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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Eine Performance zwischen Show-Biz und Avantgarde in Zusammenarbeit mit dem Tinguely Schiff Ahoy im Frankfurter Kunstverein

Bewegende Transformation des träumerischen Realismus von Jean Tinguely

Impressionen von Petra Kammann

Maschinenaktionen, Do-it-yourself-Kunst, Rampenlicht, Scherbenhaufen – im facettenreichen Schaffen des Schweizer Künstlers Jean Tinguely trifft man auf  multisensorische Spektakel aus zusammengebauten Alltagsgegenständen und auf nahezu alles, was sich bewegt und in Bewegung ist. „Eurêka, c’est presque le titre“ („Heureka, könnte man es nennen“) heißt augenzwinkernd daher Marie-Caroline Hominals neues Stück, das sie anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Baseler Museumsschiffs Tinguely AHOY! , das am 8. und 9. in Frankfurt vor Anker ging, für das Performanceprogramm entwickelt hat und das im experimentierfreudigen Frankfurter Kunstverein präsentiert wurde. Ein grandioses Solo, das Hominal selbst tanzt.

Ritt in den Saal des Frankfurter Kunstvereins – Marie-Caroline Hominal, Foto: Petra Kammann 

„Die erste Geste, ob eine Bewegung, ein Gesichtszug oder eine Konstruktion, ist immer der Anfang einer Geschichte“, so Marie-Caroline Hominal

 Es beginnt mit der Suche nach Herkunft und Identität; Foto: Petra Kammann

Begleitet von starkem Klacken der Spitzenschuhe und dem Knallen eines Holzbeins auf dem Boden, das entfernt an Pferdegetrappel erinnert, kommt auf einem verkleideten Holzbock die französisch-schweizerische Tänzerin Marie-Caroline Hominal in den Veranstaltungsraum des Kunstvereins hereingeritten. Stolz und würdevoll wie eine Dressurreiterin. Eine kreisrunde silberne Fläche bildet die Bühne – oder auch Manege, auf welcher Hominal nacheinander in verschiedene Rollen schlüpft.

Mit der Eleganz des klassischen Balletts nimmt die Bewegung Fahrt auf, Foto: Petra Kammann

Zunächst ergreift sie das Mikrofon und stellt sich Fragen wie diese: Wer bin ich, woher komme ich? Ich hatte einen Traum von einem Mann und dachte, wer denn wohl mein Vater sei. War es vielleicht John Cage? Und wenn er es war, spekuliert sie, so spiele sie mit dem Avantgarde-Komponisten-Künstler Schach, bevor sie sich selbst in verschiedenen Sequenzen der Performance in ein anderes Wesen verwandelt.

Schlicht sind die Requisiten, die neues Sehen herausfordern, Foto: Petra Kammann

Man glaubt es ihr aufs Wort, so bewusst, wie sie sich zwischen ihren sparsamen kubischen und geometrischen Requisiten dreht und dazu einen bewegenden Sound produziert. Im Verlauf der Performance agiert und jongliert die Künstlerin dann mit den verschiedenen Objekten, die sie auf dem Kreis ihrer begrenzten  Möglichkeiten, Bühne, vorfindet.

Balancieren mit Vorgefundenem, Foto: Petra Kammann

Perfekt und hochelegant tanzt sie zunächst wie eine klassische Balletteuse auf Spitze, dreht sich im Kreis zwischen dem silbernen Bodenkreis und einem vertikalstehenden goldenen Kreis, den sie nach Belieben dreht und verschiebt. Sie balanciert aufgetürmte federleichte Kuben aus Styropur durch den Raum, stapelt sie mannshoch übereinander auf dem Boden und überspringt sie, ohne dabei das fragile Gebäude zum Kippen zu bringen. Mit heiterer Leichtigkeit und geradezu zirkusreif!

Verwandlung vor dem eigenen Spiegelbild, Foto: Petra Kammann

Im Verlauf der Performance agiert die Künstlerin mit verschiedenen Fundobjekten, singt und haucht ins Mikrofon. Die Objekte bilden im Laufe der Aufführung wie zufällig eine installative Assemblage à la Tinguely. Nach und nach schlüpft die brillante Tänzerin in die verschiedenen Rollen.

Mal faucht sie wie ein Tiger in ihr Mikrofon, mal verwandelt sie sich von der attraktiven Frau zu einer mexikanischen La Catrina und am Ende auch zur Hexe.

Verwandelt sich in ein Raubtier, Foto: Petra Kammann

Wie Bibi Bloxberg reitet sie dann auf dem Besen, um sich ein Gewand aus silberner Lammetta umzuhängen, aus dem sie sich mit ihrem goldenen Bustier herauswindet. Bis sie zu einer undefinierbar, glitzernd haarigen Kreatur mutiert, die zwischen Lebewesen und Objekt changiert. Von Lichtblitzen begleitet, setzt sie sich bis zur Erschöpfung einer zeitgenössischen Höllenmaschinerie, einer „machine infernale“ am Ende aus.

Zweifellos ließ sie sich bei der Gestaltung von der Biografie von Jean Tinguely und Niki de St Phalle inspirieren. Ihre Fabel- und Fantasiefiguren entnimmt Hominal  einem Bewegungsrepertoire der Alltags- Comics- und Popkulturen, improvisiert und balanciert gleichzeitig zwischen schimmernden und glitzerndem Silber- und Goldkreisen, den Sinn-Bildern für Mond und Sonne, so phantastisch, dass der frenetische Applaus kaum endete, hätte nicht eine weitere Performance im Anschuss angestanden.

Zielsichere Bewegung unter dem Wust von Lametta, Foto: Petra Kammann

Die Arbeit greift dabei zweifellos auch auf kunsthistorische Traditionen wie etwa die moderne Bauhaus-Avantgarde der 20er Jahre mit dem Triadischen Ballett eines Oskar Schlemmer zurück. Und der hintersinnige Titel „Eurêka, c’est presque le titre“ nimmt die Erkenntnis des antiken Wissenschaftlers auf, der ausrief: „Heureka! –  „Ich hab’s gefunden!“ Ja, was denn? Den archimedischen Punkt nämlich: Schlicht genial!

Ende des Hexentanzes, Foto: Petra Kammann

Über Marie-Caroline Hominal

Die Französisch-Schweizerische Künstlerin Marie-Caroline Hominal (*1978) arbeitet und lebt in Genf. Ihre künstlerische Praxis umfasst Tanz, Choreografie, Video, Text, Zeichnung, Skulptur und Radio. Nach ihrer Ausbildung an der ZHDK TanzAkademie in Zürich und der Rambert School of Ballet and Contemporary Dance in London tanzte Hominal unter anderem mit Gisèle Vienne, Gilles Jobin, La Ribot, Marco Berrettini und am Tanztheater Basel. Seit 2002 realisiert die Künstlerin ihre eigenen Werke und tourt mit ihren Stücken weltweit in Theatern, Museen und Galerien. 2019 wurde Hominal als „Herausragende Tänzerin“ mit dem Schweizer Tanzpreis ausgezeichnet.

Das Performanceprogramm im Rahmen von Museum Tinguely AHOY! wurde kuratiert von Dr. Sandra Beate Reimann.„Eurêka, c’est presque le titre“ entstand im Auftrag von Museum Tinguely, Basel im Rahmen von Museum Tinguely AHOY! , Foto: Petra Kammann

Das Museum Tinguely

wurde  1996 anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Firma Roche gestiftet und ist auch heute noch das größte Kulturengagement des Basler Healthcare-Unternehmens. Das am Basler Rheinufer inmitten des Solitude Parks neben dem Roche-Areal gelegene Museum Tinguely wurde vom Schweizer Architekten Mario Botta entworfen und wurde vor 25 Jahren, im Oktober 1996 eröffnet.

https://www.tinguely.ch/de

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