Johan Simons leise Inszenierung des „Oedipus“
„Ödipus, Herrscher“ nach Sophokles am Bochumer Schauspiel
Von Simone Hamm
Blutrot ist die Bühne, der Boden wirkt spiegelglatt. Wie Schattenrisse stehen im Hintergrund schwarze Figuren. Das ist Nadja Ehlers karges beeindruckendes Bühnenbild. Ein schwarzer Vogelschwarm wird auf den roten Hintergrund projiziert. Die Musikerin Mieko Suzuki schafft die passende Musik dazu mit Schlagwerk und Elektronik: Das zirpt und surrt und knistert und bäumt sich auf und kann zu lautem Trommelwirbel werden.
So beginnt Johan Simons Inszenierung von Oedipus. Die Beobachtung des Vogelflugs ist eine alte Orakeltechnik. In Theben wütet die Pest und die Menschen befragen das Orakel. Erst wenn der der Tod des König Laois gesühnt sei, werde das große Sterben aufhören, antwortet es.
Oedipus, Herrscher von Theben tritt an die Rampe, Seven Scharf, im dunkelblauen Anzug überm bloßen Oberkörper befragt das Publikum: gibt es Zeugen, Ideen, Indizien? Die Zuschauer schmunzeln, denn sie wissen ja, dass niemand anders als Oedipus Laios Mörder ist. Und damit wissen sie mehr als er. Das Publikum wird zum Chor.
Das Orakel von Delphi hatte König Laios, geweissagt, dass sein erstgeborener Sohn ihn töten und seine Frau heiraten werde. Deshalb übergibt Laios seinen Sohn Oedipus einem Hirten mit den Auftrag, den Knaben zu töten. Doch der bringt das nicht übers Herz und Ödipus wird schließlich zu einem anderen Königspaar gebracht und wächst dort, im Glauben, er sei dessen Sohn, auf.
Als er erfährt, dass die vermeintlichen Eltern nicht seine richtigen Eltern sind, macht er sich auf nach Theben, gerät auf dem Rückweg in einen Kampf, tötet den Kontrahenten, der niemand anders ist als Laios, sein Vater, zieht in Theben ein, heiratet Jokaste, seine Mutter.
Elsie de Brauw, die auch die Jokaste spielt, hat mit Mieke Koenen und Susanne Winnacker eine neue Version von Oedipus geschrieben: „Ödipus, Herrscher“. Hier steht neben Oedipus auch Jokaste im Mittelpunkt.
Oedipus will das Rätsel unbedingt lösen. Jokaste, die mehr ahnt als er, will ihn davon abbringen. Sie hat sich ganz gut eingerichtet mit ihrem zweiten Mann. Vier Kinder haben die beiden und glücklich sind sie. Dass der Mann auch der Sohn ist, scheint sie nicht zu stören.
Johan Simons Inszenierung ist wunderbar leise, fast traurig. Selbst wenn Oedipus wütend den Tod des Sehers Theiresias verlangt, steht sein Unglück im Vordergrund, nicht seine Wut. Der großartige Pierre Bokma spielt diesen Seher im schwarzen Rüschenkleid. Er läßt sich nicht einschüchtern. Die Wahrheit bleibt die Wahrheit.
Auch der Hirte (Risto Kübar), der den Knaben von einst am Leben weiß, wird befragt. Er windet sich, aber Oedipus holt die Wahrheit aus ihm heraus.
Dann greift Oedipus Kreon, Jokastes Bruder an. Schielt er nach dem Thron? Kreon ist völlig unbeeindruckt. Er habe alles, was er wolle und zwar ohne das Joch, herrschen zu müssen. Stefan Hunstein ist ein rationaler, kluger Kreon.
Elsie de Brouw in beigen Hosen und roter Seidenbluse mit Schleife, ist die perfekte Unternehmerin. Sie will ihr Reich, ihren Haushalt zusammenhalten. Doch auch sie kann die Wahrheit nicht aufhalten. Oedipus blendet sich selbst und aus blutigen Augen ruft er seiner Mutter, seiner Frau zu, sie solle sich erhängen. In Bochum tut Jokaste das nicht. Ungläubig fragt sie Oedipus: „Ich?“
Klug hat Simons alle Anspielungen auf die moderne Pest, Corona, Klimawandel, Flüchtlingselend unterlassen. Tiefe Traurigkeit umgibt die Protagonisten. Sie sind schuldig geworden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Aber: sie machen sich auch etwas vor. Sie verharren gerne im Stand der Unwissenheit. Sie haben Dinge verdrängt wie der Seher und der Hirte oder wollen einfach so weiterleben wie bisher, als die Gefahr unübersehbar geworden ist, wie Jokaste.
Johan Simons hat ganz auf das Wort gesetzt. Das kann er auch mit dem phantastischen Bochumer Ensemble. Der zweistündigen Theaterabend vergeht wie im Flug.
Nächste Aufführung im Schauspielhaus Bochum:
01/11
19:00 – 21:00 Uhr
https://www.schauspielhausbochum.de