, werden in der Sylvesternacht geweckt. Sie sollen einen Graben in den gefrorenen Boden hauen. Jeder glaubt, er schaufele sein eigenes Grab.

„Atemschaukel“ von Herta Müller; Regie: Bastian Kraft; Foto: Birgit Hupfeld / Schauspiel Köln

Das ist eine der grausamsten Episoden in dem an Grausamkeit nicht armen Roman „Atemschaukel“, von Herta Müller. Er beruht auf den Erfahrungen des Schriftstellers Oskar Pastior. Bastian Kraft hat “Atemschaukel“ für die Bühne adaptiert. Im Schauspiel Köln war die Premiere. Kraft hält sich eng an die Romanvorlage, übernimmt etliche von Herta Müllers gewaltigen Wortschöpfungen wie etwa „Hungerengel“.

Der Deportierte Leopold Auberg wird von vier Schauspielern und zwei Schauspielerinnen gespielt. Den jungen, 17-jährigen spielt Justus Meier. Er sitzt in einem hohen, verspiegelten Glaskasten und filmt sich. Die Bilder werden live auf eine große Leinwand übertragen. Leopold war nicht unglücklich als er erfuhr, dass er ins Lager musste. Heimlich hatte er sich im Park mit Männern getroffen in der kleinen Stadt, in der alle Steine Augen haben.

Martin Reinke spielt den Leopold mit 57, der sich erinnert. An Heimweh und Angst, vor allem aber an Hunger. Über dem Lager schwebt der Hungerengel.

Bastian Kraft sind starke Bilder gelungen: Wenn die Gefangenen Schlacke schippen, sieht man sie unter glitzernden Decken liegen. Schnee rieselt auf die Bühne. Leopold im Glaskasten wird fast vom Schnee verschluckt. Kühlschränke werden herbeigeschleppt. Der Hungerengel hängt unter der Decke und hebt eine große Plastikplane. Eis. Die Kälte wird fast spürbar.

Leopold Auberg schleppt Zementsäcke, die Löcher haben, gräbt Kartoffeln mit der bloßen Hand aus, schlägt mit den anderen auf einen ein, der die Brotration eines anderen gestohlen hat. Erschlägt ihn fast.

Dazu drischt ein anderer Darsteller des Leopold (Stefko Hanushevsky) wie ein Rasender mit einem dicken Seil auf einen Kühlschrank ein. Beulen bleiben.

„Atemschaukel“ von Herta Müller; Regie: Bastian Kraft; Foto: Birgit Hupfeld / Schauspiel Köln

Im Lager werden die Menschen entmenschlicht. Einzig einer jungen Behinderten helfen sie. Sonst ist jeder sich selbst der nächste. So werden die wenigen glücklichen Momente zu ganz besonderen: So, als der Aufseher Leopold erlaubt, so viel Kartoffeln mitzunehmen, wie er tragen kann. Oder als Leopold Geld findet und sich auf dem Markt etwas zu essen kauft und alles sofort verschlingt, so dass ihm schlecht wird. Als eine alte Frau (Birgit Walter) ihm ein Taschentuch schenkt, weil er sie an ihren Sohn erinnert. Das ist ein Augenblick der Liebe.

Dann ist da wieder der Hungerengel. Er erscheint auch als Schattenriss.

Bastian Kraft bringt Herta Müllers Metaphern gekonnt auf die Bühne. Ein verstörender Abend, der niemanden kalt lässt.

SCHAUSPIEL KÖLN
Schanzenstrasse 6 – 20
51063 Köln

Nächste Vorstellungen: am 2., 9., 12., 24. November und am 11. und 30. Dezember 2021

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