James Ensor und Anselm Kiefer – Sonderausstellungen in Mannheim
„Maler der Masken“ trifft auf Kiefers Kosmos
von Hans-Bernd Heier
Das Werk von James Ensor (1860–1949) ist eng mit der Geschichte der Kunsthalle Mannheim verbunden. Bereits 1928 wurde der Maler dort in einer Einzelausstellung als bedeutender zeitgenössischer Ausnahmekünstler gewürdigt. Nun widmet die Kunsthalle dem belgischen Künstler erneut eine große Sonderschau, in deren Zentrum das Schicksal eines Bildes steht, das einst zur Sammlung des Museums gehörte. Zeitgleich zeigt die Kunsthalle in der bis zum 22. August 2021 verlängerten Schau schwergewichtige Werke eines der bekanntesten deutschen Künstler der Gegenwart: Anselm Kiefer.
Informative Begleitbroschüren liegen für Besucher*innen bereit; Foto: Hans-Bernd Heier
In seinen Arbeiten setzt sich der Maler und Objektkünstler zeitgenössischer Historienbilder mit existentiellen Fragen auseinander. Politik, Religion, Mystik, Alchemie und Kosmologie bilden die Themenkomplexe, mit denen Kiefer sich in seinen Skulpturen und Gemälden beschäftigt. Der vielfach ausgezeichnete Künstler erlangte große Bekanntheit, indem er die Tabus der deutschen Nachkriegszeit offensiv anging und in seiner Kunst die emotionale Zerrissenheit kultureller Identität gegenüber der Verstrickung in historische Schuld darstellte.
Die Kunsthalle Mannheim, eine der ersten Bürgersammlungen der Moderne, kaufte im Jahre 1927 Ensors Spitzenwerk „Der Tod und die Masken“ an. Bereits zuvor hatte Museumsdirektor Gustav Friedrich Hartlaub erste Grafiken des Künstlers erworben. Schon 1928 widmete das Museum dem „Maler der Masken“ eine große Einzelausstellung. Damit gehörte die Kunsthalle zu einem der ersten Museen in Deutschland, die das Werk des visionären Künstlers angemessen würdigte.
Das farbkräftige Gemälde (s. Ausschnitt auf der Begleitbroschüre) geriet schon früh ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten. Wie 85 weitere Werke der Mannheimer Sammlung wurde Ensors Werk 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, in den „Kulturbolschewistischen Bildern“, der ersten antimodernen Propagandaschau im Nationalsozialismus, diffamiert. 1937 wurde es zusammen mit einer ebenfalls von Ensor stammenden Radierung von den Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt. In einer Auktion von in deutschen Museen konfiszierter Kunst erwarb 1939 das belgische Musée des Beaux-Arts de Liège das Schlüsselwerk.
Kuratorin Dr. Inge Herold; © Kunsthalle Mannheim; Elmar Witt
Anlässlich der sehenswerten Ensor-Schau kehrt es temporär nach Mannheim zurück. „Dass uns das Museum in Lüttich hierbei unterstützt hat und wir es nun in Mannheim zeigen können, ist eine kleine Sensation“, betont Dr. Inge Herold, Kuratorin der Ausstellung: „So können wir unsere eigene Museums- und Sammlungsgeschichte und Kunstgeschichte miteinander verknüpfen“.
In den 1950er Jahren wurde als Ersatz für das verlorene Bild das Gemälde „Der tote Hahn“ erworben, das beispielhaft für Ensors Stillleben steht, die einen wichtigen Stellenwert in seinem Schaffen beanspruchen. Als Bild im Bild taucht es in Ensors zentralem „Das malende Skelett“ auf. Um diese drei Bilder gruppieren sich weitere hochkarätige internationale Leihgaben.
James Ensor „Der tote Hahn“, 1894; Kunsthalle Mannheim; © Kunsthalle Mannheim
Ensor bezeichnete sich selbst als „Maler der Masken“, doch es wäre verkürzt, sein stilistisch wie thematisch vielfältiges Werk darauf zu reduzieren. Sein Schaffen war weit komplexer. Er hatte vielmehr eine breite Themenpalette, zu der auch Selbstporträts, Landschaften und religiöse Darstellungen gehörten. Dennoch zählen die Arbeiten, in denen Gruppen von grotesken und verzerrten Maskengesichtern einen Totenkopf oder ein Skelett umringen, zu seinen berühmtesten. Die intensive Auseinandersetzung mit diesem Sujet wurde auch vom Künstler mit seinem biografischen Umfeld in Verbindung gebracht: Der bodenständige Ensor lebte er bis auf drei Jahre, die er des Studiums wegen in Brüssel verbrachte, in Ostende, wo er 1860 geboren wurde und mit 89 Jahren starb. In seiner Heimatstadt war es Brauch, während der Karnevalszeit groteske Masken und Verkleidungen anzulegen, um den Alltag abzustreifen und Konventionen außer Kraft zu setzen. „Auch im Souvenirladen seiner Familie war Ensor von Masken umgeben, die ihm Anregung für malerische Experimente eröffneten. Die Maske wurde ihm zum Motiv, das für die Verschmelzung von Realitätsebenen und für Täuschung und Demaskierung steht“, erläutert Herold.
Kopien von bizarren Ensor-Masken laden im Foyer der Kunsthalle zu Selfies ein; Foto: Hans-Bernd Heier
Während seiner gesamten Laufbahn hat der eigenwillige Außenseiter Selbstbildnisse gemalt. „Nach klassischen Selbstporträts an der Staffelei kam er zu Darstellungen, in denen er die Identität wechselte oder sich verwandelte. Seine Selbststilisierung, in der der Aspekt des verkannten Künstlers zum Tragen kommt, reicht bis zu Vergöttlichung und Martyrium“, so die Kuratorin.
Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1887 beginnt Ensor, sich verstärkt mit dem Motivkreis „Tod“ auseinanderzusetzen. Zentrales Werk ist „Das malende Skelett“, ein Selbstporträt im Atelier, bei dem er seinen Kopf durch einen Totenschädel ersetzt. Die makaber anmutende Vision der eigenen Vergänglichkeit ist gepaart mit der selbstbewussten Überzeugung des „Weiterexistierens“ nach dem Tod und sei es nur als Skelett.
Eine große Rolle in Ensors Werk spielen auch Stillleben. Geprägt von der flämisch-niederländischen Tradition fand er zu einem individuellen Repertoire, das stark vom Meer, der Karnevalstradition Ostendes und den Dingen im elterlichen Souvenirladen beeinflusst war.
Präsentiert werden in der faszinierenden Schau in dem Altbau der Kunsthalle, dem Jugendstilbau von Hermann Billings, auch Ensors Darstellungen der Landschaft um seinen Lebensmittelpunkt Ostende, seine Beschäftigung mit dem Motiv des Liebesgartens, seine Experimente als Musiker und Choreograph einer Ballettpantomime. Denn der vielseitige Einzelgänger, der sich keiner Stilrichtung zuordnen lässt, malte nicht nur, er komponierte auch und konnte mit Sprache umgehen. Überraschend sind ebenso seine Experimente in Druckgrafik und Zeichnung.
Dr. Inge Herold resümiert: „Lange abgelehnt, erfuhr der eigenwillige Außenseiter schließlich große Anerkennung, er war Impulsgeber für andere Künstlerinnen und Künstler. Er nahm vielfach Aspekte der Moderne vorweg. Mit seinen karnevalesken Albträumen gab er Einblick in eine Welt im Umbruch. Das macht sein Werk so zeitlos und gleichzeitig aktuell.“ Insgesamt sind bis zum 3. Oktober 2021 über 60 Gemälde, 120 Arbeiten auf Papier sowie einige Masken aus Ensors Besitz zu sehen.
In der Kunsthalle lohnt es, bis zum 22. August 2021 auch noch in die schlicht „Anselm Kiefer“ betitelte Ausstellung einzutauchen. In der grandiosen Schau sind 18 großformatige Werke versammelt, die in den letzten 30 Jahren entstanden sind. Alle in der Sonderausstellung gezeigten Werke stammen aus der Sammlung des im Mai 2019 verstorbenen Unternehmers Hans Grothe, der eine der weltweit größten Sammlungen mit Kiefers Werken zusammengetragen hat.
Seine Gemälde und Installationen bestechen nicht nur durch ihre reine Größe, sondern auch durch ihre haptische Materialität: Lieblingswerkstoffe des Künstlers sind Asche und Blei; zu Kiefers typischen Werkstoffen zählen neben Öl- und Acrylfarben oder Schellack sowie organische Materialien, wie Tonerde, Gips, Sonnenblumen, Farne Tulpen oder Rosen. Seine in äußerst aufwändigen Arbeitsprozessen gefertigten Skulpturen und Gemälde setzt er zusätzlich den Elementen Wind, Wasser und Feuer oder sogar der Elektrolyse aus, sodass die Patina der Natur auf den Werkoberflächen deutlich sichtbar wird, wie in dem farbigen Gemälde „Hortus Conclusus“.
Blick in die Ausstellung; Foto: Hans-Bernd Heier
Der 1945 in Donaueschingen geborene Anselm Kiefer absolvierte ein Kunststudium bei Peter Dreher in Freiburg und Horst Antes in Karlsruhe. Seine Karriere begann er mit einem Skandal, als er im Rahmen einer fotografisch dokumentierten Performance an verschiedenen Stätten Europas den Hitlergruß ausführte. Auch seine weiteren Arbeiten sind stark geprägt von Themen aus der deutschen Geschichte und Kultur, von der Hermanns-Schlacht bis zum Nationalsozialismus, kulminierend im Holocaust und der Zerstörung der jüdischen Kultur in Deutschland. Kiefer gilt als ein Erneuerer der Historienmalerei und großer Illustrator geschichtlicher Katastrophen. Generell zählen überlieferte Mythen, Bücher und Bibliotheken zu seinen bevorzugten Sujets und Inspirationsquellen.
Literarische Einflüsse, namentlich von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, schlugen sich in seinen Arbeiten der mittleren Jahre nieder.
In seinem späteren Werk erweiterte er den sondierten Mythenkreis auf jüdisch-christliche, ägyptische und orientalische Kulturen. Heute zählt er zu den bekanntesten, erfolgreichsten und zeitweilig auch teuersten deutschen Künstlern nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Werke wurden auf den bedeutendsten internationalen Kunstausstellungen – documenta 6, 7 und 8, der Biennale von Venedig (Deutscher Pavillon 1980); – und in vielen Museen Europas, Japans und der USA ausgestellt. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet.
Die von Dr. Sebastian Baden kuratierte Präsentation konzentriert sich auf drei wichtige Werkphasen von Kiefer : Von frühen Arbeiten wie „Große Fracht“ (1981/1996) mit applizierten Bleiobjekten über die vielteilige Installation „Palmsonntag“ (2007), in deren Mitte sich eine 14 Meter lange Palme aus Kunststoff befindet, bis hin zu der raumfüllenden Skulptur „Der verlorene Buchstabe“ (2011– 2017) werden großformatige, mehrdimensionale Bilder und Skulpturen gezeigt.
Besucher*innen der faszinierenden Schau werden im Atrium des 2017 fertiggestellten Neubaus der Kunsthalle gleich von Anselm Kiefers monumentaler Arbeit „Sefiroth“ empfangen. Dieses annähernd zehn Meter hohe und fast drei Tonnen schwere Werk zeigt eine zerklüftete Landschaft, die aus dick aufgetragenen Farbschichten, Erde, Blei und Steinen besteht. Das dunkle Materialbild bildet einen beeindruckenden Kontrast zu dem sonst lichtdurchfluteten, weißen Raum.
Die Arbeiten von James Ensor sind bis zum 3. Oktober 2021 und die von Anselm Kiefer bis zum 22. August 2021 in der Kunsthalle Mannheim zu sehen; weitere Informationen unter: www.kuma.art