„Acht Jahre Haft unter dem Hakenkreuz – Eine Familiengeschichte zwischen Widerstand und Lebenshunger“ von Nikolaus Münster
Arnold und Lilly – Zwei extreme Persönlichkeiten
von Renate Feyerbacher
Es gibt Familiengeschichten, die sind einfach außergewöhnlich und geradezu spannend. So auch diejenige, die sich um den Wissenschaftler und Widerstandskämpfer Arnold Münster ereignete. Geschrieben hat sie der Sohn Nikolaus Münster, der nach 25 Jahren praktiziertem Journalismus, u.a. bei der FAZ, zuletzt Pressechef der Stadt Frankfurt war. Dieses Amt übte er bis zu seiner Pensionierung 2016 aus.
Nikolaus Münster mit seiner Frau, der Ärztin Dr. Carolin X. Hornack, bei seiner Verabschiedung am 28.9.2016 – hier im Gespräch mit dem ehemaligen Stadtkämmerer Ernst Gerhardt, Foto: Renate Feyerbacher
Erst jetzt, im Rentenalter, legt er die Biografie seines Vaters vor: „Acht Jahre Haft unter dem Hakenkreuz – Zwischen Widerstand und Lebenshunger“. Warum erst jetzt? Mehrmals wird vom „Familienschweigen“ berichtet, sowohl von Seiten des Vaters als auch von der der Mutter. Ein Kapitel lautet: „Das große Schweigen“.
Arnold Münster kam 1912 in Oberursel zur Welt und starb 1990 in Frankfurt. Er „nimmt sein Wissen über die Vorgänge mit ins Grab.“ (S.151) Sein Nachlass, seine in Sütterlin geschriebene Autobiografie, geht erst nach Lillys Tod an die drei Söhne über, blieb zunächst aber unbeachtet.
Den Anstoß zum Buch gaben schließlich die Autoren Dieter Wever, der über den Widerstand in Münster forschte und 2018 eine Hommage über Arnold Münster veröffentlichte, und Hans Sillescu, der die wissenschaftliche Tätigkeit des Vaters an der Goethe-Universität Frankfurt 2014 publik machte.
Erfrischend sind die ersten Sätze des Buches, die Nikolaus Münster seiner Mutter widmet: „Lilly ist ein Knaller, eine sehr besondere Frau. Sie versteht sich als emanzipiert und tut viel dafür, ihren eigenen Weg zu gehen. Stärke zeigen und sich auch gegenüber dominanten Menschen zu behaupten, das beherrscht sie hervorragend, Schwäche bei sich oder bei anderen verachtet sie.“ (S.9)
Im ersten Kapitel „Zwei gegensätzliche Charaktere: Der Widerstandkämpfer und die Wegseherin“ charakterisiert der Autor seine Mutter Lilly Curtius, die 1912 im oberschle-sischen Industriegebiet zur Welt kommt und 2010 in Frankfurt stirbt, erfrischend ehrlich.
Sie hat Zahnmedizin studiert und betreibt jahrelang eine Praxis für Kiefernorthopädie. Vom Vater heißt es: „Arnold ist ein Kopf. Analytisches Denken vor allem in der Naturwissenschaft und Musik ist seine Leidenschaft.“ (S.11)
Schon ein Satz treibt die Leseneugier voran.: „Er der große Denker und zu allem entschlossene Mann des Widerstands – sie die lebensfrohe Wegseherin, deren große Liebe ein Nazi-Frauenarzt ist. Diese Extreme kommen in den Kriegszeiten zusammen, lieben sich und meistern ein langes gemeinsames Leben,“ (S. 13)
Als Arnold sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Münster, wo Vater Rudolf der erste katholische Präsident des Landgerichts wird. Arnold ist ein hervorragender Schüler, hat aber wenig Kontakt mit seinen Mitschülern. Lesen und Klavierspiel sind seine Leidenschaft.
Der ältere Bruder Clemens, der in den fünfziger Jahren Gründungsdirektor des bayerischen Fernsehens werden sollte, war mit sechzehn Jahren völlig renitent: „Ich tat, was ich wollte, und ließ, was mir missfiel. Vorschriften durfte mir niemand geben und Vorwürfen entzog ich mich.“ (S.31). Das Gymnasium musste er verlassen, weil er mit einem Tintenfass nach einem Lehrer warf. Er landete sogar auf Anraten von Psychiatern in einer geschlossenen Abteilung, aus der er jedoch fliehen konnte. Das Gymnasium nahm ihn aber wieder auf.
Auch Arnold, der ausschweifend lebt, viel trinkt, kommt mit den Eltern in Konflikt. Er ist in der katholischen Studentenverbindung, fühlt sich dann aber zu radikalen nationalsozialistischen Positionen hingezogen. Wenig später widmet er sich anderen Dingen und geht nach Jena und Berlin zum Studium. Aber das Liebesleben ist ihm wichtiger und wieder lässt er sich von der NSDAP einfangen. Er tritt sogar der SA bei, die er nach 14 Tagen wieder verlässt.
Was für ein Wechselbad der Gefühle! Extreme prägen ihn. Und dann beschäftigt er sich mit kommunistischer Literatur. 1935 wird Chemie-Student Arnold im Hause seiner Eltern, die vollkommen überrascht sind und nichts von den politischen Aktivitäten des Sohnes wissen, verhaftet. Ihm werden seine kommunistischen Aktivitäten im katholischen Münster vorgeworfen, deren Kopf er sein soll.
17 Widerstandskämpfer werden festgenommen und umgehend verurteilt. Arnold wegen Hochverrat sogar zu acht Jahren Zuchthaus.
Sein Vater, seit 17 Jahren Landgerichtspräsident in Münster und wenige Tage zuvor vom Führer zum Präsidenten der dortigen Reichsdisziplinarkammer ernannt, wird aus seinem Beruf gedrängt. Das Leben der Eltern gerät aus den Fugen. Sie sind geschockt. Aber weder Vater noch Mutter, die gerne ihre Begabung für die Malerei zum Beruf gemacht hätte, machen dem Sohn Vorwürfe.
Im Gegenteil. Der Vater beginnt mit der Ausarbeitung der Verteidigung. Er macht die Epilepsie, den der dreijährige Arnold vermutlich durch einen Unfall, hatte, und der ihn vereinsamen ließ, für den Irrweg verantwortlich. Auch die Brüder Clemens und Ludwig halten zu Arnold und sprechen ihm Mut zu.
Arnold Münster drohte die Zwangssterilisation wegen der Epilepsie. Arnold Münster sagt vor Gericht, dass er sich seiner Handlungsweise voll bewusst war. Die Eltern nutzen all ihre Kontakte, um für Arnold Hafterleichterungen zu erhalten. Aber es folgt die Verlegung in den Kölner Klingelpütz, eine von elf großen Hinrichtungsstätten Deutschlands. Aus Verzweiflung meldet er sich zum Fronteinsatz.
1941 kommt die Nachricht, dass der Reichsführer der SS Heinrich Himmler ihn begnadigt, der Justizminister hat zugestimmt. Allerdings muss er noch für zwei Jahre bis 1943 in der Landespflegeanstalt Geseke körperliche Arbeiten verrichten, obwohl ihm auch zugesagt wurde, sich dem Studium widmen zu können. Nach acht Jahren kommt er in Freiheit und erhält eine Stelle am Institut für Therapieforschung.
Doch bleibt ihm der Einsatz als Soldat nicht erspart.
Arnold Münster in Uniform, Foto: privat /Henrich Editionen
Trotz der schwierigen Bedingungen im Zuchthaus hat Arnold Münster seine Studien der Chemiewissenschaften fortgesetzt. Sein wissenschaftlicher Aufsatz, den er dort schrieb, wurde gleich nach der Haftentlassung veröffentlicht und fand sofort Aufmerksamkeit in der Fachwelt.
Der Familiengeschichte von Autor Nikolaus Münster ist die intensive Recherchen-Arbeit über Jahre anzumerken. Gerade der Teil, in dem es um Arnolds nationalsozialistische Unterdrückung mit präzisen Belegen aus Archiven, Briefen und Notizen geht, übermittelt eine eindrückliche Vorstellung von den physisch-psychischen Foltermethoden der Nazis. Interessant sind die unermüdlichen, unerschrockenen Bemühungen des prominenten Vaters und seiner Frau, die zeigen, dass Reden mit den Nazis möglich war.
Ein Kapitel ist dem katholischen Münster gewidmet. Clemens August von Galen, der 1933 Bischof in Münster wird, wettert in seinen Predigten gegen die Nazis. Die aber trauen sich nicht, den Kirchenmann zu verhaften. Die Kirche gab Orientierung im Widerstand. Heute sieht sich Münster durch den Missbrauch an Kindern sich scharfer Kritik und Verurteilung durch Gläubige ausgesetzt.
Immer wieder macht Nikolaus Münster auf das zeitgeschichtliche Umfeld aufmerksam, das älteren Lesern wie mir hilft, sich zu erinnern und jüngeren Lesern hilft es, sich geschichtlich zu orientieren. Die manchmal ausführlichen Fußnoten sind da sehr hilfreich.
Arnold Münster, Foto: Privat /Henrich Editionen
Verständnisvoll, einfühlsam, aber auch kritisch wird über den Vater gesprochen. Auch im dritten Teil „Arnold und Lilly“, in dem über die beruflichen Stationen des Vaters berichtet wird. Er ist ein anerkannter Wissenschaftler. Die Bewerbungen auf eine Professur in Saarbrücken, in Münster sind erfolgslos. Es folgt eine Gastdozentur an der Sorbonne. Er liebäugelt mit Amerika, obwohl er lieber in Europa bleiben würde.
„Es scheint, dass er der demokratischen Entwicklung in Deutschland nicht so richtig traut.“ (S.125). Schließlich wird er Leiter des neugegründeten Instituts für Theoretisch-Physikalische Chemie an der Universität in Frankfurt. Aber er wünscht sich, Leiter des Goethe-Instituts in Paris zu werden, was Lilly, deren kieferorthopädische Praxis floriert, wiederum nicht passt.
Arnold Münsters Hochschullaufbahn wurde 1970 durch das Hessische Hochschulgesetz gestutzt. Er ist nicht mehr Direktor des Instituts, sondern nur noch „Professor an einer Universität“ und wird gegen seinen Willen dem physikalischen Fachbereich zu geteilt.
Nach seiner Emeritierung widmet er sich der Musik, speziell den Diabelli-Variationen für Klavier von Beethoven, Studien, die in den Schriften zur Beethovenforschung, München 1982, veröffentlicht werden. Von einer Wiedergutmachungszahlung des Staates hatte sich Arnold Münster einen Bechstein-Flügel gekauft. Er ist ein guter Pianist.
Auch Lilly Münster, geborene Curtius, kommt aus einer bedeutenden Familie. Sie ist von Kindesbeinen „gewohnt, mit hochgestellten Persönlichkeiten zu verkehren.“
Zunächst studiert sie in Greifswald, dann ab 1936 in Heidelberg, wo ihr Onkel Ludwig Curtius, der legendäre Archäologe, Bruder ihres Vaters, zu ihrem Mentor wird. Er hatte Freundschaften und Verbindungen zu vielen Geistesgrößen seiner Zeit, zu denen er Lilly mitnahm.
Lilly und Arnold Münster mit „den zeitgemäßen Sektschalen in der Hand“; Foto: privat /Henrich Editionen
Das Ehepaar kann bis 1990, dem Todesjahr ihres Mannes, zusammen in Frankfurt leben. Lebenshunger und Lebenslust haben diese Nachkriegszeit geprägt. Arnold und die stets elegante Lilly, die ihre Kleider selbst näht, sind auf vielen Partys und Abendgesellschaften anzutreffen. Lilly ist nicht unterzukriegen, wie der Sohn schreibt. Aber eine Makula-Degeneration nimmt ihr die wichtigste geistige Beschäftigung, das Lesen. Sie stirbt August 2010 im Alter von 98 Jahren.
Das Verhältnis von Vater und Sohn Nikolaus war nicht gerade das Beste. „Die klassische Bildung und seinen scheinbar allwissenden Vater erfindet der Sohn als unerhörten Ballast [..] Die natürliche Neugier erhält keinerlei Förderung. Demütigung und Erniedrigung sind keine guten Lehrmeister und noch viel schlechtere Motivation“, erinnert sich Sohn Nikolaus, der sich als Schüler quälte.(S.138).
Dass der Vater, sich für den neugeborenen Nikolaus 1951 zunächst nicht interessierte, hat seine Ehefrau ihm zeitlebens übel genommen. Die nun geschriebene Familiengeschichte, in deren Mittelpunkt der Vater steht, den der Autor erst im Alter kennenlernt, ist sowohl Aufarbeitung als auch Versöhnung.
Ich kann mir vorstellen, dass Nikolaus Münster weiter forschen wird, weil er noch viele offene Fragen hat.
Nikolaus Münster Juni 2021; Foto: Renate Feyerbacher
Mich hat das Buch stellenweise in seiner Eindringlichkeit gefesselt, weil es dem Autor gelingt, die familiären Verflechtungen mit der Zeitgeschichte zu verbinden. Ein persönliches, aber zeitgeschichtliches Dokument.
Nikolaus Münster „Acht Jahre Haft unter dem Hakenkreuz –Zwischen Widerstand und Lebenshunger.“ Eine Familiengeschichte – Henrich Editionen 2020.