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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Tempo! Alle Zeit dieser Welt“- Eine zeitgemäße Ausstellung im Sinclair-Haus

U(h)r-Zeit und Lebens-Zeit am Puls der Zeit

von Petra Kammann

Eine Ausstellung im Bad Homburger Sinclair-Haus geht dem Phänomen Zeit nach, den Geschwindigkeiten in der Natur und der Rolle des Menschen als Initiator und Opfer der Beschleunigung. Und das in Kunstwerken von Carl Bössenroth, Tega Brain und Sam Lavigne, Johanna Domke, Mark Formanek, Oliver Gather, Jeppe Hein, Tehching Hsieh, Sanja Ivekovic, Simone Kessler, Cesar Kuriyama, Claude Lelouch, Joana Moll, Rachel Sussman und Melanie Wiora sowie in Objekten aus der Kulturgeschichte, dem Alltag und den Wissenschaften…

Blick in den oberen Ausstellungsraum: Wo der Hahn kräht, der Wecker klingelt oder der Flieger gleich abhebt, wenn schlafende Menschen auf dem Flughafen warten wie im Video „Sleepers“, 2017  von Johanna Domke; Foto: Petra Kammann

Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt/ Läuft die Zeit; wir laufen mit“ heißt es bei dem Humoristen Wilhelm Busch, während unser Klassiker Goethe am liebsten die Zeit anhalten möchte, wenn er im Faust zu Mephistoles sagt: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! “ Doch was hat es denn mit diesen besonderen Momenten, von denen der Dichter im „Faust“ spricht, auf sich? Die Magie eines Augenblicks kann so stark werden, dass wir uns außerhalb von Zeit und Raum empfinden, weil alles still zu stehen scheint und sich die Welt nur noch um unsere eigene Mitte dreht.

Ganz anders jedoch erlebt man den Zeitdruck, wenn man in der Bad Homburger Ausstellung „Tempo! Alle Zeit der Welt!“ mit Claude Lelouchs im Jahr 1976 gedrehten Film „C’était un rendez-vous“ in mörderischem Tempo morgens in aller Herrgottsfrühe im Affentempo quer durch Paris rast, sich mit den quietschenden Reifen in die Kurve legt, mitzittert, es möge bei dem Autorennen nur ja keiner zu Schaden kommen, wenn er gerade im Wege steht. Am Ende führt das atemberaubende Hetz- und Seherlebnis ohne Schnitt nicht zu einer Herzattacke, sondern man ist erleichtert, weil der Fahrer seine Geliebte auf dem Montmartre dann doch noch erwischt. Ein Kick, der auf heutigen Autobahnen nicht immer so positiv ausgeht!

Wo steht der Mensch heute, wo er zugleich Verursacher und Opfer der Beschleunigung ist? Immer schneller wollen wir Orte erreichen, sei es mit dem Flieger, dem schnellen ICE, per WhatsApp zu jeder Zeit unsere Mitmenschen erreichen. Wir bewegen uns mit erhöhtem Tempo auf eine Instantkultur zu. Oder haben wir noch die Zeit, Dinge reifen zu lassen, sehnsüchtig einen Brief zu erwarten? Immerhin hat uns die Pandemie eines Besseren belehrt trotz unseres alltäglichen Geschwindigkeitswahns, viel in kurzer Zeit zu erledigen, um danach so etwas wie Leere zu empfinden. Plötzlich waren wir förmlich gezwungen, uns dem qualitativen Moment der Zeitdauer auszuliefern und uns auf einen anderen, einen verlangsamten Lebensrhythmus einzustellen..

La Llareta #0308-2B31 (bis zu 3.000 Jahre alt; Atacama Wüste, Chile), 2008, Fotografie:© Rachel Sussman

Die amerikanische zeitgenössische New Yorker Künstlerin und Fotografin Rachel Sussman spürt die ältesten lebenden Organismen in ihren Fotografien auf, arbeitet gar mit Biologen, um das vorherige Leben von Lebewesen  und Pflanzen zu dokumentieren, beispielsweise das einer ca. 9.550 Jahre alten Fichte. Ein anderes ihrer großformatigen Fotos zeigt die Llareta – ein dichter Busch in den Hoch-Anden, der normalerweise extrem langsam wächst und sich organisch bis zu 35 Quadratmetern ausdehnt. Wegen ihrer dicht beieinander liegenden Äste ist ihr Wachstum dem extremen Hochgebirgsklima angepasst und wirkt ausgleichend. Da aber die Menschen die Llareta als Brennholz verwenden, ist die Zahl der Llaretas stark zurückgegangen. Susmanns nimmt hier mit ihrer Fotografie sowohl eine dokumentarische als auch eine kritische Aufgabe wahr.

Die Bad Homburger Ausstellung blickt in die Gegenwart menschlicher, künstlerischer, pflanzlicher, technischer und molekularer Tempi und findet diese nicht nur in den Artefakten, sondern auch in Erdfunden oder Alltagsgegenständen wie zum Beispiel in den verschiedenen Ausprägungen und Designs von Weckern, die es seit Beginn des industrialisierten Zeitalters gibt. Drei Themenfelder hat die Schau dabei in den Fokus gerückt: 1. die Tempi des Kohlenstoffkreislaufs, die untrennbar mit der „großen Beschleunigung“ menschlicher Aktivitäten verknüpft sind, 2. die Gegenüberstellung der Tempi menschlicher und nichtmenschlicher Lebenszeiträume und 3. den menschlichen Körper als Sitz unserer Empfindung für Geschwindigkeit, der gleichzeitig so etwas wie die Bremse der individuellen Beschleunigung ist. Die Notwendigkeit, zu atmen und zu schlafen, zieht da natürliche Grenzen.

Ein Modell der wichtigsten Kreisläufe des Lebens auf der Erde, von denen auch unser Leben abhängt, im Glas. „Hermetospähre“. Ulf Soltau stellt 2021 das Leben in Kreisläufen dar mit Glas, Pflanzen, Substrat; Foto: Petra Kammann

So anspruchsvoll wie anschaulich zieht sich durch das Untergeschoss des Sinclair-Hauses ein anderer roter Faden durch in Form von an die Wand geschriebenen Zitate des italienischen Schriftstellers Primo Levi (1919 – 1987), dass Leben Austausch und Verwandlung bedeute. Der einstige Chemiker hatte 1975 für sein Buch „Das periodische System“ ein Kapitel über das Kohlenstoffatom geschrieben, in dem er Zusammenhänge zwischen einem einzelnen Leben, der Weltgeschichte und chemischen Verbindungen herstellt. Dem werden dann in der Schau verschiedene Exponate zugeordnet.

Im Verlauf der Erdgeschichte sieht Levi den Kohlenstoff, der seit Jahrmillionen in Kalkstein gebunden ist und mehrfach durch Photosynthese andere Organismen wieder freisetzt, als Metapher für die Ewigkeit und Vergänglichkeit. Solche Textpassagen geben den ausgestellten Objekten, die häufig aus einem naturwissenschaftlichem Umfeld kommen, neue Denkanstöße. Da führt uns zum Beispiel ein Filmprojekt der NASA „A Year in the Life Of Earth’s CO2“ vor Augen, wie Kohlendioxid sich innerhalb eines Jahres in der Atmosphäre um den Globus bewegt, und ausbreitet, weiterhin, dass zum Beispiel im Winter die Emissionen höher als im Sommer sind, da die Photosynthese-Aktivität der Pflanzen in der nördlichen Hemisphäre niedriger als im Frühjahr und Sommer ist.

„In die Welt der veränderlichen Dinge“ und damit in ein Kalkwerk ins Erzgebirge führt uns eine eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Fotografie von Hans Reinecke aus dem Jahre 1982. Andere Objekte wiederum machen uns bewusst, dass der Co2-Ausstoß durch die Zerstörung der Natur und die damit verbundene Erderwärmung rapide zugenommen hat und die Pariser Klimaziele kaum mehr erreichbar sind.

Direktorin Kathrin Meyer animiert die Besucher, eigene Spuren zu hinterlassen; Foto: Petra Kammann

Um sich intensiv mit dem Thema der sich verändernden Natur zu beschäftigen, konnte das Sinclair-Haus hier auch auf Exponate des Senckenberg Museums zurückgreifen wie auf einen Stromalith, ein Sedimentgestein aus der chinesischen Provinz Shandong, der zu den ältesten Lebensformen auf unserem Planeten zählt. Seine Geschichte begann vor etwa 3,5 Milliarden Jahren, als blaugrüne Bakterien (Cyanobakterien) die Photosynthese „erfanden“:  indem sie Sonnenlicht, CO2 und Wasser in Zucker verwandelten und  dabei Sauerstoff freisetzten.Viele Generationen siedelten in Schichten übereinander und fällten Kalk aus…

Etliche der Exponate setzen ein naturwissenschaftliches Verständnis voraus, sind damit aber in der aktuellen Klimadebatte auch am Puls der Zeit. Eine leichter zugängliche Arbeit ist zweifellos die von Jeppe Hein. Und sie lädt ein, dem Lebenskräfte raubenden Tempo aktiv etwas entgegenzusetzen. Es ist eine Einladung, sich ganz auf den eigenen Atem und den inneren Rhythmus zu konzentrieren und damit den Geist zur Ruhe zu bringen, in dem man sich während des Ausatmens mit einem einen blauen langen Pinselstrich auf einer weißen Fläche verewigt:“Breathe with me“ nannte Jeppe Hein diese entspannende Gemeinschaftsaktion, verbindet uns doch der Atem mit der Luft, mit der Welt, mit anderen Menschen und Lebewesen. Hein selbst hat nach einem Burnout seine eigene Krise bewältigt und diese uralte meditative Technik 2019 bei der UN-Klimakonferenz in New York angewendet. Und auch hier greift die Erfahrung: Zeit ist nicht etwa Geld, sondern Welt.

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Jeppe Hein. An art project by Jeppe Hein und ART 2030.“Breathe With Me“ in New York City, 2019; Foto: Jan Strempel / Studio Jeppe Hein

 

DIE AUSSTELLUNG

„Tempo! Alle Zeit dieser Welt“
Museum Sinclair-Haus
Löwengasse 15, Eingang Dorotheenstraße
61348 Bad Homburg

bis 6. Februar 2022

Programm und Vermittlung
Die Ausstellung wird von einem interdisziplinären Programm begleitet. Führungen, philosophische Streifzüge und Vermittlungsangebote vor Ort werden ergänzt durch digitale Formate. Ab September geht jeden Monat ein Teil einer 3-teiligen Podcast-Reihe online: Reportagen und Gespräche mit Wissenschaftler:innen erkunden individuelle und ökologische sowie geologische Dimensionen der Geschwindigkeit.

In der Veranstaltung „Gartenzeit“ erfährt man bei den Hochbeeten im Museumshof mit Künstlerin und Permakulturgärtnerin Ilka Schön mehr über Tempi von Pflanzen und Menschen, über Kreisläufe und Jahreszeiten. Bei dem literarischen Rundgang „Spazieren – macht Gehen glücklich?“ mit dem Garten- und Parkführer sowie Literaturkenner Mikael GB Horstmann geht es um den menschlichen UmGang mit Zeit und Raum. Den Audiowalk „A Walk in the Park“ der Musikerin und Performerin Lisa Stepf kann man als Audiodatei herunterladen und damit einen Spaziergang in verschiedenen Tempi und mit allen Sinnen erleben. Musikalischer Ausgangspunkt sind die Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach, eingespielt von argovia philharmonic (Aarau).

Besucher-Service:
T: +49 (0)6172 5950 500 , museum@kunst-und-natur.de
Öffnungszeiten:
Di 14–20 Uhr, Mi–Fr 14–19 Uhr, Sa, So und an Feiertagen 10–18 Uhr (25.12., 26.12. und 1.1.22 12–18 Uhr); montags sowie am 24.12. und 31.12. geschlossen
Für den Museumsbesuch gelten die aktuellen Corona-Regeln: museum-sinclair-haus.de/besuch

Die Arbeit von Jeppe Hein entsteht durch die Mitwirkung der Besucher und Besucherinnen, jeweils mittwochs  von 14 – 19 Uhr, samstags und sonntags von 11 – 16 Uhr

 

 

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