Ein Hintergrundgespräch mit Laure Martin-Poulet über die Aktion „L’Arc de Triomphe, Wrapped“ von Christo und Jeanne-Claude (2)
Verhüllte – enthüllte Schönheit
Für FeuilletonFrankfurt sprach Petra Kammann mit der Präsidentin Laure Marin-Poulet über das letzte Pariser Projekt des Verpackungskünstlers Christo.
Laure Martin-Poulet, Präsidentin von „L’Arc de Triomphe, Wrapped. Christo and Jeanne-Claude“ (Project for Paris, France) mit Eiffelturm und Triumphbogen im Hintergrund, Foto: Petra Kammann
Petra Kammann: Zu Ihrem Arbeitsplatz in der Avenue de la Grande Armée gehört auch eine Terrasse mit dem unmittelbaren Blick auf den Arc de Triomphe.
Laure Martin: Ja, das ist schon ein Traum. Und man kann gut von hier aus die Fortschritte der Arbeiten am „L’Arc de Triomphe, Wrapped” wahrnehmen.
Doch kommen wir erst einmal zu Ihrem Hintergrund: Sie haben Erfahrung als Kuratorin. So haben Sie gerade ANIMA MUNDI, eine Ausstellung, die noch bis zum 18. Oktober in der Abbaye du Tholonet in der Provence zu sehen ist, ausgerichtet.
Laure Martin-Pulet auf der Dachterrasse in der Avenue de la Grande Armée; Foto: Uwe Kammann
Es handelt sich um eine Ausstellung des Ehepaars Anne und Patrick Poirier, die ihre Kunst in Nähe der Archäologie ansiedeln, außerdem gab es eine weitere Schau „Mnémosyne“ im Château La Coste in der Nähe von Aix-en-Provence und „Errances“ im Skulpturenpark der Domaine du Muy. Der Präsident des Centre des Monuments Nationaux, dem die Zisterzienserabtei Tholonet untersteht, hat seit 10 Jahren ein Programm zeitgenössischer Kunst in den Gebäuden aufgelegt, für die er verantwortlich ist, und er hat mich gebeten, das zu kuratieren. Aber eigentlich habe ich mit dem Kuratieren erst spät angefangen. 2017 betreute ich eine Fotoausstellung von Anne Poirier, die als Fotografin nicht so bekannt war. Es war die erste Retrospektive ihres fotografischen Werks.
Die Künstler sind auch bei uns bekannt. Sie haben im Ruhrgebiet gearbeitet wie z.B. im Oberhausener Gasometer.
Und ihr Werk ist heute in Koblenz im Ludwig Museum zu sehen. Eine große Ausstellung über die Poiriers ist außerdem gerade in Vorbereitung. Sie wird alles einbeziehen, was für das Künstlerpaar, das seit 1969 antike Zitate und Versatzstücke aus der Antike in neue Bedeutungszusammenhänge bringt und die Kultur im Mittelmeerraum auswertet, ausgehend von der Antike.
Und wie kamen Sie dann zu Christo?
Es war schlicht Christo selbst, der mich gefragt und das so entschieden hat.
L’Arc de Triomphe, Wrapped, (Project for Paris), Place de l’Etoile –Charles de Gaulle, Drawing 2019 in two parts: 38 x 244 cm and 106.6 x, 244 cm, (15 x 96″ and 42 x 96″), Pencil, charcoal, pastel, wax crayon, enamel paint, technical data, map, and tape, Private collection © Christo and Jeanne-Claude Foundation, New York
Sie kannten ihn also schon länger?
Ja, ich habe Christo und Jeanne Claude 1981 kennengelernt, als ich meine Magisterarbeit in Kunstgeschichte über sie und ihre Pariser Projekte schrieb. Damals bemühten sie sich um die Erlaubnis, die älteste Pariser Brücke, den Pont Neuf, als temporäre Arbeit zu verhüllen. Da habe ich mich ihnen als ehrenamtliche Mitarbeiterin angeboten, um zu erfahren, wie sie ihre Arbeit realisieren. Ich wollte von innen heraus verstehen, wie das Procedere ist. So habe ich von 1981 bis 1985 ehrenamtlich mit ihnen zusammengearbeitet. Und dann 30 Jahre lang nicht mehr. Wir sind immer freundschaftlich verbunden geblieben, auch wenn ich dann lange nichts mehr von ihnen gehört habe. Die Begegnung mit ihnen war für mich eine entscheidende Begegnung.
2015 hat Christo mich dann wieder angesprochen, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Da sollte nämlich eine große Ausstellung im Centre Pompidou vorbereitet werden. Ich hatte mich dafür engagiert, Christo und Jeanne Claude eine erste museale Ausstellung in Paris zu ermöglichen, eine Schau zu den Pariser Jahren ab 1958 des Künstlerpaares. 2020 fand sie dann statt. Da war aber vom Arc de Triomphe noch nicht die Rede.
Erinnerung an die Pont Neuf-Aktion, Video im Innenraum des Arc de Triomphe, Foto: Petra Kammann
Was hat sich seit der Verhüllung des Pont Neuf, dem ersten großen Pariser Projekt, das weltweit Beachtung fand, verändert?
Nun, es war allerdings nicht das erste Pariser Projekt. Das fand am 27. Juni 1962 statt, als er den „Rideau de fer“ („Eiserner Vorhang“), eine Mauer aus leeren Benzinfässern, in der Rue Visconti im 6. Arrondissement errichtet hat. Diese Mauer teilte die Straße in zwei Teile, was eine Antwort auf den Bau der Berliner Mauer war. Vorher hatten die beiden Künstler sechs weitere Projekte in Paris realisiert.
Die Mauer hat Christo wohl als Trauma erfahren. So war es eine Protestaktion von jemandem, der den Bau der Mauer erlebt hat und sich entschied, im Exil zu leben.
Er hatte sich schon 1956 für das Exil entschieden, als er seine Eltern in Prag besucht und dort die Repressionen erlebt hat, die durch den Ungarnaufstand ausgelöst worden waren. Da wollte er nicht mehr weiter im Ostblock leben. So gelangte er über Wien und Genf schließlich nach Paris, wo sich gerade eine lebendige Kunstszene entwickelte.
Laure Martin-Poulet im Gespräch mit Petra Kammann; Foto: Uwe Kammann
Können Sie etwas zu dieser Pariser Zeit sagen, die seine weitere künstlerische Entwicklung beeinflusst hat?
Die so lebendige Kunstszene war eine wichtige Grundlage für seine eigene künstlerische Entwicklung und Handschrift. In Paris wurde experimentiert, man suchte nach neuen Ausdrucksweisen, sei es in der geometrischen Kunst, hin zu einem neuen Realismus oder zur Abstraktion. Besonders beeindruckt war Christo bei den so unterschiedlichen Kunstströmungen zum Beispiel von den rohen Materialien der Art brut eines Jean Dubuffet. Hinzukommt, dass er in dieser Zeit seine spätere Frau Jeanne-Claude kennengelernt hat, die auch seine künstlerische Partnerin wurde. Und er wurde initiativ, was die Finanzierung seiner eigenen Projekte betraf. Schon 1958 hat er seine ersten Verpackungsobjekte realisiert. Und dabei immer auch schon den öffentlichen Raum genutzt.
Damit eroberte er sich einen neuen Raum und verließ die traditionellen künstlerischen Medien, die ihm lediglich als Vorbereitung für seine Aktionen dienten. … Und wurde doch weder Landart- noch Street art- Künstler oder gar Anhänger einer anderen Bewegung.
Das war tatsächlich nie seine Absicht. Seine Besonderheit bestand darin, dass seine Kunstwerke nur temporär sein sollten. Das unterscheidet ihn von den anderen Künstlern.
Wie ist es ihm denn gelungen, seine Projekte allein zu finanzieren, wenn das Kunstwerk nur etwas Flüchtiges war? Viele andere Künstler nehmen öffentliche Gelder für die Realisierung ihrer Kunstwerke in Anspruch?
Er war 1968 wegen seiner provokativen Aktionen auf der documenta in Kassel schon sehr präsent, wo man ihm viel Aufmerksamkeit schenkte. Mit dem umtriebigen Kurator und Museumsdirektor Harald Szeemann (1933–2005) hatte er 1968 die komplette Kunsthalle Bern anlässlich des 50-jährigen Jubiläums verpackt. Dafür standen Christo und Jeanne Claude nur 3 Millionen Dollar zur Verfügung. Aber sie hatten einen Kostenvoranschlag über 25 Millionen gemacht. Daraufhin haben sie sehr schnell Sponsoren gesucht und gefunden, indem sie die Vorbereitungsarbeiten und Skizzen zum Projekt verkauften, um die Summe zusammenzubekommen. Und seit 1970 wurde das eine Art Selbstläufer. Das war für sie ungeheuer wichtig, weil allein diese Finanzierungsform ihnen eine totale künstlerische Freiheit ermöglichte, an der ihnen so viel lag. Sie wollten entscheiden, mit was sie sich beschäftigen wollten.
Christo in der Entwurfsphase auf einem Film im Arc de Triomphe; Foto: Petra Kammann
Nun, da Christo nicht mehr lebt, wurde die Selbstfinanzierung nicht ein Problem?
Überhaupt nicht. Es gibt ein Estate, Estate of Christo V. Javacheff, das die Werke verkauft.
Waren denn die Pariser damit einverstanden, dass ausgerechnet der symbolbeladene Arc de Triomphe verpackt wird, zumal Christo selbst nicht mehr dabei sein kann?
Ja. Schon die Realisierung des Pont Neuf im Jahre 1985 hat insgesamt zehn Jahre in Anspruch genommen. Insofern war es schon das erste Großprojekt von Christo und Jeanne-Claude, auf das die Pariser heute stolz sind. Christo wurde diesmal durch das Centre Pompidou darin unterstützt, eine weitere Aktion für Paris zu planen. Und da sagte Christo, er würde gerne den Arc de Triomphe verhüllen. In dem Moment setzte sich eine ganze Maschinerie in Bewegung. Der Präsident des Centre Pompidou Serge Lasvigne hat den Kontakt zu Philippe Bélaval vom Centre National des Monuments (CNM) aufgenommen, der ein Freund von ihm war. Und der wiederum war schon vorher von Christos und Jeanne-Claudes Aktionen angetan. So hat er es dann dem Staatspräsidenten vorgeschlagen, der es positiv beschieden hat. Die positive Erinnerung an die Pont Neuf-Aktion war wieder geweckt worden, was die Sache natürlich erleichtert hat, auch in der Administration.
In Deutschland war es zweifellos 1995 die Reichstagverhüllung, welche allgemein große Begeisterung in der Bevölkerung ausgelöst hat. Haben Sie sie gesehen?
Nein, habe ich leider nicht.
Der von Christo und Jeanne-Claude verhüllte Reichstag, 1995 , Foto via Wikimedia Commons
Darin wird auch eine politische Komponente sichtbar, wie sie eigentlich in all seinen Projekten steckt.
Ich würde sagen, der Mauerbau wie auch der Fall der Mauer haben Christo sehr beeinflusst.
Was waren denn bei dem Arc de Triomphe-Projekt die größten Herausforderungen?
Dem Centre des Monuments Nationaux lag und liegt es besonders am Herzen, dass das Gebäude durch die Aktion nicht beschädigt werden darf, weder beim Aufbau noch beim Abbau. Darüber hinaus musste gewährleistet sein, dass der Zugang zur Terrasse des Triumphbogens weiterhin möglich ist. Und vor allem, dass garantiert ist, dass – wie seit dem 11. November 1923 die Flamme für den unbekannten Soldaten täglich erneuert werden kann. Daher muss allabendlich um 18 Uhr die Baustelle geschlossen werden, auch wenn dort an dem befahrenen Platz unter Hochdruck gearbeitet wird.
Metallgerüst über der Skulpturengruppe am Arc de Triomphe; Foto: Petra Kammann
Das ist das eine, das andere betrifft die technische Realisierung.
Das ist zweifellos hochkomplex. In der ersten Etappe bestehen die Arbeiten in einer ausgefeilten Ingenieursarbeit mit renommierten Ingenieurfirmen. Da spielen beispielsweise das deutsche Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner und das Leichtbaubüro Jörg Tritthardt eine wichtige Rolle.
Zeichnet da nicht sogar eine Frau, nämlich Anne Burkhartz, verantwortlich und verfolgt die diffizilen Abläufe, die am historischen Bauwerk vorgenommen werden, mit großer Akkuratesse?
Ja, die Bauingenieurin Anne Burkhartz, Stuttgart und Berlin, ist bei spb für die Stahlbau-Gerüste an der Fassade verantwortlich.
Am Arc de Triomphe befinden sich u. a. auch etliche eingemeißelte Skulpturengruppen, die jeweils an ein besonderes Jahr erinnern, und sechs Hochreliefs, die markante Episoden aus den Revolutionsjahren und aus den Napoleonischen Kriegen in Erinnerung rufen. Sie dürfen nicht beschädigt werden. Wie lässt sich das verhindern?
Da wird zunächst einmal ein Metallgerüst aufgesetzt, welches die Skulpturen schützt. Darüber wird dann der Stoff, ein recycelbares Polypropylengewebe, gespannt. Das ist strategisch so angelegt, dass dadurch die großen architektonischen Konturen des Gebäudes unterstrichen werden. Christos und Jeanne-Claudes Prinzip bestand immer darin, dass durch die Verhüllung die wesentlichen Züge eines Gebäudes deutlich hervortreten. Das wird noch unterstrichen durch die roten Stricke, die das Ganze zusammenhalten und hier als I-Tüpfelchen für die Farben der französischen Tricolore (bleu, blanc, rouge) stehen.
Wie viel Zeit nimmt es dann in Anspruch, den Stoff darüber zu spannen?
Am 15. Juli wurde mit dem Aufbau des Gerüsts angefangen. Und nun ist der Stoff im Inneren des Triumphbogens schon gespannt. Am 12. September geht es dann mit der Verhüllung der Außenseiten los. Und für die Fassade dauert es dann einen kompletten Tag, wenn alles gutgeht. Und dann braucht es noch einige Tage, um alles zu fixieren und die Verhüllung zu vollenden.
Christo und Vladimir Yavachev testen die verschiedene Qualitäten von drei verschiedenen Seilen. Christo entscheidet sich für das mittelstarke Seil; Photo: © Wolfgang Volz
Es gibt wie in diesem Sommer neuerdings heftige Winde und Starkregen. Welchen Einfluss kann dabei das Klima haben?
Das ist natürlich vorab alles von Spezialisten getestet worden. Die 25 000 Quadratmeter große Stoffmenge wurde übrigens in Deutschland von der Lübecker Firma „geo – Die Luftwerker“ hergestellt.
Wie viele Menschen arbeiten denn während der technischen Realisierung insgesamt? Sind auch Freelancer dabei?
Die Charpentiers de Paris sind schon lange mit von der Partie, sie waren auch bei der Verhüllung des Pont neuf dabei, Foto: Petra Kammann
Unter gar keinen Umständen. Es sind alles hochspezialisierte Profis. Es sind ungefähr 30, die an dem Projekt arbeiten. Dazu zählen deutsche Ingenieure, das Leichtbaubüro, dann die „Charpentiers de Paris,“ die auch schon das Pont Neuf-Projekt begleitet haben. Und die Seile kommen von der Firma JADE. Wenn man alles zusammenzuzählt, dann kommen um die 1000 Personen zusammen, die das Projekt begleiten, die Medienarbeiter und das Sicherheitspersonal inklusive.
Daran war Christo nicht mehr beteiligt. Wie lange hat er sich damit beschäftigt?
Seine erste Collage von 1962/63 diente ihm als Modell. Und seit 1961 hat er mit Jeanne-Claude darüber nachgedacht, als er öffentliche Gebäude in Augenschein nahm. Da standen verschiedene Gebäude zur Diskussion. Aber zum Arc de Triomphe gab es keine Reaktion. Damals war es die reine Utopie. 1988 gab es eine Collage. Dieser Karton war dann in der Ausstellung im Centre Pompidou zu sehen, was natürlich die Sache weitergebracht hat. Da haben sie aber noch nicht um Erlaubnis gebeten.
Und 2017 wurde es dann also konkret.
Ja, und dann begannen auch die ersten Ingenieurstudien zum Thema, nachdem es die Zustimmung des Präsidenten gab.
Hochspezialisierte Profis wie von der Firma Jade, die für die Seile zuständig ist, sorgen für die Sicherheit des Projekts; Foto: Petra Kammann
Und dann hat es ihn doch bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr beschäftigt?
Es entstand ein Modell vom Bauabschnitt oberhalb des Bogens in Richtung Avenue Kléber, das die „Charpentiers de Paris“ hergestellt hatten. Und dann ist Christo 2018 nach Paris gekommen, um das in Augenschein zu nehmen. Das war übrigens seine letzte Paris-Reise. Und da konnte er nochmal alles mit den Ingenieuren besprechen und beeinflussen. Als er starb, waren alle ästhetischen und ingenieurtechnischen Probleme geklärt. Die Mannschaften standen fest. So konnte sein Neffe Vladimir Yavachev, der seit ungefähr 30 Jahren mit ihm zusammengearbeitet hatte, das Projekt dann sozusagen als Orchesterchef übernehmen. Ihm wird nur noch das Projekt „The Mastaba“ in Abu Dhabi folgen, wo 410 000 Ölfässer verhüllt werden sollen.
Was passiert denn eigentlich mit den Materialien nach dem Abbau?
Alles wird weiterverarbeitet. Das Metall, der Stoff und auch die Seile.
In vollem Gange: die diffizilen Arbeiten am Triumphbogen für das temporäre Kunstwerk; Foto: Petra Kammann
Nichts davon wird verkauft? Auch keine Stoffstücke?
Nie. Nur den Journalisten wird zur Informationsmappe ein kleines Stück Stoff zur Anschauung beigefügt.
Und es wird auch kein Eintritt verlangt?
Nein, alle Werke von Christo sind frei zugängig. Das gehört zu seinem Prinzip. Einzig das Centre des Monuments Nationaux (CNM) verlangt ein Eintrittsgeld für den Zutritt ins Innere des Gebäudes, wo es im oberen Teil auch einen Shop gibt, in dem man Bücher und andere Christo-Projekte kaufen kann. Die Einnahmen vom Verkauf kommen dann dem CMN zugute. Es ist im besten Sinne ein Kunstwerk für alle. Christo wollte die Momente der Schönheit mit den Besuchern teilen. Das Künstlerpaar verfolgte dabei die Vision, dass das tägliche Leben durch Kunstwerke verwandelt werden könnte, was die Menschen dazu bringt, innezuhalten und einen neuen Blick aus anderer Perspektive auf das scheinbar Vertraute zu gewinnen.
Also steckt hinter dem populären Ansatz der „Kultur für alle“ eine zutiefst demokratische Idee. Ein sehr schönes Zeichen in dieser Zeit, in der die Demokratie in Europa an manchen Ecken bedroht zu sein scheint. Finden Sie nicht?
Wir leben in einer Demokratie. Christo und Jeanne Claude sind einzigartige Künstler, weil sie ihre Idee der Freiheit selbst finanzieren und allen zur Verfügung stellen. Und die Qualität ihrer Zeichnungen ist dabei immer auf hohem Niveau. Daher hatte wohl auch der französische Staat die Kühnheit, einem solchen Projekt für diesen emblematischen Ort zuzustimmen.
Im Inneren des Bogens ist der Stoff bereits gespannt, Stand: 3. September 2021; Foto: Petra Kammann
Ein vergleichbares Denkmal wie den Arc de Triomphe gibt es in Deutschland nicht, weil Deutschland ein föderaler Staat ist und daher sparsam mit nationalen Symbolen umgeht. Mit der Reichstagverhüllung wurde nicht nur auf die Zerstörung des Reichstag in besonderer Weise aufmerksam gemacht, sondern auch auf die bewegte Vor- und Folgegeschichte. Dies hat dem Gebäude mitten in Berlin einen ganz neuen, einen frischen Aspekt verliehen. Die neue gläserne Kuppel wird als Ort der neuen Transparenz erlebt.
Da ist der Arc de Triomphe ganz anders. Er kann einerseits als ein napoleonisches Denkmal gesehen werden, aber er hat auch weitere Bedeutungen: sowohl stadtplanerisch und architektonisch, als vor allem auch symbolisch. Hier wird der Soldaten gedacht, die ihr Leben für das Land lassen mussten. Mit dem Grabmal des Unbekannten Soldaten wurde dieser Ort zu einer Erinnerungsstätte, die den zahllosen anonymen Gefallenen die Ehre erweist. Eine Erinnerungsstätte für den Ersten und den Zweiten Weltkriegs, aber auch für den Algerienkrieg. Einst marschierten die siegreichen Soldaten unter dem Bogen hindurch. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem es rund 1 500 000 Tote gab, wollte man für die sterblichen Überreste eines nicht identifizierbaren Soldaten zunächst symbolisch im Pantheon ein Ehrengrab errichten. Dem wurde aber nicht zugestimmt. Stattdessen wurde ein unbekannter Soldat 1921 im Triumphbogen beigesetzt. Der Kriegsminister André Maginot zündete dann symbolisch am 11. November 1923 die Flamme der Erinnerung an dessen Grab an. Eine Zeremonie, die sich bis heute tagtäglich um 18.30 Uhr wiederholt. Diese symbolische Handlung wurde im Bewusstsein der Franzosen zur Selbstverständlichkeit.
Aber das ist nicht alles, was die Bedeutung ausmacht?
Nein. Der Platz wurde zum Versammlungsort, auch bei freudigen Anlässen, so beispielsweise, als die Fußballer feierten, als sie die Weltmeisterschaft errungen hatten. Dort versammeln sich immer wieder Menschen gleich welcher Couleur, Weltanschauung oder Religion. Aber auch die Demonstrationen – wie etwa jene der Gelbwesten – ziehen über die Champs Elysées zum Triumphbogen. Er ist eben der zentrale Punkt in Paris.
Und diesmal gilt der „Triumph“ dem visionären Künstlerpaar. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Madame.
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