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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Briefe des Kritikers, Übersetzers und Publizisten Walter Boehlich, präsentiert im Holzhausenschlösschen

Überzeugungstäter mit spitzer Feder

Walter Boehlich,“Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen“. Briefe 1944 bis 2000

Von Petra Kammann

Eine vergnügliche Buchpremiere, bei der ein ganzer Kosmos der Intellektuellenszene der alten Bundesrepublik in Frankfurt wieder auflebte: gleich ob mit Peter Suhrkamp, Siegfried Unseld oder Theodor W. Adorno, mit Autoren wie Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Martin Walser oder Wolfgang Koeppen. Nicht zuletzt blitzte ein Ausschnitt aus der Geschichte der Familie Boehlich auf in einem Brief an die „Liebe Mama“ in Theresienstadt. Der stimmte eher nachdenklich und war doch die Grundlage für eine angebrachte Skepsis der Nachkriegsgeschichte.

Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Walter Boehlich, Sohn des Schriftstellers Ernst Boehlich, 1953 in Aarhus, wo er von 1951 bis 1954 als Lektor für deutsche Sprache an der Universität tätig war©Familienarchiv

Weggefährten wie Monika und Klaus Reichert hatten sich im Holzhausenschlösschen eingefunden. Hermann Treusch – als  Regisseur und Schauspieler in Frankfurt kein Unbekannter, war er doch der künstlerische Leiter im TAT und Nachfolger von Claus Peymann, – las dort eindrücklich die Briefe des sprachmächtigen wie scharfzüngigen und gewitzten Literaturkritikers, Verlagslektors, Übersetzers und Herausgebers Walter Boehlich, die dieser zwischen 1944 und 2000 an seine profilierten Zeitgenossen, vorzugsweise an Autoren und Verleger, schrieb.

Prof. Klaus Reichert, ein „Homme de lettres“ par excellence, Übersetzer, Lyriker und Essayist, Lektor und früherer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, war der Lesung gefolgt; Foto: Petra Kammann

Erschienen war die Briefauswahl anlässlich seines hundertsten Geburtstags am 16. September im Verlag Schöffling & Co. Die darin enthaltenen so brillant formulierten 211 Briefe Walter Boehlichs, darunter viele nie publizierte, heute, im Zeitalter oft banaler WhatsApp-Kurzmitteilungen, zu lesen, ist ein wahres Vergnügen. Man kann sie sich nacheinander vornehmen oder sich einzelne Adressaten herauspicken, man ist nie enttäuscht. Da schreibt sich einer kenntnisreich und selbstbewusst in die Stärken und Schwächen hochsensibler Persönlichkeiten ein und lässt sie wieder lebendig werden.

 

Die Herausgeber Wolfgang Schopf und Christoph Kapp; Foto: Petra Kammann

Dem persönlichen, teils unbarmherzigen, aber auch anteilnehmendem Blick Walter Boehlichs scheint nichts zu entgehen. Dieser Briefschatz, der ansonsten im Universitätsarchiv Frankfurt ruht und einem anderen kleinen Teil, der im Familienarchiv aufbewahrt wird, konnte dank der akribischen Arbeit der beiden Herausgeber, dem Potsdamer Literaturwissenschaftler Christoph Kapp und Wolfgang Schopf, Leiter des Literaturarchivs der Frankfurter Goethe-Universität, gehoben werden. Briefe, die Boehlichs Lektoratszeit zwischen 1957 und 1968 betreffen, liegen indes mit anderen Suhrkamp-Dokumenten im Siegfried-Unseld-Archiv im Marbacher Literaturarchiv.

Begrüßung an Verlegers statt: Sabine Baumann; Foto: Petra Kammann 

Sabine Baumann, leitende Lektorin des Schöffling-Verlags und Vorsitzende von Frankfurt liest ein Buch, begrüßte am Abend der Buchpremiere das Publikum statt des angekündigten und kurzfristig erkrankten Verlegers Klaus Schöffling, auch er ein früherer Suhrkamp-Lektor. Sie dankte allen für das Zustandekommen des aufwändig gestalteten Projekts, allen voran dem Großneffen Walter Boehlichs. Er sei bei allen Komplikationen, welche die Herausgabe von Manuskripten so mit sich bringt, auch sehr kooperativ gewesen.

Autorenverlagmitgründer Karlheinz Braun, Foto: Petra Kammann

Karlheinz Braun, ebenfalls eine Frankfurter Institution, steuerte zur Begrüßung der Anwesenden eine Anekdote bei und stellte u.a. den eher unbekannten Zwilling Walter Boehlichs vor, seinen Bruder Wolf nämlich, der ein „ehrbarer Hamburger Kaufmann“ gewesen sei. Vom Suhrkamp Verlag hatten sich 1968 Lektoren wie Klaus Reichert, Urs Widmer, Peter Urban, Cheflektor Walter Boehlich gelöst, um mit Braun als Delegiertem einen eigenen Verlag zu gründen. Der erwähnte Bruder hatte den Autoren einen Kredit in Höhe von 25. 000 Mark gewährt, um damit im Kampf um Demokratisierung der Verhältnisse im Verlag und im Sinne intellektueller Unabhängigkeit auch die wirtschaftliche Basis für die Gründung des Autorenverlags sicher zu stellen.

Als die Autoren nach zwei Jahren die Summe auf Heller und Pfennig zurückzahlen wollten, war für Wolf Boehlich das Geld längst „abgeschrieben“. Vorausschauend riet er ihnen, die Summe als Anzahlung für die Gründung einer Stiftung zu verwenden, woraus dann 1973 auch die erfolgreiche Autorenstiftung hervorging. Das sollte den Autoren und anderen Mitarbeitern auch in Zukunft in der Gesellschafterversammlung die Möglichkeit geben, auf die wirtschaftliche und programmatische Entwicklung des Verlags selbst Einfluss zu nehmen.

Lieh Boehlich eindringlich seine Stimme – Hermann Treusch; Foto: Petra Kammann

Ein wesentlicher Kern der Veranstaltung war natürlich das Lesen chronologisch ausgewählter Briefe, die durch die markante Präsenz von Hermann Treusch gewährleistet waren. Die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit unter Intellektuellen und deren Auseinandersetzungen wurde wieder lebendig. Grundiert war die Stimmung und konsequente Kritik an der Verdrängung des latenten Faschismus durch den ersten Brief aus dem Herbst 1944, den Boehlich an seine „Liebe Mama!“ in Theresienstadt adressiert hatte, aus dem wir indirekt etwas über die Familie Boehlich selbst erfahren. Sohn Walter war nämlich inzwischen als „Halbjude“ der Gasthörerstatus an der Universität Breslau entzogen worden.

Stattdessen wurde er als Metall-Anlerner in der Heeresabteilung Kraftfahrzeug-Instandsetzung verpflichtet. Aber er beklagt sich im Brief nicht etwa über seinen Zustand, sondern versucht, die Mutter vielmehr mittels eines Understatements zu trösten: „Ich habe den Schlaf um ein Drittel gekürzt und es bekommt mir nicht sonderlich schlecht.“  Stattdessen kündigt er ihr ein Päckchen mit Orangenmarmelade und Äpfeln an, hegt er doch die Hoffnung, dass es bald mit dem Spuk ein Ende haben wird.

Nach Kriegsende geht Walter Boehlich zunächst nach Hamburg, dann als Lektor an die Universität nach Arhus und nach Madrid, schon bald aber auch nach Bonn, wo er in dem renommierten Romanisten Ernst Robert Curtius seinen Lehrer und Förderer findet, „von dem ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte.“ Anlässlich von dessen Tod 1956 schreibt er an seine Schwester: „Der Einzige, den ich wirklich gebraucht habe und um dessentwillen ich manchmal etwas leisten wollte.“

Curtius hatte Boehlischs Begabung, genau zu lesen und zu formulieren, erkannt. Er hatte ihm, eine Rezension von Thomas Manns Doktor Faustus zu schreiben, überlassen. Und Boehlich hatte die Chuzpe, diese Aufgabe zu bewältigen. So konnte er auf seinen Scharfsinn aufmerksam machen.

Eine weitere Öffnung war für ihn der Eintritt in die Verlagswelt zu Suhrkamp als Lektor, „in dem sich mir so etwas wie eine andere, neue Welt auftat“. Auch das hat er Ernst Robert Curtius, dessen Assistent er wurde, zu verdanken. Zunächst kommt er zu Peter Suhrkamp in den Verlag, wo er Siegfried Unseld kennenlernt, und schließlich als Cheflektor in den Suhrkamp Verlag, wo er später dem „neuen“ Verleger Siegfried Unseld unterstellt ist, der jedoch so gänzlich anders ist als er. Boehlich sieht sich selbst als kritischen Stilisten, der die wahren Texte der Autoren anschaut und sie nicht nur vermarktet.

Als es um die dramatische Auseinandersetzung mit Siegfried Unseld geht, erhebt sich Hermann Treusch, Foto: Petra Kammann

Sachkundig legt er gleich bei Suhrkamp den Finger in die Wunde, indem er Eva Rechel-Mertens Übersetzung von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die er als nicht sorgfältig gemacht empfindet, kritisiert. An den Herausgeber des Merkur Hans Paeschke (1911–1991), für den Boehlich bis 1964 Kritiken verfasste, schreibt er resümierend: „Für ihn ist es eine Gefühlsfrage, für mich eine Gewissensfrage“. Er kennt seinen Proust und packt Suhrkamp bei der Ehre: „Suhrkamp ist mir ja wirklich sympathisch, und dass er sich an eine neue Übersetzung herangewagt hat, ist aller Ehren wert – aber da er selbst Proust zu lieben scheint (er hat in Antares (?) einen Aufsatz ,Mein Weg zu Proust‘ geschrieben, den ich leider nicht zu Gesichte bekommen kann) hätte er doch der Frau Rechel etwas auf die Finger sehen können. Wenn er keine wirklich gute Übersetzung herausbringt, ist es ja keine verlegerische Tat mehr.“

Dass er mit seinem Urteil Recht behalten sollte, zeigt auch die spätere Proust-Übersetzungsgeschichte. Die Messlatte des Lektors Boehlich, der sich als Förderer der Autoren sieht, die für ein neues Nachkriegs-Deutschland stehen, ist hoch. Im Gegensatz zu Siegfried Unseld – so sieht er es – beschäftige er sich wirklich mit den Autoren, er liest und lektoriert sie, und er korrespondiert mit ihnen, während Siegfried Unseld laut nach außen wirke und „wedelt“. Wen wundert’s, dass es bei dieser Sicht zum Konflikt kommen muss?!

Ida Schöffling im Gespräch mit Christoph Kapp, dem Literaturwissenschaftler aus Potsdam; Foto: Petra Kammann

Durch seine stilistisch brillanten Korrespondenzen versteht der leidenschaftliche Briefeschreiber es aber auch, die Autoren an sich zu binden oder wie im Falle von Ingeborg Bachmann sie mit allen Tricks heftig zu umgarnen, indem er, sich und Unseld ironisierend, ihr „sanfte Gewalt“ androht, um sie zur Vertragsunterschrift zu einem Gedichtband mit der Übersetzung ihrer Ungaretti-Gedichte zu bringen, denn sie war damals noch an den Piper Verlag gebunden. Das war bis dato weder Siegfried Unseld noch Hans Magnus Enzensberger gelungen.

Verehrte, liebe Ingeborg Bachmann, ich sehe schon, Herr Unseld ist Ihnen zu schüchtern, Herr Enzensberger ein Kollege in Apoll; vielleicht kann wenigstens ich etwas erreichen, und zwar möchte ich erreichen, daß Sie wirklich jetzt diesen läppischen Vertrag wiederfänden und ihn uns unterschrieben zurückschickten. Ich möchte Sie natürlich nicht verängstigen, aber erpressen täte ich Sie schon ganz gern…“Es muss sie überzeugt haben, weil er ihr gleichzeitig mitteilt, dass er lieber mit ihr essen ginge. Sie hat unterschrieben.

Natürlich sind die Jahre im Suhrkamp Verlag seine große Zeit, die Zeit, in der die „Suhrkamp-Kultur“ bei den Intellektuellen den Ton angibt. Auch Boehlich lässt sich überwältigen vom fast naiven Glück, auf der Frankfurter Buchmesse mit den Menschen zusammenzutreffen, die ihm wichtig sind. Er berichtet begeistert seiner Schwester von dem Erlebnis, vom 5. Oktober bis zum 10. Oktober 1957 auf der Buchmesse dabeisein zu dürfen und für einen Teil der Gestaltung mit verantwortlich zu sein:

Am Freitag nachmittag fing die Messe inoffiziell an. Wir hatten die Anlage unseres Standes genau geplant und als ich am Freitag nachmittag mit Suhrkamp hinausfuhr, um ihn anzusehen, war ich wirklich ringsrum zufrieden. Die Hinterwand, diesmal sehr breit, war in drei Stücke aufgeteilt, die beiden Seitenstücke etwas breiter als das Mittelstück, nur in Rot und Schwarz gehalten. Links stand der ganze Brecht, in der Mitte der Proust (mit einem grossen Photo), rechts der ganze Schröder, darüber nichts als an den Aussenseiten das Verlagssignet und jeweils in grossen Buchstaben: BRECHT PROUST SCHRÖDER. An den Seiten jeweils in ein paar Exx. die Neuerscheinungen auf schrägen, regalartigen Flächen ausgelegt und ganz nach vorn an den Seiten in richtigen Regalen die gesamte Verlagsproduction, aber ohne Schutzumschläge. Es war wirklich der eindrucksvollste Stand auf der ganzen Messe, weil die drei großen, gerade abgeschlossenen, Ausgaben sofort ins Auge fielen, während Ähnliches bei der Insel, bei Kiepenheuer und Rowohlt &c. völlig in der Masse unterging. Sie hatten ihre Stände alle viel zu voll gepackt, ganz ohne freie Flächen und viel zu viele Exx. ihrer Bücher.“

Fast fühlt er sich auf dem Olymp angekommen, er begegnet herausragenden Schriftstellern wie Max Frisch, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Adorno etc. persönlich und freut sich über die Anerkennung seiner Arbeit: „Es war nett. Weisst Du, hier sind so viele Leute, die mich auf irgendeine Weise kennen und die alle behaupten, sie freuten sich, dass ich da sei, wenn es auch nicht immer wahr sein wird.“ Trotz dieser Einschränkung ist er ganz in seinem Element, er kann internationale Autoren und Verleger treffen und vergleichen.

Dann kam am Sonnabend nachmittag der Verlagstee, mit unzählbar vielen Leuten, darunter auch sehr bald Margit, die es alles unendlich genoss. Frisch, den ich schon kurz vorher kennengelernt hatte und der wirklich nett und sympathisch ist, dann der junge Walser und der noch jüngere Enzensberger und noch ein paar andere, vor allem Eppelsheimer, von dem Dir die Mutter erzählen kann. Er war eine Oase. Adorno, den ich sofern er schreibt, nicht recht leiden mag, kam und freute sich, dass ich da sei und schnackte lange.„…

Unübersehbar, wei unterschiedliche Temperamente: Walter Boehlich und Siegfried Unseld; Foto: Klaus Reichert

1964 spitzt sich jedoch schon die Dramatik der so unterschiedlichen Charaktere Unseld / Boehlisch zu. Der Cheflektor schreibt an den dynamischen Verleger Siegfried Unseld, der nicht zu begreifen scheint, welche Arbeit ein Lektor eigentlich tut: „Wenn Sie wollen, bin ich ein Spezialist, ein enger, phantasieloser, mürrischer von mir aus, aber ich will ein Spezialist bleiben und kein mondänes all-round-horse werden. Man kann nicht zugleich gewissenhaft und gewissenlos sein.“ Und er zählt auf, was alles dazu gehört.

Im Herbst 1968 ist der Konflikt mit Siegfried Unseld nicht mehr zu kitten. Boehlich verbündet sich mit den Lektoren, die von Unseld mehr Mitsprache „in allen Fragen der Programmgestaltung“ forderten, bei denen eine Lektoratsversammlung  das Sagen hat und nicht mehr der Verleger. An Max Rechner schreibt er: „Ich bin nicht Verleger, sondern Lektor, was bedeuten soll, dass diesem Gegensatz zu jenen, sofern sie etwas taugen, ihre kritischen Fähigkeiten erhalten…“

„Zweifellos war der Brief an die wahre Poetin Ingeborg Bachmann eine Liebeserklärung. Es bleibt jedoch die einzige im Briefwechsel, weil auch sie Bezüge zum Verlagsgeschehen hat“, kommentieren der Literaturwissenschaftler Christoph Kapp und der Leiter des Literaturarchivs der Goethe-Uni Wolfgang Schopf die Hintergründe der Briefauswahl.

Natürlich wird hier nur ein kleiner Ausschnitt des hochspannenden Briefwechsels vorgestellt. Das Buch animiert dazu, es nicht zuletzt wegen der detaillierten Kommentierungen mehrfach in die Hand zu nehmen und zu studieren. Der Gewinn ist garantiert.

Walter Boehlich

geboren am 1921 in Breslau, Studium der Germanistik und Romanistik in Breslau und Hamburg, von 1947 bis 1952 Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius in Bonn und bis 1957 DAAD-Lektor in Aarhus und Madrid. Ab 1957 zunächst Lektor, später Cheflektor im Suhrkamp Verlag, von dem er sich 1968 trennt. Mitgründer des Verlags der Autoren 1969. Lebt die folgenden Jahrzehnte als freier Publizist (Kritiker (u.a. als Kolumnist für die Titanic), Herausgeber, Übersetzer) in Frankfurt am Main, ab 2001 bis zu seinem Tod 2006 in Hamburg. Daüber hinaus übersetzte Boehlich Bücher aus dem Spanischen, Französischen und Dänischen. Seine Bibliothek wird vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam als eigene Einheit aufbewahrt.

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